Sonntag, 27. September 2015

Ist der Nationalismus die "vierte Ideologie"?

Es scheint, dass der Nationalismus neben dem Konservatismus, dem Liberalismus und dem Sozialismus die "vierte Ideologie" darstellt: Moderne Staatlichkeit bedeutet typischerweise Nationalstaatlichkeit, denn der Gedanke der Nation ist die ideelle Grundlage des modernen Staates. Als solche kann der Nationalismus gar als Grundstein der Moderne überhaupt bezeichnet werden. Darum ist der Nationalismus im wahrsten Sinne des Wortes moderne Ideologie.

Des Weiteren haben die modernen Ideologien als Ausdruck der Französischen Revolution einen je eigenen Charakter, der sich aus den revolutionären Grundsätzen erschließt: Der Liberalismus repräsentiert die Freiheit (liberté), der Sozialismus entspricht der Gleichheit (égalité) - und der Nationalismus steht für die Brüderlichkeit (fraternité). Der Konservatismus hingegen lehnt alle drei Begriffe, und damit die Parole insgesamt, ab. Somit ergeben sich aus der revolutionären Perspektive vier Ideologien: Liberalismus, Sozialismus und Nationalismus, sowie als deren Verneinung Konservatismus.

Außerdem lassen sich den Ideologien jeweils auch Staats- bzw. Regierungsformen zuordnen: Der Konservatismus, weil er der Revolution (Umwälzung) die Ordnung entgegenstellt, verlangt nach der Monarchie. Der Liberalismus, weil er die Freiheit der Menschen im Zentrum hat, fordert den Konstitutionalismus, und kann damit im Prinzip durchaus auch einen durch Verfassung und Gesetz gezähmten Monarchen dulden. Der Sozialismus andererseits, weil er die Gleichheit propagiert, braucht notwendig die demokratische Regierung und kann den Monarchen dulden insofern seine Regierung demokratisch legitimiert ist. Der Nationalismus schließlich, als Ausdruck der Brüderlichkeit, bedarf der Republik: Die Revolution als Verschwörung der Brüder vollzieht den Vatermord, und so kann der Nationalismus den Landesvater, d.h. den Monarchen nicht dulden. Daraus ergeben sich je zwei Staats- und zwei Regierungsformen: Konservatismus mit Monarchie und Nationalismus mit Republik als Staatsformen, sowie Liberalismus mit Konstitutionalismus und Sozialismus mit Demokratie als Regierungsformen. Während die Regierungsformen jeweils untereinander und auch mit je einer der beiden Staatsformen kompatibel sein können, schließen sich die beiden Staatsformen gegenseitig aus: Das etabliert den Nationalismus als ideologischen Gegenentwurf zum Konservatismus. Da der Konservatismus unstrittig als Ideologie zählt, gilt dies per Implikation auch für den Nationalismus.

Ferner gibt es im Nachkriegsdeutschland vier Sammlungsbewegungen: Die Christdemokratie, die Sozialdemokratie, die Freidemokratie und die Nationaldemokratie. Die Christdemokratie stellt dabei die Sammlungsbewegung des Konservatismus dar, die Sozialdemokratie gehört zum Sozialismus, und die Freidemokratie steht für den Liberalismus. Dies entspricht den drei allgemein unstrittigen Ideologien. Die Nationaldemokratie als vierte Sammlungsbewegung vertritt den Nationalismus: Das macht den Nationalismus per Induktionsschluss zur "vierten Ideologie".

