Ein Wunder ist ein Phänomen, das die Größe und Herrlichkeit Gottes herausstreicht. Auf welche Art und Weise dies geschieht, ist dabei zweitrangig. Wichtig ist, dass der dahinterstehende und -wirkende logos erkannt wird, der Sinn, den dieses Phänomen hat; der spezifische technische Ablauf ist eigentlich egal. Wenn die Hebräer in der leeren Wüste auf einmal einem Schwarm Wachteln begegnen, durch den sie ihren Hunger stillen können, dann ist es vollkommen egal, ob die Wachteln durch bestimmte Naturgegebenheiten eine Alternativroute für ihren jährlichen Vogelzug gewählt haben oder ob es sich dabei nur um einen verirrten Schwarm eines größeren Wachtelverbands handelte oder ob der Herr hier urplötzlich Vögel aus dem Nichts herbeigezaubert hat. Zum Wunder wird die Begebenheit dadurch, dass das Wirken Gottes - der für sein herumwanderndes Volk sorgt - erkannt wird. Und das ist eine theologisch-philosophische, keine naturwissenschaftliche Fragestellung.
Ein Wunder muss verstanden werden (hermeneutischer Zugang) - wie man es erklärt (analytischer Zugang), ist zweitrangig.
Gewiss: Nach diesem Ansatz ließe sich in allem ein Wunder sehen. Deshalb sind Christen so lebensfroh: Ihnen begegnen tagtäglich Wunder.
Die Ansicht, der Wachtelschwarm wäre nur dann ein Wunder, wenn man eben nachweisen könnte, dass er aus dem Nichts kam, ist in meinen Augen ein sehr naiver, ein sehr beschränkter Wunderbegriff: Er baut in letzter Konsequenz auf einem Weltbild auf, das zumindest in der Nähe historisch-materialistischer Modernisierungskonzepte steht. Wenn ein Wunder nicht mehr theologisch definiert wird, sondern zu einer naturwissenschaftlichen Kategorie, die all das umfasst, was nicht experimentell bewiesen werden kann, dann kommen wir ganz schnell zu einem vulgären Religionsbegriff, der eine daran angepasste Religionskritik nach sich zieht. Ganz zu schweigen von den Problemen, die wir mit den anderen Geisteswissenschaften bekommen: Fast alle Ergebnisse der Geschichtswissenschaft beispielsweise wären unter diesem Gesichtspunkt nämlich als Wunder zu verbuchen.
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