Sonntag, 11. August 2013

Moral ist ein menschengemachtes Konzept

Moral ist ein Produkt des Essens der Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Der Mensch hat sich diese Frucht genommen, um seine eigenwilligen Ziele zu verfolgen, und wurde deswegen aus dem Paradies vertrieben.
Vor dem Essen der Frucht lebte der Mensch nicht in Unkenntnis, denn er wusste, dass das Essen der Frucht verboten war. Man mag durchaus stichhaltig ins Feld führen, dass der Mensch nicht wissen konnte, ob das Essen der Frucht intrinsisch gut oder böse war. Der Mensch kannte jedoch definitiv die Konsequenzen des Essens der Frucht: "sobald du davon isst, wirst du sterben" (Gen 2,17 - Anm.: Soviel zum Funktionieren konsequentialistischer Ansätze). Hätte der Mensch keinerlei Kenntnis gehabt, so hätte es für die Schlange keinerlei Notwendigkeit gegeben, den Menschen zu überreden.

Vor dem Essen der Frucht lebte der Mensch in einem harmonischen Naturzustand, innerhalb einer neutralen Balance, d.h. einer ausgeglichenen Gesamtheit. Nietzscheanisch gesprochen: Im Paradies lebte der Mensch jenseits von Gut und Böse, jenseits der Moral. Mit dem Essen der Frucht hat er sich aus dieser Harmonie entfernt. Das selbständige Erkennen von Gut und Böse setzt deren Unterscheidung voraus. Unterscheidung bedeutet die Feststellung eines Mangels: Das Annehmen von etwas, das nicht ist. Anders: Verneinung von Fülle.
Mit dem Essen der Frucht hat sich der Mensch für den Mangel und gegen die Fülle entschieden. Damit hat er den harmonischen Naturzustand verlassen, die Balance wurde zum Ungleichgewicht.

Mit der Entscheidung für den Mangel hat der Mensch auch den Mangel an sich und in sich festgestellt (und das durchaus wörtlich: fest gestellt): Seine Nacktheit. Der Feigenschurz, den sich der Mensch um die Scham gelegt hat, ist sein eigenes, selbstgebasteltes Moralsystem.
Der Herr hingegen hat wiefolgt reagiert:
Erstens hat er dem Menschen die Frucht vom Baum der Erkenntnis belassen. Das bedeutet einerseits einen Verzicht: Die Frucht ist wesentlich Diebesgut, und doch sagt der Herr "Seht, der Mensch ist geworden wie wir" (Gen 3,22) - er akzeptiert den Menschen auf Augenhöhe, lässt ihm mit der Frucht also auch seinen eigenen Willen. Andererseits ist dieser Verzicht des Herrn gleichzeitig Strafe: "Dass er jetzt nicht die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt!" (Gen 3,22) - indem der Herr dem Menschen seinen Willen und damit die Frucht lässt, lässt er ihm auch den Mangel.
Zweitens hat der Herr dem Menschen Röcke aus Fellen gemacht und ihn damit bekleidet. Er hat den Nacktheits-Schutz des Menschen aufgegriffen und in etwas Dauerhafteres und Robusteres umgewandelt: Ein Fell verträgt mehr als zusammengeheftete Blätter, es schützt besser gegen die Witterung, es hält besser warm und es ist langlebiger im Gebrauch. Besonders interessantes Detail: Ein Fell setzt den Tod eines Tieres voraus. Während der Mensch zur Herstellung seiner Kleidung Dinge aus seiner vegetativen, reaktiven Umwelt genommen hat (Pflanzenblätter), war der Herr bereit, ganze Lebewesen, animalisch und aktiv, aus dem, was ihm gehört, hinzugeben, damit der Mensch nicht nackt ist (vgl. Gal 3,27). Der Herr hat also das selbstgebastelte Moralsystem des Menschen, das dieser auf vegetative und reaktive Basis gestellt hatte, in ein Moralsystem auf animalischer und aktiver Basis überführt.
So hat der Herr dem Menschen die Frucht, seinen Willen und den Mangel überlassen, das alles aber zugleich in eine neue Fülle gewandelt. Der Herr hat gewissermaßen durch seinen Verzicht den Mangel so weit ausgedehnt, dass er zur neuen Fülle wurde (was zugleich die Begründung der negativen Theologie darstellt).

Am Ende steht die Verheißung, auf die der Mensch trotz - oder wegen - der so erfolgten Vertreibung aus dem Paradies hoffen darf: Erneuerung des harmonischen Naturzustandes. Essentiell: Rückkehr zur ausgeglichenen Gesamtheit. Nietzscheanisch gesprochen richtet sich diese Hoffnung auf ein Ziel jenseits von Gut und Böse.

Ein Schwenk zum Kontrast zwischen Dominikanern und Franziskanern hinsichtlich der Frage nach Voluntarismus und Intellektualismus, zum Verhältnis also zwischen Wille und Vernunft, um das zu erhellen:
Im harmonischen Naturzustand ist der Wille. Dieser steht jenseits von Gut und Böse. Da es sich beim harmonischen Naturzustand um eine ausgeglichene Gesamtheit handelt, braucht der Wille nicht mitgeteilt zu werden, folglich benötigt er eigentlich keine Form. Er kann recht eigentlich in sich ruhen (wie er das im Grunde genommen außerhalb, d.h. auch "vor" der Schöpfung tun kann).
Durch den Sündenfall wurde der Wille verneint, und der Mensch bedarf in Folge dessen seiner Mitteilung. Der Wille muss nach wie vor nicht mitgeteilt werden, er kann nach wie vor recht eigentlich in sich ruhen. Doch der Mensch erhält sowohl vor als auch nach dem Sündenfall Mit-teilung, Anteil am Willen: Namentlich über die Vernunft, die der Mensch als die Form des Willens erkennt. Durch die Vernunft teilt sich der Wille mit, im logos (griechisch für Vernunft) erhalten wir also Zugang zum Willen, und er ist für uns der einzige Weg, den Willen kennenzulernen. Wir erkennen daraus weiterhin: Im harmonischen Naturzustand (und jenseits unserer Verneinung) sind Wille und Vernunft eins. Durch den logos, und nur durch den logos, führt also unser Weg hin zur Überwindung der Verneinung des Willens, hinein in die Harmonie jenseits von Gut und Böse.
Anders gewendet: "Wo Leben ist, da ist auch Wille", und: "der Wille befreit - das ist die wahre Lehre von Wille und Freiheit" (Zitate nicht wörtlich, sondern in Anlehnung). Der logos führt uns zum Willen. Darum ist der logos der wahre Übermensch: voll und ganz Mensch, darüber hinaus aber mehr als das.

Ferner:
Allein das Christentum erlaubt den Gedanken "Gott ist tot" - denn der Kern dieses Glaubens dreht sich um den Tod Gottes.
"Atheismus" kann diesen Gedanken von vorn herein nicht erfassen, da er das Konzept "Gott" nicht kennt.
Andere Glaubensgebäude und Religionen können diesen Gedanken nicht erfassen, da ihnen "tot" als Prädikat zu "Gott" unbekannt ist.
"Agnostizismus" kann diesen Gedanken ebenfalls nicht erfassen, da eine solche "Ist"-Aussage eine Festlegung darstellt, die einem Glaubensbekenntnis gleichkäme und folglich Gewissheit zumindest impliziert - Gewissheit, die der Agnostiker nicht kennt.

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