Mittwoch, 16. Mai 2012

Nochmal zum Sinn des Lebens

Teil 1

Ich begreife den Sinn, d.h. die Bedeutung meines Lebens ursächlich, d.h. von der Ursache meines konkreten Lebens her (= meine Eltern) als Vereinigung (sie haben sich sowohl biologisch als auch ökonomisch zusammengetan), Verzicht (sie haben biologisch auf mindestens eine Körperzelle, ökonomisch auf materielle Güter verzichtet) und Verantwortung (sie haben mich mit bestimmten Antworten auf bestimmte Fragen ausgestattet und Fürsorge geleistet). Das entspricht gleichzeitig der ursprünglichen, d.h. vom Ursprung des Lebens her (= Gott) gedachten Bedeutung: In Jesus Christus hat Gott sich vollständig mit der Welt vereint (er ist als ganzer Mensch in die Welt getreten), er hat Verzicht geübt, d.h. auf all das verzichtet, was ihm als Gott eigentlich zustünde (vom Verzicht auf weltliche Herrschaft, die dem Menschen übertragen wurde, ging dies bis zum vollständigen Selbstverzicht im Kreuzesopfer), und trotz allem Verantwortung getragen (von der Fürsorge für das Volk Israel über den Prozess vor Pilatus, bei dem er als Unschuldiger die Todesstrafe erhalten hat, bis hin zur Auferstehung, bei der er die Verheißung an das Volk Israel erfüllt hat).

In ihrer Fülle lassen sich diese drei Elemente in einem Wort zusammenfassen: Liebe.

Rein ursächlich betrachtet (d.h. auf die Ursache eines konkreten Lebens bezogen) ist diese Deutung des Sinns des Lebens nichts Besonderes. Das Wichtige dabei ist allerdings, dass die ursächliche (= auf die Eltern bezogene) Betrachtungsweise dem ursprünglichen (= auf Gott bezogenen) Sinn entspricht. Das wiederum ist nicht selbstverständlich, im Gegenteil: Es gibt genügend Fälle, in denen diese Entsprechung nicht gegeben ist.

Ich konstruiere einen Härtefall, um den Punkt deutlich zu machen: Ein Kind wird aufgrund einer Vergewaltigung gezeugt und die Mutter stirbt dazu noch bei der Geburt. Wie kann dieser Mensch den Sinn seines Lebens nun ursächlich deuten? Das rein biologische Zusammengehen seiner Eltern ist zwar auch gegeben, aber nicht als beidseitig gewollte Vereinigung, sondern als einseitiges Eindringen des Vaters in die Mutter, als Vereinnahmung (Ver-Gewaltigung). Die rein biologische Verantwortung der Mutter für das Kind im Leib ist zwar ebenfalls gegeben, mehr aber auch nicht: Im Gegenteil, recht eigentlich ist die Verantwortung auf die biologische Notwendigkeit reduziert worden, der Vater hat Mutter und Kind verlassen; das Leben des Kindes bedeutet vor diesem Hintergrund Vereinzelung. Und da die Mutter bei der Geburt gestorben ist, wird der Verzicht (auf diese eine Körperzelle und materielle Güter zum Wohle des Kindes) gesteigert bis hin zum Verzicht auf das eigene Leben, deutbar als Vernichtung. Auf die Frage "Was ist der Sinn deines Lebens?" könnte dieses Kind also - rein ursächlich betrachtet - antworten: Vergewaltigung, Verlassen, Vernichtung. Und das Kind hätte Recht. Rein ursächlich könnte es daraus nun auch Handlungsmaximen ableiten (z.B. diese drei Elemente in der Beziehung zu Frauen umzusetzen).

Haarig wird das nun, wenn man den ursprünglichen, d.h. auf den Ursprung (= Gott) bezogenen Sinn des Lebens ins Spiel bringt. Dieser ist meinem Verständnis nach die normative Richtschnur, an der sich - im Idealfall - der ursächliche Sinn orientiert. So wie die moderne Physik die Mathematik als denknotwendige Voraussetzung braucht, so kann auch eine Ursache nicht ohne einen Ursprung gedacht werden. Der Ursprung geht der Ursache voraus, er macht sie erst möglich. Der Mensch hat nun die Fähigkeit, das Ursächliche vom Ursprünglichen zu trennen.

Und wenn wir nun den konstruierten Härtefall mit dem ursprünglichen, d.h. auf den Ursprung (= Gott) bezogenen Sinn vergleichen, ergibt sich freilich eine Schieflage. Warum? Weil das Ursächliche hier durch menschliche Entscheidung vom Ursprünglichen entkoppelt (emanzipiert?) wurde. Erst der Blick auf das Ursprüngliche lässt zudem eine moralische Bewertung der vorliegenden Situation zu: Erst durch diesen Abgleich können wir überhaupt eine Schieflage erkennen.

Rein ursächlich haben wir beide (das Kind und ich) nämlich nichts gemein. Wenn überhaupt, dann habe ich rein ursächlich nur mit meinen Geschwistern eine Gemeinsamkeit, was die Bedeutung des Lebens angeht. Da wir beide (das Kind und ich) aber als Seiendes ein Sein (Anselms ontologisches Argument), als Bestandteile der Verwirklichung (die) Wirklichkeit (Aquinas' "unbewegter Beweger") und als vernunftbegabte Lebwesen ein regulatives Prinzip (Kants "moralischer Gottesbeweis") zur denknotwendigen Voraussetzung benötigen, besteht eine Gemeinsamkeit außerhalb des rein Ursächlichen. Und da nach christlichem Glauben jene drei denknotwendigen Voraussetzungen mit ein und derselben Referenz identifiziert werden ("Gott"), stehen wir nach christlichem Verständnis in derselben Art von Beziehung zu dieser Referenz.

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