Freiheit ist ein ganz zentraler Begriff im Diskurs über "Anarchie". Gerade der russische Anarchismus hält mit seiner volja ein Verständnis hoch, das sich auch ganz bewusst von der "bürgerlichen" Freiheit (svoboda) unterscheidet und abgrenzt - und damit auch von der Freiheit als "Einsicht in die Notwendigkeit", wie sie vom orthodoxen Marxismus definiert wird: der "Freiheit des Untertanen" wird so die "Freiheit des Banditen" entgegengestellt. Prinzipiell erscheinen Anarchie und Religion vielleicht unvereinbar. Zumindest im protestantischen Westen. Wo der Landesherr als Notbischof das Kirchenregiment führt. Konkret wird diese Einschätzung allerdings gerade beim russischen Anarchismus und Sozialrevolutionismus problematisch. Im Gegensatz zur (zum) dezidiert antiklerikalen Sozialdemokratie (Kommunismus) war/ist dieser nämlich in der russisch-orthodoxen Volkskultur verankert. Nicht umsonst greift auch und gerade der russische Nihilismus ostkirchliche Denkstrukturen und -muster auf, schließlich stammt er aus der Kontroverse zwischen den "Slawophilen" und den "Westlern". Ganz zu schweigen davon, dass der anarchistisch-sozialrevolutionäre Terror im späten Zarenreich bewusst religiöse Motive aufgegriffen hat, um den Kampf gegen das Regime heilsgeschichtlich zu überhöhen: Der anarchistische Selbstmordattentäter trat auf als Büßer und Messias-Ersatz, und die durch und in und mit volja geeinte Gemeinschaft der Revolutionäre übernahm die Funktion der Heilsgemeinde.
In den internationalen Beziehungen zählt die Anarchie im Denken der realistischen Schule durchaus als positiv, weil über und zwischen den Staaten kein Leviathan steht, der Gewalt monopolisieren könnte. Maßnahmen zur Aufweichung der zwischenstaatlichen Anarchie wie z.B. internationale Verträge und Organisationen werden im Gegenzug eher negativ bewertet.
Andererseits versuchen moderne Ansätze, unter Anarchie das zu subsumieren, was in der antiken griechischen Polis als isologia oder isonomia, also gleiche Teilhabe am Diskurs und/oder Rechtsgleichheit, bezeichnet wurde und was gerade in Athen beispielsweise durchaus als Gegenentwurf zu den diversen "-archien" und "-kratien" verstanden werden konnte. Und auch das spartanische Konzept der homoioi, d.h. "die Gleichen", also Vollbürger, weist in diese Richtung, gerade in Kontrast zur orientalisch-persischen Herrschaftsordnung.
In Deutschland hingegen scheint "Anarchie" romantisch (und intellektuell) verklärt. Vor allem nach der Erfahrung des orthodoxen Marxismus scheint sie einen positiven Entwurf von Sozialismus zu versprechen.
Der Anarcho-Kapitalismus letztlich setzt das freie, souverän handelnde Individuum absolut und verfehlt auf diese Weise eine realistische Sicht auf den Menschen als Person, insofern er nur die (Schein-)Alternative zwischen Individualismus und Kollektivismus kennt. Das zeigt sich u.a. darin, dass mit "Individuum" nicht nur das menschliche Individuum gemeint sein muss, sondern im Zweifelsfall auch eine Körperschaft o.ä. als Individuum zählen kann.
Zugleich muss man natürlich hinzufügen, dass die Begriffs-Setzung von Anarchie als Abwesenheit von Herrschaft und Kapitalismus als Herrschaft des Kapitals aus anarcho-kapitalistischer Sicht so nicht stimmt: "Kapitalismus" bedeutet demnach mitnichten "Herrschaft des Kapitals" - so mag vielleicht der Marxist den Begriff setzen. "Kapitalismus" heißt im anarcho-kapitalistischen Kontext viel mehr etwas in Richtung "Verwirklichung des Marktes", und dies namentlich als Akteur in der Güterallokation, der es nicht zulasse, dass einseitiger Zwang die gegenseitige Absprache ersetzt.
Hinzu kommt natürlich die Diskussion bzgl. der Bedeutung von "Anarchie", die nur in den wenigsten Fällen tatsächlich "Abwesenheit von Herrschaft" meint. Meist wird damit bloß die Abwesenheit von Herrschaft durch andere bezeichnet, und in vielen Fällen beschränkt es sich lediglich auf die Ablehnung der Staatsregierung im Sinne von Jellineks Staats-Definition (Staat = Staatsvolk + Staatsgebiet + Staatsregierung) bzw. auf die Abwesenheit des (archetypischen) Nationalstaates.
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