Sonntag, 6. August 2006

Das liebe Heilige Römische Reich ...

... wie hälts nur noch zusammen?

Ein leidig Lied! Dankt Gott mit jedem Morgen,
Daß ihr nicht braucht fürs Römische Reich zu sorgen!

Auerbachs Keller ist gemütlich.

Das Alte Reich - wohl kein Gebilde auf deutschem Boden ist so dermaßen falsch im Bild der kollektiven Erinnerungskultur geblieben. Überhaupt, es greift so manche Analyse gnadenlos ins Leere, wenn sie sich daran macht, die Struktur dieses Dings zu fassen. Nun ist es ja allgemeiner Konsens, dass es weder Staat noch Staatenbund war. Es ist, oder besser: war eben das Reich. Punkt. Aus.

Ob es 1806 tatsächlich unterging, darüber lässt sich streiten. Fest steht: Der Kaiser, Franz II., hat vor 200 Jahren die Krone niedergelegt. Fest steht: Der Kaiser hat das Reich für erloschen erklärt. Fest steht aber auch: Um solch einem Schluss die Gültigkeit zu geben, hätte es eines Reichstagsbeschlusses, eines echten Reichsabschiedes im wahrsten Sinne des Wortes also, bedurft. Das ist nicht geschehen. Juristisch gesehen ist das Alte Reich also nicht untergegangen. Juristisch gesehen waren Deutscher Bund, Bismarck-Reich, Weimarer Intermezzo und Hitler-Reich also widerrechtliche Staatengebilde auf dem Boden des Reiches (die sich freilich nicht genierten, sich in einem Akt der unerhörten Frechheit in die Tradition ebenjenes Reiches zu stellen). Auf Das Dritte Reich und die Bundesrepublik Deutschland träfe dies ebenso zu, würde man ... ja, wäre man in dieser Ecke unterwegs: Es gilt also nicht die Weimarer Reichsverfassung, wie einige Kollektivisten den Anschein erwecken wollen, nein, denn sie selbst ist eine staatliche Usurpation. Konsequenterweise müssten die alten Reichsgrundgesetze gelten.

"Grundgesetze" klingen sowieso viel milder als "Verfassung". Dieser Ausdruck hat nicht jenen faden Beigeschmack der Revolution, die, von Frankreich ausgehend, eine Welle der Zerstörung über Europa brachte und erst, wie Hitler etwas mehr als ein Jahrhundert später, vor den Toren Moskaus zu Fall gebracht wurde.

Was nach dem vermeintlichen Ende des Reiches folgte, lernt man in der Schule: Der Deutsche Bund, der den vermeintlich von vorn herein zum Scheitern verurteilten Versuch startete, die Struktur des Reiches in modernen Kategorien des Staatsrechtes wiederzubeleben. Die Revolution von 1848, die von zutiefst reaktionären Kräften im wahrsten Sinne des Wortes in Grund und Boden geschossen wurde, als ein paar Kollektivisten beschlossen, es wäre Zeit für ein neues, ein durch und durch deutsches Reich. Der deutsch-preußische Krieg von 1866, der, in einem Akt historiographischer Verblendung, ganz gerne zum "deutsch-österreichischen" Krieg erklärt wird, obwohl damals Bundestruppen gegen preußische Soldaten zu Felde zogen. Bismarcks Fürstenbund, ein von oben durch Eisen und Blut geschmiedetes föderales Gebilde, das nach dem verlorenen Weltkrieg in einen dezentralen Einheitsstaat unter dem republikanischen Vorsitz des Ersatzkaisers bzw. Reichspräsidenten umgewandelt wurde. Die tausendjährige Schmach unter Hitler. Der Aufbau im Westen. Das neue, vermeintlich bessere Deutschland im Osten unter dem Vorsitz der KPdSU. Die Wiedervereinigung des Bismarckreiches unter Abtretung der Gebiete östlich der Oder. Die europäische Einigung. Zweihundert Jahre im Schnelldurchlauf.

Was geht dabei unter? Das Reich. Oder besser, damit man mich versteht: das Alte Reich. Das Sacrum Imperium Romanum Nationis Germanicae.

Am Anfang war das Ende. Im Jahre 476 setzte der Germanenfürst Odoaker den letzten weströmischen Kaiser Romulus Augustulus, alleine schon vom Namen her eine Karikatur früherer römischer Größe, ab. Das einstige Weltreich zerfiel im Westen. Nach dem Zwischenspiel Theoderichs des Großen, dessen Bündnissystem ihm die Herrschaft über einen Großteil des ehemaligen Westreiches bescherte, und den Eroberungen Justinians, der von Konstantinopel aus im 6. Jahrhundert n. Chr. noch einmal einen Teil der westlichen Sphäre für das verbliebene Ostrom eroberte, herrschte eine Leere im Westen. Bereits nach dem Sturz Romuli Augustuli verkündete man in Richtung Ostrom, es bedürfe von nun an nur noch eines römischen Kaisers. Und so geschah es: Der basileus von Byzanz war von da an der höchste Monarch der (zumindest abendländischen) Welt. Während das östliche Überbleibsel der Antike jedoch in seiner Zeit verhaftet blieb, erlebte der Westen einen Bruch, den wir heute hochnäsig als Mittelalter bezeichnen. Es sollte das Frankenreich, regiert von Barbaren, sein, welches hierdurch seinen großen Auftritt erlangte.