Aber dagegen spricht die Feststellung des Soziologen Ernest Gellner: "Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt" (Nationalismus und Moderne, Hamburg 1995, S. 87).
Der Konservatismus ist die Ideologie des Adels, der Oberschicht und der herrschenden Klassen. Er ist von ihnen hervorgebracht worden, um die eigenen Besitzstände zu wahren. Der Liberalismus ist die Ideologie des Bürgertums, der Mittelschicht und der wirtschaftenden Klassen. Er ist von ihnen hervorgebracht worden, um die eigenen Besitzstände zu mehren. Der Sozialismus ist die Ideologie des Proletariats, der Unterschicht und der arbeitenden Klassen. Er ist von ihnen hervorgebracht worden, um eigene Besitzstände zu erzeugen. Der Nationalismus, weil und insofern er seine gesellschaftliche Grundlage überhaupt erst hervorbringt, kann damit zumindest nicht auf dieselbe Art Ideologie sein wie die anderen drei, sondern - wenn überhaupt - dann nur in einem analogen Sinne.

Ich antworte, dass der Nationalismus ideologisch gesehen immer nur als Zusammensetzung greifbar ist: in seinen einfachsten Formen als Nationalkonservatismus, als Nationalliberalismus und als Nationalsozialismus. Das stellt ihn immer in Abhängigkeit zu den drei unstrittigen Ideologien, er ist ihnen nachgeordnet. Deshalb ist der Nationalismus keine eigene Ideologie, sondern viel mehr ein ideologisches Epiphänomen.
Weitergehend ist der Nationalismus historisch betrachtet ein Konstrukt mindestens einer dieser drei Ideologien. Dies ist er zum Zwecke innerstaatlichen Ausgleichs von Interessen und Ansprüchen. Er ist damit viel mehr ideologisch bedingtes Instrument zum Schließen gesellschaftlicher und politischer Lücken und Differenzen denn eigenständiges ideologisches Phänomen: Je nach Ausprägung wird er konservativ, liberal oder sozialistisch eingesetzt und verwendet, um Besitzstände zu wahren, zu mehren oder zu erzeugen. So bedarf der Nationalismus am Ende auch immer einer Vermittlung, d.h. vor allem einer inhaltlichen Konkretisierung durch diese drei Ideologien.
In der deutschen Geschichte der Moderne z.B. lassen sich typisierend drei Phasen des Nationalismus ausmachen: Zunächst als direkte Reaktion auf die Französische Revolution die Epoche des Nationalliberalismus, die ihren organisierten Höhepunkt in der Revolution von 1848/49 fand. Mit dem Ausscheiden Österreichs aus einem gesamtdeutschen Gebilde sowie der Gründung des preußisch geprägten kleindeutschen Bundesstaates 1866/71 nahm diese Phase ihr Ende. Dies wiederum läutete die Epoche des Nationalkonservatismus ein, in der sich vor allem die preußischen und obrigkeitsstaatlichen Eliten - verkörpert durch Otto von Bismarck - des Nationalismus bedienten. Ihren Höhepunkt fand diese Phase in der Regierungszeit Kaiser Wilhelm des Zweiten; hier wurde nicht nur die preußische Dominanz über alle anderen Teilstaaten und Staatsteile zementiert, sondern in diesem Zuge auch der gesamte Reichsverband zentralisiert und technokratisiert (Einführung des BGB 1900, direkte Reichssteuern sowie Diäten für Reichstagsabgeordnete ab 1906). Der erste Weltkrieg läutete das Ende dieser Phase ein und brachte schließlich den langsamen Übergang zur Epoche des Nationalsozialismus. Deren Höhe- und Endpunkt gleichermaßen war der zweite Weltkrieg, in Folge dessen der deutsche Nationalismus wieder von einer einheitlichen Staatlichkeit abgekoppelt und in je einer konservativen (Deutsche Partei; NPD bis ca. 1990; Republikaner), liberalen (FDP bis Mitte der 1960er Jahre und danach Strömungen um von Stahl) und sozialistischen (SPD unter Schumacher/Ollenhauer; SRP, DRP; DVU; NDPD in der DDR) Interpretation in der Parteienlandschaft repräsentiert wurde. Dieser Sachverhalt hat sich auch durch die deutsche Wiedervereinigung nicht geändert (konservativ: AfD um Gauland; Republikaner - liberal: "Stresemann Club" in der FDP; AfD und "Alfa" um Lucke - sozialistisch: NPD ab ca. 1990; Kleinparteien wie DSU, DP und bis zur Auflösung 2011 DVU).

