Montag, 9. September 2013

Was bedeutet "christlich-demokratisch"?

 - Versuch einer Wesensbestimmung -

Omnis definitio negatio est - Jede Definition (wörtlich: Ausgrenzung) ist Verneinung. In diesem Sinne sollen zunächst zwei Missverständnisse ausgeräumt werden, um darzustellen, was "christlich-demokratisch" nicht bedeutet.

  • "Christlich-demokratisch" bedeutet nicht "demokratisches Christentum". Es geht nicht darum, theologische, religiöse oder Glaubensangelegenheiten dem politischen Entscheid zu unterwerfen. 
  • "Christlich-demokratisch" bedeutet weiters nicht "Klerikalismus". Es geht nicht darum, politische Angelegenheiten unter den Vorbehalt religiöser Institutionen zu setzen.

"Christlich-demokratisch" heißt:

(a) den allgemeinen und freien Entscheid als geeignetstes Mittel im politischen Prozess anzusehen, um die Verantwortung der beteiligten Menschen in den Diskurs zu überführen, und

(b) sowohl dieses Mittel als auch den politischen Prozess selbst als auch die Verantwortung der beteiligten Menschen aus einem Menschenbild abzuleiten, das die Würde und das Ansehen als Person unverrückbar anerkennt.

Es bedeutet also, das demokratische Gemeinwesen von einem im weitesten Sinne christlichen Hintergrund aus zu begründen, zu begreifen und zu gestalten.

Da das Christentum durch die ihm innewohnende Säkularisierung keine spezifische Staats-, Regierungs- oder Herrschaftsform kennt, konstituiert oder unterstützt, gehört das christlich-demokratische Denken zu keiner der drei großen ideologischen Linien, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat (Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus)[*] - und beinhaltet dennoch alle drei.

"Christlich-demokratisch" heißt:

  • konservativ dem Grunde nach, da das politische Denken und Handeln auf Grundlagen fußt, die über die Zeit hinaus Gültigkeit besitzen, 
  • liberal dem Wirken nach, da das politische Denken und Handeln (die) Freiheit verwirklicht, sowie 
  • sozialistisch dem Ziele nach, da das politische Denken und Handeln nach Gerechtigkeit strebt.

Konservativ, das ist weder traditionalistisch noch etatistisch.-- Der deutsche Konservatismus ist einerseits zutiefst paläodox, da er die Tradition auf eine Weise verehrt, die nur das als richtig anerkennt, was überliefert wurde. Wahrhaft konservativ gedacht ist etwas jedoch nicht deshalb richtig, weil es überliefert wurde, sondern etwas wird überliefert, weil es richtig ist. Der deutsche Konservatismus, v.a. derjenige preußischer Prägung, ist andererseits höchst etatistisch, da er die Souveränität des Staates überbetont oder gar gegen die Gesellschaft auszuspielen sucht. Wahrhaft konservativ gedacht ist die Souveränität jedoch eine Chimäre, welche die Zeitgebundenheit der staatlichen Autorität verneint und den Herrscher somit verabsolutiert.

Liberal, das ist weder freidemokratisch noch kapitalistisch.-- Die deutsche Freidemokratie hat sich in explizitem Gegensatz zum als unbrauchbar bezeichneten Begriff "Liberalismus" gegründet. Sie beherbergt in sich die Verehrung verschiedener Kollektivsingulare wie "der Einzelne" (Libertarismus), "der Unternehmer" (Wirtschaftsliberalismus) oder "die Nation" (Nationalliberalismus), deren Interessen jeweils als Zweckursache politischen Denkens und Handelns gesetzt werden. Wahrhaft liberal gedacht stellt ein Kollektivsingular eine Chimäre dar, die strukturell kollektiviert und damit keine Pluralität, sondern Uniformität schafft, womit die Freiheit als Prinzip durch den Zwang abgelöst wird. Ein Phänomen des parteiübergreifenden Liberalismus ist der Ökonomismus, welcher "die Wirtschaft" ins Zentrum der politischen Tätigkeit stellt und deren Interessen als Zweckursache politischen Denkens und Handelns setzt. Wahrhaft liberal gedacht stellt "die Wirtschaft" einerseits einen weiteren Kollektivsingular dar, während so andererseits das menschliche Dasein einseitig unter dem ökonomischen Aspekt gedeutet und damit reduziert wird. Zudem kann es aus liberaler Sicht nicht um "die Wirtschaft" gehen, sondern es muss der Markt als natürliche Form freier und verantwortlicher zwischenmenschlicher Kommunikation im Blick stehen.