Es war Karl, genannt der Große, der eine Zäsur in die (west-)europäische Geschichte brachte. Sein Vater Pippin trotzte den schwachen Merowingern die fränkische Königswürde ab und holte damit de jure das nach, was de facto schon seit langer Zeit gegeben war: Die Macht der Familie, die wir Karolinger nennen, wurde königlich. Pippins Vater Karl, genannt Martell, der Hammer, besiegte die islamischen Aggressoren bei Tours und Poitiers und verteidigte so das Abendland gegen arabische Unterjochung. Karl der Große selbst sollte militärisch nicht minder erfolgreich sein. Er gelangte zur Herrschaft über Aquitanien, unterwarf das Langobardenreich und nach einem dreißig Jahre währenden Krieg auch das heidnische Sachsen.

Um eine lange Geschichte abzukürzen: Die Erhebung zum patricius Romanorum, dem Schutzherren der Römer - einem Titel, den der (ost-)römische Kaiser dann und wann verlieh - war den Errungenschaften Karls nicht mehr gerecht geworden. So war es eine glückliche Wendung des Schicksals, dass der (ost-)römische Kaiserthron seit 797 von einer Frau, Irene, die ihren kaiserlichen Sohn entmachtet und geblendet hatte, besetzt wurde - und damit nach westlichem Verständnis vakant war. Der Bischof von Rom, der sich als Papst in der Tradition des heiligen Petrus verstand und bis heute versteht, sah dies als eine gute Gelegenheit, um den tatsächlichen Konstellationen institutionelle Festigkeit zu verleihen: Vorhandene Tatsachen wurden dingfest gemacht. Und auch Karl, der wohl mächtiger war als der Kaiser im fernen Konstantinopel, dürfte die ganze Situation sehr gelegen gekommen sein. So krönte Papst Leo III. am 25. Dezember des Jahres 800 n. Chr. den Frankenkönig Karl zum Kaiser. Das Reich wurde römisch.

Drehen wir die Uhr ein wenig nach vorne und überspringen die Reichsteilungen sowie die Etablierung des Königtums im ostfränkischen Reich. Setzen wir bei Heinrich III., einem Salier (Saalfranken) ein. Er sah sich, in kaiserlicher Tradition, als Schutzherr der Kirche. Aus diesem Grunde schien es ihm notwendig, dass er sie vor sich selbst schützen müsse. Seine Eingriffe in die Kirche hatten nicht das Ziel, das Kaisertum über das Papsttum zu stellen. Er wollte ein funktionierendes Papsttum, dem das Kaisertum Schutz gewähren konnte. Sein Sohn, Heinrich IV., hat dies nicht verstanden. Folglich belegte ihn Gregor VII. mit dem Kirchenbann. In der Folgezeit setzte sich der Rangstreit zwischen Kaiser und Papst fort. Es war (verkürzt dargestellt, denn: Männer machen Geschichte, nämlich die Geschichtsschreiber) Friedrich I., genannt Barbarossa, der proklamierte, das Reich wäre vor der Kirche gewesen - wie sonst hätte Jesus in das Reich hineingeboren werden können? Dem päpstlichen Hoheitsanspruch stellte er somit das Sacrum Imperium entgegen. Das Reich wurde heilig.

Betrachtet man sich nun die zeitliche Folge der Kaiser, so erkennt man, dass Alexander von Roes' denkwürdige Worte aus dem Jahre 1289 sich zum Teil bewahrheiten sollten: Den Deutschen wurde die Herrschaft (imperium) gegeben, den Italienern das Papsttum (sacerdotium) und den Franzosen die Wissenschaften (studium). Seit den Tagen Ottos I., genannt der Große, kam der römische Kaiser aus einem deutschen Adelsgeschlecht. Im Spätmittelalter fand dies seinem Ausdruck im Zusatz Nationis Germanicae. Das Reich (imperium) wurde, nein: es war deutsch.

Was hier wie eine sinnlose Aneinanderreihung historischer Fakten erscheint, findet jedoch seine Entsprechung im Zerfallsprozess des Alten Reiches. Die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit sollte dabei eine interessante Grenzlinie bilden.