Zum ersten: Nationalstaatlichkeit kann zur modernen Staatlichkeit gehören - sie muss es aber nicht zwangsweise. Ein bedeutendes Beispiel dafür ist die Indische Union, die als moderner Staat mehrere Nationen in sich beherbergt, ebenso wie Kanada und historisch betrachtet die Sowjetunion. Ein anderes Beispiel wären die beiden deutschen Staaten von 1945 bis 1990; diese stellten zwei unterschiedliche Staaten einer einzigen Nation dar. Auf dieselbe Weise lässt sich auch das Verhältnis der beiden Koreas zueinander sowie zwischen der VR China und der Republik China (Taiwan) begreifen.
Außerdem gehört Souveränität ebenso zur modernen Staatlichkeit, und das in weitaus größerem Maße als Nationalstaatlichkeit - ein "Souveränismus" als eigenständige Ideologie wird jedoch nirgends propagiert. Am nächsten kommt diesem Gedanken das Prinzip der staatlichen Autarkie, dem als Autarkismus zwar ideologische Züge bescheinigt werden können, das andererseits aber auch nurmehr ein Epiphänomen anderer ideeller Faktoren darstellt. Dasselbe gilt auch für die Bürokratie, die zweifellos zur modernen Staatlichkeit gehört, ohne dass nun ein Bürokratismus als eigenständige Ideologie mit Gleichrangigkeit zu Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus behauptet würde.

Zum zweiten: Nicht der Konservatismus lehnt die drei Grundsätze "Freiheit , Gleichheit, Brüderlichkeit" ab, sondern die Reaktion stellt die Negation der Revolution dar; sie ist es auch, die mit der modernen Umwälzung gleichsam den modernen Staat verneint. Der Konservatismus andererseits steht eng mit dem modernen Staat verknüpft, sowohl was die strukturkonservative Überführung der vormodernen Ordnungkonfiguration in den modernen Staat (z.B. konstitutionelle Monarchie) als auch was das wertkonservative Setzen einer staatlichen Ordnung insgesamt (z.B. Staatsziele) angeht. Gerade vom letzten Aspekt her kann man eher den Konservatismus, und nicht den Nationalismus, als Verkörperung der Brüderlichkeit sehen, da hierbei alle Staatsbürger gleichermaßen auf einen als überzeitlich gültig behaupteten Wertekanon verpflichtet werden.
Dazu kommt, dass die Ideologien nicht einseitig für einen Begriff der revolutionären Parole stehen, sondern das Dreigestirn insgesamt in sich aufnehmen und auslegen. So kennt der Liberalismus z.B. die Gleichheit als Isonomie (Rechtsgleichheit), während der Sozialismus vornehmlich mit dem positiven Freiheitsbegriff ("Freiheit zu ...") operiert. Aus der revolutionären Perspektive lassen sich darum Ideologien nur in analogem Sinne ableiten.

Zum dritten: Der Nationalismus verlangt nicht notwendigerweise auch die Republik. Bedeutende historische Beispiele wären die französische Verfassung von 1791 und die "Paulskirchenverfassung" von 1849, die beide einen Monarchen an die Spitze des Nationalstaates stellen - dies auch und gerade nach der Revolution, namentlich als deren Produkt. Im Deutschen Kaiserreich wurde gar der Monarch selbst zum nationalen Symbol, und in der Weimarer Republik standen gerade die nationalen Kräfte für die Rückkehr zur Monarchie. Somit ist der Nationalismus kein Gegenentwurf zum Konservatimus, damit auch nicht per Implikation gleichrangig mit diesem.

