Montag, 26. August 2013

Weltbilder natürlich erklärt

Den heliozentrischen Kosmos zum Proto-Atheismus zu stilisieren ist nichts als fromme Legende. Auch im Heliozentrismus bewegen sich die Körper (zunächst) nicht selbst, sondern die Sphären; die Differenz zum Geozentrismus besteht lediglich in der Anordnung der Sphären. Erst mit der Einführung des Äthers bewegen sich dann die Körper selbst.

Aber die heliozentrische Wende lässt sich ja durchaus auch sozialgeschichtlich erklären:

Im sphärischen Kosmos ist das Zentrum der denkbar ungünstigste (und undankbarste) Platz: Hier herrschen Notwendigkeit und Zwang als Gesetzmäßigkeit, und wer im Zentrum steht, der ist dieser Gesetzmäßigkeit unterworfen und zeigt sich somit als höchst ohnmächtig. Je weiter man nach außen gelangt, desto weniger Notwendigkeit und Zwang herrschen, desto vollkommener ist die Sphäre und damit die in ihr vorhandenen Körper. Folgerichtig befindet sich am äußersten Rand dieses Weltbildes diejenige Wirklichkeit, die vollkommen ist, "Gott" als die von allen Bedingungen, Notwendigkeiten und Zwängen freie Instanz, damit auch das in seiner Handlungsmöglichkeit Unbeschränkte.

Der Geozentrismus reflektiert hier durchaus die materiellen Zwänge und Nöte, in denen sich die Menschen jahrhundertelang befanden: ein mühseliges Leben, gezeichnet von Notwendigkeit und Ohnmacht. In der frühen Neuzeit, mit dem Aufkommen der großen technischen Neuerungen (Buchdruck mit beweglichen Lettern, Schießpulver, Neuerungen in der Landwirtschaft, Urbanisierung), wurde der Mensch jenen Zwängen und Nöten enthoben, seine Vollkommenheit stieg an (hinsichtlich Bildung, Wohlstand, Macht). Folgerichtig wanderte er damit auch im Weltbild vom Zentrum (Notwendigkeit) in Richtung Peripherie (Freiheit), von der äußersten Unvollkommenheit in Richtung Perfektion. Das heliozentrische Weltbild hat also alte Vorstellungen in die neue Zeit gerettet. Es kann somit als eine Verteidigung der alten mythischen Vorstellungen gegenüber den neuen Fakten gelesen werden.

Die Einführung des physikalischen Äthers reflektiert nun den Aufstieg der modernen Ökonomie (vgl. die marxistische Kapitalismus-Lehre): Man denke nur an den Erfolg des britischen Weltreichs, der in erster Linie nicht auf der Kontrolle von großen Landmassen wie bei vergangenen Imperien beruht, sondern auf der Kontrolle über die wirtschaftlichen Lebensadern, über Finanz- und Güterströme. In der Kosmologie entspricht dieser Wandel dem Wechsel von materiell festen Sphären hin zu einer Art feinstofflichem Medium, das sich nicht selbst bewegt, sondern die Bewegung erst möglich macht und in dessen Vorhandensein sich die Körper bewegen. Der unbewegte Beweger aus dem alten Empyräum wird damit zur Grundlage des gesamten Kosmos.

Die postmoderne Welt spiegelt sich nun im Gegenüber von Relativitätstheorie und Quantenmechanik wider: Die Welt, die längst nicht mehr heliozentrisch ist (es gibt ja viele Sonnen), trägt in sich den Gegensatz von Sein und Nichts, und das Ding an sich (Sein) gibt es nur in Gegenüber zum Ding für sich (Nichts), das durch Beobachtung gleichsam festlegt, was es nicht ist. Postkapitalismus, Atomisierung der Gesellschaft, und die Katastrophe des 20. Jahrhunderts finden sich darin ebenso wieder wie der Wohlstand von Wirtschaftswunderzeiten, der jedem die Selbstverwirklichung ermöglicht. Der unbewegte Beweger, vormals im Empyräum, dann zur Grundlage des gesamten Kosmos geworden, verschmilzt hier quasi mit der Bewegung selbst. Der alte Mythos ist gerettet und an die neue Zeit angepasst.

Man sieht also: Kosmologien und Weltbilder lassen sich auf natürliche Weise als Konstruktionen des Menschen, als Auswirkungen des menschlichen Seins auf dessen Bewusstsein erklären. Der Mensch erfindet sich eben Mythen und Geschichten, um zu erklären, was er verstehen will. 

Oder?

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