In der Tradition Karl des Großen stehend, war die Kaiserwürde eng mit einem Zug nach Rom, in die Stadt des Papstes, verbunden. Der Papst war es, der die Krönung an Karl vollzog, er sollte es sein, der seine Nachfolger zu Kaisern erhob. So zogen alle mittelalterlichen Aspiranten (mit einigen wenigen Ausnahmen) nach Rom, um sich dort krönen zu lassen. Es war Maximilian I., der letzte Kaiser des Mittelalters oder erste Kaiser der Neuzeit, der mit der Tradition der Romzüge brechen sollte. Als erster nahm er, mit päpstlicher Zustimmung, den Titel "Erwählter römischer Kaiser" an. Sein Sohn, Karl V., in dessen Herrschaftsbereich die Sonne niemals untergehen sollte, ließ sich zwar - als letzter Kaiser - vom Papst die Krönung spenden, allerdings nicht mehr in Rom. Alle folgenden Kaiser standen in der Tradition Maximilians und waren nur mehr "Erwählte Römische Kaiser". Das Reich hörte auf, römisch zu sein.

Unter dem letzten gekrönten Kaiser, Karl V., sollte ein Mann zu zweifelhaftem Ruhm gelangen, der dazu fähig war, die bisherige Welt und vor allem das Reich in den Grundfesten zu erschüttern: Martin Luther. Seine theologische Rebellion, welche die Kirche durch eine "Reformation" in die Abhängigkeit der Fürsten, zur Simonie und zur Priesterehe, also zurück hinter die Kirchenreformen des 11. Jahrhunderts (deretwegen es unter anderem das Zerwürfnis zwischen katholischer Westkirche und orthodoxer Ostkirche gab) führen sollte und wollte, entzündete ein Feuer, dessen Druck sich im sog. "dreißigjährigen Krieg" von 1618 bis 1648 mit aller Heftigkeit entlud. Die Reichsstände, allen voran jene mächtigen Fürsten, welche mit der Augsburger Konfession liebäugelten, probten den Aufstand. Der Kaiser hatte Mühe, seine Aufgabe - die Sorge um Friede und Ordnung - zu erfüllen. Bereits im Jahre 1555 war auf einer Reichsversammlung in Augsburg der sog. "Augsburger Religionsfriede" geschlossen worden. Da man sich auf keine theologische Linie einigen konnte, klammerte man diese Frage aus und überließ sie den Landesherren. Cuius regio eius religio wurde zum hochgelobten Prinzip, das den gemeinen Mann, für den Luthers Rebellion ja gedacht war, in Glaubensfragen in der Unmündigkeit beließ. Eine Unmittelbarkeit zu Gott wurde gerade in den protestantischen Territorien nie praktiziert. An die Stelle des römischen Papstes trat der deutsche Fürst. Römisch-transnationale Geistlichkeit wurde durch deutsch-nationale Herrschaft ersetzt. Der Kaiser gab damit seinen universalen Anspruch als Bewahrer der Christenheit auf. Das Reich hörte auf, heilig zu sein.

Was blieb also? Das Imperium Nationis Germanicae, das Regnum Teutonicorum, das deutsche Reich. Es mag wie eine Ironie der Geschichte klingen, wenn man sich unter diesem Gesichtspunkt vor Augen führt, dass bereits Gregor VII., derjenige Papst, der zuerst einen Kaiser exkommunizierte, seinen Kontrahenten Heinrich IV. diminuierend einen "deutschen König" nannte. Und auch Samuel Pufendorf a.k.a. Severinus de Monzambano hatte, durch diese Brille gesehen, nicht ganz Unrecht, wenn er schrieb, die deutsche res publica sei auf keine Weise mit dem römischen Reich identisch.

So bestand das altertümliche Reich, jenes antiquierte, fast schon anachronistische Gebilde bis tief hinein in die Neuzeit. Da es weder heilig noch römisch war, blieb ihm nur der deutsche Charakter einer Nation. Der wiederum war jedoch schon längst durch einen anderen Prozess von anderen Spielern im Mächtekonzert besetzt worden: Gerade das später zum "Erbfeind" stilisierte westfränkische Reich, Frankreich genannt, sollte sich als nationalstaatlicher Gegenentwurf zum Alten Reich in Europa etablieren, und seine Könige sollten als Sonnenkönige (wer kennt ihn nicht, den französischen Potentaten mit seiner Perücke, den Stöckelschuhen und dem Strumpfband?) heller auf die übrigen europäischen Fürsten strahlen als es das Kaisertum noch vermochte.

Das 18. Jahrhundert würde jedoch, gerade mit seinem Ende, auch das Ende einer Epoche begründen: Die Nation hatte sich als stärker denn die Königsherrschaft erwiesen, Frankreich war Republik und ihr Konsul, Napoleon Bonaparte, strebte nach der Weltherrschaft. Dass er versuchte, ebenfalls die Kaiserwürde zu erlangen, dürfte angesichts der glänzenden Geschichte, welche man ihr gerade in jenem Zeitalter der Rückbesinnung auf antike Zeiten zuschrieb, nicht sonderlich verwundern. So kam es auch, dass der Korse sich viel eher in die Tradition der plebiszitär abgesicherten Soldatenkaiser aus spätantiker Zeit stellte denn in jene sakral legitimierte, römisch-mittelalterliche Kaiserherrschaft. Das Reich hingegen hörte auf, deutsch zu sein. Überhaupt hörte es wohl auf, zu sein.

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