Mittwoch, 13. September 2017

Die politische Mitte in der Bundesrepublik Deutschland

In der Weimarer Demokratie beschrieb die Mitte den negativen Raum zwischen den Kommunisten auf der linken Seite sowie den Monarchisten auf der rechten Seite. Die Mitte war hier gewissermaßen eingeklemmt zwischen zwei Republikfeinden: Einerseits diejenigen, die die parlamentarische Republik auf den "Fortschritt" zur Räterepublik hin abschaffen wollten; andererseits diejenigen, die die parlamentarische Republik unter Rückgriff auf (vermeintlich) historische Vorbilder hin abschaffen wollten. Die Zentrumspartei (mit Abstrichen auch SPD, DDP und DVP) stand in dieser Mitte, was sich z.B. daran zeigt, dass das Zentrum gewissermaßen universal anschlussfähig war, Regierungsbündnisse von der SPD bis hin zur DNVP schließen konnte und so an den meisten Regierungen der WR beteiligt war. In Frankreich, wo die republikanische Tradition anders als im Deutschland zur Weimarer Zeit wesentlich zur nationalen Identität gehört, stellt sich die Lage anders dar: Hier stehen rechts und links nicht in erster Linie die Republikfeinde, sondern es stehen dort unterschiedliche Konzeptionen von der Republik. Einerseits die Sozialisten, die ihren Fokus mehr auf die innenpolitische Stärke der Republik hinsichtlich der Gesellschaft legen; andererseits die Gaullisten, die ihren Fokus mehr auf die außenpolitische Stärke der Republik hinsichtlich der Staatengemeinschaft legen. Le centre steht dazwischen, ohne wirklich eine dominante Position besetzen zu können. Analog verhält es sich auch bspw. in den USA zwischen Demokraten und Republikanern, deren Unterschied traditionell unter den Begriffen welfare und warfare subsumiert wird. Hier gibt es faktisch keine Partei der Mitte. Was diese genannten Beispiele betrifft, kann man durchaus sagen, dass die Mitte den halben Weg von der einen zur anderen Seite beschreibt.

In der Bundesrepublik verhält es sich nun allerdings etwas anders. Sie wurde gegründet unter dreierlei Voraussetzung: Erstens gab es nur eine kümmerliche republikanische Tradition in Deutschland; diese war nämlich, zweitens, in der Weimarer Republik spektakulär gescheitert und durch einen totalitären Einparteienstaat ersetzt worden, der beide Seiten der Republikfeindschaft zu einer Synthese verbunden hatte; drittens gab es in der SBZ ein real existierendes Gegenbild, das die linke Republikfeindschaft der Weimarer Zeit mit einer totalitären Einparteienherrschaft verknüpfte.

Vor diesem Hintergrund hat sich das politische Spektrum der Bundesrepublik konstituiert, namentlich als Gefüge aus drei republikanischen Sammlungsbewegungen, die weder im negativen Raum zwischen rechts und links stehen noch einen Totalitarismus vertreten, sondern einen je eigenen Wesenskern besitzen:

Die Christdemokratie wurde als Gegenentwurf zum politischen Katholizismus gegründet, indem sie sich überkonfessionell aufgestellt hat. Grundlage waren und sind die christliche/katholische Soziallehre, das protestantisch-liberale Unternehmertum sowie der bäuerlich-ländliche Christkonservatismus. Es sind vor allem die Prinzipien der christlichen Soziallehre, aus denen sich einerseits die anderen beiden Strömungen der Christdemokratie ableiten, andererseits auch die zivilisatorischen Fundamente des Grundgesetzes speisen.

Die Freidemokratie wurde als Gegenentwurf zum politischen Liberalismus gegründet. Theodor Heuss hat sich z.B. entschieden gegen eine liberale Partei ausgesprochen, da so ein Projekt aus den vorangegangenen Erfahrungen nicht sinnvoll sei: Die Nationalliberale Partei hatte sich seinerzeit im Bismarckreich schon heillos zersplittert, und der politische Liberalismus war in der WR zerstückelt worden zwischen DDP und DVP. So sind es vor allem die liberalen Normen, unter denen in der Freidemokratie Rechtsliberale und Linksliberale - i.e. Wirtschafts-, Sozial- und Nationalliberale - zusammengekommen sind, und in denen sich die zivilisatorischen Fundamente des Grundgesetzes verwirklichen.