Sozialistisch, das ist weder materialistisch noch paternalistisch.-- Der deutsche Sozialismus trägt in sich nicht nur eine materialistische Tradition, welche die jeweilige sozialistische Partei zur "Mutter der Massen" stilisiert hat, sondern stellt diesen Anspruch auch heute noch, indem er die jeweilige Partei unter dem Schlagwort "Umverteilung" als institutionalisierte Revolution verkaufen will, die ihre Kinder ernährt. Wahrhaft sozialistisch gedacht handelt es sich bei einer institutionalisierten Revolution um eine Chimäre, da der revolutionäre Prozess hierdurch jäh aufgehalten und sogar verhindert wird; revolutionäre Dynamik wird materialistischem Stillstand geopfert. Ein Phänomen des parteiübergreifenden Sozialismus stellt der Paternalismus dar, der dem Staat den Anspruch anträgt, für seine Bürger die Verantwortung, Verpflegung und Versorgung zu übernehmen wie ein Vater dies für seine Kinder tut. Wahrhaft sozialistisch gedacht begründet, bestärkt und besiegelt "Vater Staat" jedoch die Ungleichheit und damit die Ungerechtigkeit zwischen den Menschen und verhindert so die zwischenmenschliche Begegnung als socius auf Augenhöhe.

"Christlich-demokratisch" heißt:
(a) sowohl prä-national
(b) als auch supra-national.

Unbeschadet der Anerkennung des nationalstaatlichen Rahmens relativiert christlich-demokratisches Denken den Nationalstaat auf zweierlei Weise: Zum einen in Richtung der Gliedstaaten bzw. Länder innerhalb des Nationalstaates; das bedeutet konkret eine sehr starke föderalistische Tendenz. Zum anderen in Richtung des Staatenverbundes oberhalb des Nationalstaates; das bedeutet konkret die Einbettung des deutschen Nationalstaates in die europäische Einigung. Diese doppelte Relativierung des Nationalstaates ergibt sich aus der christlich-demokratischen Relativierung der Nation selbst: Diese geschieht einerseits auf die Gesellschaft hin, andererseits auf die Kultur hin, in denen die Nation jeweils eingebettet liegt.

Prä-national, das ist weder un-national noch anti-national.-- Es kann nicht darum gehen, die Nation a priori vom politischen Denken und Handeln ausschließen und damit ignorieren zu wollen. Dies wird dem politischen Rahmen nicht gerecht, der sich auch auf der nationalen Ebene befindet und in weiten Teilen dort seine hauptsächliche Verankerung erfährt. Weiterhin kann es nicht darum gehen, die Nation bekämpfen oder überwinden zu wollen, sei es durch gezielte Synthetisierung oder gar Auslöschung. Prä-nationales Denken und Handeln anerkennt die historische Realität des nationalen Bezugsrahmens, begreift diesen jedoch im Zusammenhang mit den Bedingungen, auf denen die Nation selbst fußt und die sie folglich zur Voraussetzung hat.

Supra-national, das ist weder inter-national noch post-national.-- Es kann nicht darum gehen, die Nation als abgeschlossene Entität zu begreifen und sie so in einen Wettbewerb mit anderen Nationen zu stellen. Dies wird der Nation als historische Realität nicht gerecht, da es ihre innere Dynamik ausschließt und ignoriert. Weiterhin kann es nicht darum gehen, die Nation als überwunden zu behaupten und dementsprechend zu ignorieren. Supra-nationales Denken und Handeln begreift die Nation nicht als in sich abgeschlossenes Wesen, sondern als dynamische und offene Wirklichkeit.

