Dienstag, 6. Oktober 2015

Kulturbedeutung und Fluchtproblematik

Es stimmt zweifellos, dass im Nahen und Mittleren Osten ein immenses gesellschaftliches Ungleichgewicht besteht, bei dem absoluter Reichtum (mitunter höher als bei uns) direkt an nackte Armut grenzt - in Europa ist der Wohlstand insofern gleichmäßiger verteilt, was darauf schließen lässt, dass mehr Menschen an den zugehörigen Prozessen teilhaben. Und hier kommt die Kulturbedeutung der Religion ins Spiel:

Es scheint klar, dass die Region (aus unserer "westlichen" Sichtweise) mittel- bis langfristig eine ökonomische Perspektive braucht, die der unseren zumindest ähnlich ist. Die Frage ist dabei eben, wie das passieren soll und wie "wir" daran mitwirken können. Dass "wir" politisch, wirtschaftlich und zu einem gewissen Grad auch gesellschaftlich eingreifen können, setze ich voraus, ebenso den Anspruch, dass "wir" das tun sollten.

Wirtschaftliches Eingreifen alleine hilft nicht, denn das ändert aus sich heraus nichts an den Strukturen und Mechanismen: Von den Deals profitieren grundsätzlich die, die ohnehin schon alles haben - denn mit denen werden die Deals ja geschlossen. Politisches Eingreifen erreicht ebenfalls nur eine kleine Elite: die Regierungsebene. Und militärisches Eingreifen, hier ausnahmsweise verstanden als "die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", trägt immer den Beigeschmack von imperialer Eroberung in sich. Damit kann man zwar bestehende Strukturen zerschlagen, doch nicht dauerhaft und stabil neue Strukturen erzeugen. Soweit scheint Einigkeit zu bestehen.

Es ist darum nicht der Wohlstand, der an prominenter Stelle der Handlungskette stehen kann, sondern er kann nur als ein Ziel gelten, das zur Verbesserung der Lage in dieser Region angestrebt wird. Es ist nicht die Kette ökonomische Perspektive ->Wohlstand -> Bildung, sondern vielmehr die Kette gesellschaftliches Eingreifen -> Strukturwandel -> ökonomische Perspektive.

Der Punkt, an dem angesetzt werden muss, ist letztlich auch die Bildung. Das jedoch nicht im Sinne von einseitiger Pontifikation über die Segnungen der sozialen Marktwirtschaft o.ä., sondern im echten Dialog, der dadurch notwendig beide Seiten verändert: Es muss, um es mal plakativ zu sagen, um die Schaffung einer spezifisch islamischen Soziallehre gehen, um eine spezifisch islamische Antwort auf die "soziale Frage", analog zur katholischen Soziallehre und der protestantischen Sozialethik wie sie sich im 19. bzw. 20. Jahrhundert in Europa herausgebildet haben. Dafür müssen jedoch mehrere Voraussetzungen erfüllt sein:

  • Die Frage nach der Kultur muss ihren Absolutheitsanspruch verlieren.-- Das betrifft vor allem auch die Kulturchauvinisten in unseren Breitengraden: Kultur ist relativ, historisch bedingt, kontingent. Sie stellt lediglich den Bild-, Sprach- und Zeichenkanon bereit für das, was jenseits von ihr liegt. Es kann darum streng genommen auch keinen "Kampf der Kulturen" geben, sondern lediglich in jeder Kultur einen Kampf zwischen Ethik/Moral und Un-Ethik/Unmoral. "Das Christentum" oder "der Islam" sind keine Kultur. Und so wie es ein arabisches oder asiatisches Christentum gibt, gibt es auch einen europäischen oder indischen Islam. Andererseits sind sich auch Araber, Perser und Osmanen nicht immer und automatisch grün. (Vgl. hierzu beispielhaft die kulturellen Differenzen zwischen dem Islam in Pakistan und dem in Bangladesch, ehemals West- und Ostpakistan.) 
  • Das Paradigma der Marktwirtschaft als Macht- und Klassenkampf muss seine Deutungshoheit verlieren.-- So lange das bevorzugte Deutungsschema einen reichen Westen und einen armen ausgebeuteten Rest der Welt gegeneinander stellt, wird eine grundsätzlich konfrontative Sichtweise perpetuiert, die umso problematischer wird, je stärker sie sich zusätzlich an kulturellen Unterschieden ausrichtet. Das nimmt auch und v.a. die hiesigen Unternehmen und Konzerne in die Pflicht, der Wirtschaftsethik einen größeren Raum im eigenen ökonomischen Handeln zu geben. Anstatt das Arbeitsverhältnis primär als Interessenkampf zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu sehen, muss das gemeinsame Interesse von AG und AN, einem Dritten mit dem produzierten Gut zu helfen, im Vordergrund stehen. 
  • Der Säkularstaat darf keine Kampfansage an die Religion sein.-- Es ist eine Besonderheit des französischen Säkularstaates, in Form des institutionalisierten Laizismus das Modell für die Beziehung zwischen Staat und Religion vorzugeben, obwohl es recht eigentlich gar nicht typisch für Säkularstaaten ist, sondern eher die Ausnahme (denn Säkularisierung ist ursprünglich ein religiöses Konzept). Mustafa Kemal hat jedoch genau dieses kompetitive Verständnis in die Wiege der modernen Türkei gelegt, und damit gewissermaßen den Ton gesetzt, indem Säkularisierung in der islamischen Welt einseitig als anti-islamisch angesehen wird. Verstärkt wird das natürlich durch die arabischen und persischen Gegenentwürfe, die dem türkischen Laizismus einen genuin islamischen Klerikalismus entgegenstellen, und damit auch wiederum die kulturellen Differenzen betonen. Hier sind "die Politiker" gefragt, gerade in Europa als Gesamtphänomen, einen non-kompetitiven Säkularismus zu präsentieren, in dem sowohl der Staat als auch die Religion sich entfalten können, ohne den jeweils anderen zu bekämpfen.

Am Ende kann dann ein kulturell selbstbewusster, europäisch-westlicher und säkularer Islam stehen, der Kulturbedeutung für einen strukturellen Wandel im Nahen und Mittleren Osten gewinnt.

Um so etwas anzustoßen, brauchen "wir" am Ende nur je vor Ort, bei uns daheim, auf die Leute zuzugehen - auch und gerade im Fall der Flüchtlinge.

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