Die Sozialdemokratie hat es da etwas schwerer gehabt, denn die SPD gab es  bereits vor der Bundesrepublik, sie ist keine Neugründung. Die SPD hat bis ca. Mitte der 1950er Jahre gebraucht, um sich a) mit der Bundesrepublik anzufreunden und diese als auch ihren eigenen Staat zu akzeptieren, und b) der sozialistischen Einheitspartei in der SBZ eine sozialdemokratische Volkspartei entgegenzustellen. Dreh- und Angelpunkt hierfür war und ist das Godesberger Programm, das sich vom Marxismus verabschiedet und den Klassenkampf zugunsten eines positiven Gesellschaftsentwurfs hintangestellt hat. Es waren vor allem die demokratischen Werte, mit denen Arbeiter und Bürger, Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten integriert werden konnten, und auf die das zivilisatorische Fundament des Grundgesetzes zielt.

Und das bedeutet es, wenn und dass die Mitte in der Bundesrepublik eine Position aus eigenem Recht darstellt:

  • Prinzipien der christlichen Soziallehre, 
  • liberale Normen, 
  • demokratische Werte.

Das ist die (politische) Mitte in der Bundesrepublik, denn genau das beschreibt auch den zivilisatorischen Konsens des Grundgesetzes. Das ist nun nicht erst seit der Entstehung der grünen Bewegung so, und auch die SED-Nachfolgepartei hat da keine "Wagenburg" o.ä. hervorgerufen. Ganz im Gegenteil haben beide Parteien ein intaktes politisches Spektrum vorgefunden und sich darin zu positionieren bemüht.

Was rechts und links von dieser Mitte steht, ist je zweierlei:

Links der Mitte stehen Sozialdemokratismus und Sozialanarchismus, d.h. gesellschaftliche (Gegen-)Entwürfe, die auf Klassenkampf und Rebellion bauen. Gemein ist beiden Ansätzen, dass sie von einem Teil auf das Ganze induzieren, und so z.B. die sozio-ökonomischen Interessen eines Teils der Gesellschaft an die Spitze des gesamtgesellschaftlichen Interesses stellen. Die Grünen und die SED-Nachfolgepartei haben hierüber ihren Platz im politischen Spektrum der Bundesrepublik ergattert. Die Piraten haben zu ihren Hochzeiten hier auch ihre Nische gefunden.

Rechts der Mitte stehen Ökonomismus und Kulturalismus, d.h. zivilisatorische Gegenentwürfe, die auf Gleichförmigkeit und Identität bauen. Gemein ist beiden Ansätzen, dass sie von einem Ganzen her auf alle Teile deduzieren, und so z.B. bestimmte ökonomische oder kulturelle Gesamtentwürfe für jeden einzelnen vorschreiben wollen. Die FDP unter Westerwelle hat sich in diese Richtung orientiert, und die AfD versucht seit 2013, hierüber einen festen Platz im politischen Spektrum der Bundesrepublik zu erhalten. In den 1960er Jahren hat die NPD auf diesem Feld ihre Erfolge eingefahren, und zuvor konnte die Adenauer-Union erfolgreich DP und BHE auf diesem Feld trockenlegen.

"Links" und "rechts" sind hier nun nicht mehr wie zur Weimarer Zeit per se republikfeindlich. Die Übergänge zwischen republikanischen und republikfeindlichen Positionen sind jedoch fließend, und die Gefahr besteht darin, dass sie überhand nehmen, sofern die Mitte nicht oder nicht mehr adäquat besetzt wird.

Die SPD wird es nicht schaffen, die Mitte adäquat zu besetzen, sofern sie der Mär vom "Rechtsruck" folgt, welche von genau denjenigen Klassenkämpfern erzählt wird, gegen die sich die SPD 1959 als Volkspartei aufgestellt hat. So wie die FDP teures Lehrgeld zahlen musste, als sie unter Westerwelle die Mitte verlassen hat zugunsten ökonomischer Gleichförmigkeit des Besitzbürgertums. Der Union blüht auch ein schmerzhafter Abstieg, sofern sich der Seehofer-Kurs durchsetzt und zugunsten irgendeiner "Schließung der rechten Flanke" die Mitte preisgegeben wird, indem man sich irgendeine kulturelle Identität aufdrücken lässt.

Die Rede vom "Mitte-Wischi-Waschi" ignoriert vor diesem Hintergrund letztlich nicht nur die fundamentalen Bausteine des politischen Spektrums der Bundesrepublik Deutschland, sondern sie leistet auch der Zersetzung dieses Spektrums aktiv Vorschub. Den "Mief der Mitte" riechen so gesehen nämlich vor allem diejenigen, die ihre linke oder rechte Position gerne zum verbindlichen Maßstab erheben würden.

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