Zum vierten: Die Christdemokratie ist weder konservative Bewegung noch politische Emanation des Konservatismus; sie ist immer auch Gegenbewegung zum organisierten Konservatismus. Es gibt zwar ein bedeutendes konservatives Element in der Christdemokratie, und Christdemokraten teilen mit den Konservativen den Anspruch, aus dem zu schöpfen, was über die Zeit hinaus Gültigkeit besitzt, doch lässt sich Christdemokratie nicht auf den/einen Konservatismus reduzieren, da ihr immer auch sowohl ein bedeutendes liberales Element als auch ein bedeutendes sozialistisches Element innewohnt. So fällt der erste Baustein des Induktionsschlusses weg.
Ferner tragen Christdemokratie, Sozialdemokratie und Freidemokratie immer auch einen universalen, will sagen über- und vor-staatlichen Anspruch in sich, insofern sie die Person, den Arbeiter oder den Bürger (sowohl Bourgeois als auch Citoyen) ins Zentrum ihrer Perspektive stellen. Dem gegenüber steht die Nationaldemokratie mit einem partikulären Anspruch, der notwendig staatszentriert ist: Es kann immer nur um die konkret vorliegende und vertretene Nation gehen, nie um die Nationen als abstraktes Konzept, denn der Geschlossenheit und dem egalitären Moment der Nation nach innen steht eine Abgrenzung und Hierarchisierung nach außen, in Richtung der anderen Nationen, gegenüber. Somit ist der Status der Nationaldemokratie als Sammlungsbewegung in dem Sinne wie Christ-, Sozial- oder Freidemokratie Sammlungsbewegungen sind zweifelhaft. Ein zweiter Baustein des Induktionsschlusses fällt damit weg.
Schließlich stellt sich die Frage, ob die Nationaldemokratie als solche überhaupt ein eigenständiges Phänomen darstellt: Zunächst gibt es historisch betrachtet drei unterschiedliche und zu einem gewissen Grad voneinander unabhängige Bedeutungsebenen der "Nationaldemokratie". Zum ersten ist es die ganz allgemeine Verbindung von nationalen und demokratischen Bestrebungen, die den politischen Willen zum modernen Staat ausdrückt. In der deutschen Geschichte finden sich dazu zwei große Beispiele: Erstens die bereits als Höhepunkt der nationalliberalen Epoche angesprochene Revolution von 1848/49; zweitens die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1989/90. Beide Ereignisse wie auch deren Zusammenhänge lassen sich als "nationaldemokratisch" bezeichnen, ohne damit eine spezielle politische Sammlungsbewegung zu meinen. Zum zweiten kann das Wort die staatlichen Ordnungen und Strukturen des realexistierenden Sozialismus bezeichnen insofern es synonym zum Ausdruck "Volksdemokratie" verwendet wird. Dies ist vor allem bei Übersetzungen aus den slawischen Sprachen ins Deutsche der Fall, da hier nicht zwischen "Volk" und "Nation" unterschieden, sondern beides mit demselben Wortstamm (narod bzw. ein Derivat) bezeichnet wird. Zum dritten steht schließlich die konkrete politische Organisation der deutschen NPD. Diese ist jedoch kein eigenständiger Zweig im parteipolitischen Gefüge, geschweige denn Ausdruck einer eigenständigen Sammlungsbewegung, sondern lieferte immer schon spezielle ideologisch geprägte Auslegungen des Nationalismus: Zunächst als nationalkonservatives Auffangbecken für enttäuschte Mitglieder der DP, SRP/DRP und aus den Reihen von Union und FDP; ab den späten 1980er Jahren und vor allem seit Beginn des 21. Jahrhunderts dann als Partei des nationalen Sozialismus mit Querfrontbestrebungen. Sofern es sich bei der nationaldemokratischen Partei um den parteipolitischen Arm einer ideologischen Sammlungsbewegung handeln sollte, wäre sie viel eher Ausdruck eines Konservatismus bzw. Sozialismus, der sich selbst einen nationalen Rahmen setzt. Damit fällt auch der dritte und letzte Baustein des Induktionsschlusses.

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