"Christlich-demokratisch" heißt schließlich:

(a) sowohl ideologisch, aber dennoch oder gerade deshalb nicht exklusivistisch

(b) als auch pragmatisch, aber dennoch oder gerade deshalb weder substanzlos noch blutleer.

Christlich-demokratisches Denken ist nach allen Seiten hin nicht offen, sondern anschlussfähig. Diese Anschlussfähigkeit ergibt sich nicht durch das Ausblenden, sondern gerade durch das Beinhalten all dessen, was richtig, wichtig und tauglich ist. So ist christlich-demokratisches Denken prinzipiell fähig zum Anschluss an das Denken jedweder politischen Tradition. Es wird hierdurch in den Bündnis-Parteien oder bei den Koalitionspartnern genau das hervorgehoben, was an ihnen und in ihnen richtig, wichtig und tauglich ist. Dabei handelt es sich um "Wandel durch Annäherung" im besten Sinne.

Fazit dieser Wesensbestimmung:

Christlich-demokratisches Denken ist somit durch und durch katholisch im eigentlichen Wortsinn, da es sich durch ein konsequentes "sowohl als auch" auszeichnet. Es konstituiert damit politisch keine Partei im eigentlichen Sinne (von lat. pars, partis - der Teil), sondern genau genommen eine "Nicht-Partei-Partei". Folglich ist die deutsche Christdemokratie in der "Union" organisiert.

Gefahren für das christlich-demokratische Denken und Handeln: 

Die Skylla und Charybdis, durch die sich christlich-demokratisches Denken und Handeln begeben müssen, sind

(a) Profillosigkeit durch Synthetisierung, sowie

(b) Überprofilierung durch Partikularismus.

Im Falle der Synthetisierung wird das kennzeichnende "sowohl als auch" zugunsten einer Vermischung von Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus missachtet. Anstelle eines Denkens, das sowohl konservativ als auch liberal als auch sozialistisch ist, steht ein "liberalkonservatives", "sozialliberales" oder gar "sozialkonservatives" Amalgam, das eine klare Positionierung verwischt. Sinnbildlich dafür kann eine Parteifarbe stehen, die eine Mischung aus zwei anderen Parteifarben darstellt.

Im Falle des Partikularismus wird das kennzeichnende "sowohl als auch" nicht zugunsten einer Vermischung, sondern zugunsten ihres Gegenteils: der scharfen Trennung zwischen Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus missachtet. Anstelle eines Denkens, das sowohl konservativ als auch liberal als auch sozialistisch ist, steht eine durchdringende Zerlegung in verschiedene Flügel anhand bestimmter Politikbereiche: So beispielsweise die Trennung in einen gesellschaftskonservativen, einen wirtschaftsliberalen sowie einen sozialstaatlichen Flügel. In der Folge dann auch die Dominanz eines einzigen dieser Flügel entweder aus sich heraus oder durch Verschwinden eines oder gar der beiden anderen Flügel. Dies beschneidet christlich-demokratisches Denken und Handeln empfindlich. Erschwerend kommt freilich hinzu, dass hierbei gerade die Synthetisierung als attraktiver Ausweg aus dem Partikularismus erscheint.

Gerade in Deutschland besteht zudem die natürliche Tendenz, christlich-demokratisches Denken und Handeln einseitig einer "konservativen Partei" zuzuordnen, da die Nischen für eine "liberale Partei" wie auch für eine "sozialistische Partei" bereits besetzt scheinen. Neben der Versuchung, die sich aus dem christlich-demokratischen Denken und Handeln selbst ergibt, spielt hier auch die Erwartung von außen eine große Rolle. Dabei gilt zu beachten, dass eine christlich-demokratische Partei weder einseitig konservativ noch einseitig liberal noch einseitig sozialistisch ist und christlich-demokratisches Denken und Handeln eine entsprechende Erwartungshaltung nur enttäuschen kann.

 

[*] Dabei entspricht dem Konservatismus tendenziell die Festlegung auf den Monarchismus, dem Liberalismus die Festlegung auf den Konstitutionalismus und dem Sozialismus die Festlegung auf den Demokratismus-Republikanismus.

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