Sonntag, 12. Juli 2020

Nach Grübeln kommt Enttäuschung

Frei heraus gesprochen bin ich enttäuscht über die theologischen und spirituellen Antworten, die während dieser Pandemie bislang so in die Breite abgegeben wurden bzw. über das weitgehende Fehlen solcher Antworten. Lichtblicke habe ich ganz am Anfang gesehen in der öffentlichen Kommunikation mancher Bistümer und im Verlauf des Ganzen dann in den Aktivitäten von Einzelnen. Ganz besonders enttäuschend empfand und empfinde ich allerdings jene Gruppen, die sich sonst (?) als dezidiert "kirchentreu" geben (wollen), darunter ganz besonders die "Traditionalisten". Es ging (geht) für mein Empfinden zu viel um z.B. kirchenrechtliche Spitzfindigkeiten; so bspw. darüber, wer jetzt konkret unter welcher Jurisdiktion steht und an welche Anweisungen gebunden ist, oder ob die Bischöfe im Verbund dies und jenes jetzt wirklich so kirchenrechtlich eindeutig entscheiden dürfen etc. Kurzum: M.E. sind gerade diejenigen, die in anderen Fällen oft bemängeln, dass die Bischöfe nicht durchgreifen würden, sprichwörtlich auf die Barrikaden gestiegen, eben weil die Bischöfe (inkl. des Bischofs von Rom) hier mal klare Ansagen gegeben haben. Dabei ist das gar nicht einmal das Problem, das ich an dieser Stelle habe, denn schließlich ist die inhärente Teilhabe am Widerspruch (ursprünglich zwischen Sein und Nichts, d.h. zwischen existenzieller Unmittelbarkeit und essentieller Nicht-Kategorisierbarkeit) in der nachhegelianischen Welt ein Gradmesser für die Wirklichkeit, die ein Sachverhalt an sich und in sich besitzt. Was mich an der ganzen Sache wirklich stört, ist die fehlende theologische Tiefe oder oftmals auch das Fehlen überhaupt einer theologischen Perspektive, eine bei allem Schießen gegen die Bischöfe (und damit eigentlich gegen die institutionalisierte Kirche) letzten Endes ausbleibende spirituelle Antwort auf die Pandemie. Anstatt einer durchaus legitimen, und vielleicht auch wirklich notwendigen, anderen Geschmacksrichtung im Katholischen zusätzlich zur offiziell-institutionellen kirchlichen Antwort nehme ich zur Zeit viel mehr ein ausgeprägtes Partisanentum wahr: In der deutschsprachigen Kirche an der groben Ausrichtung für/wider den synodalen Weg - ganz so, als hätten die Bischöfe jegliche Autorität verspielt, weil sie auch hier ihre eigene Autorität in die Waagschale legen und sich dabei gar "dem Staat unterwerfen". Im anglo-amerikanischen Umfeld an der groben Ausrichtung für/gegen Trump - ganz so, als wäre die Entscheidung zu seinen Gunsten alternativlos, weil er mit dem Thema Abtreibung nun das eine Wahlkampfthema gefunden hat, mit dem er die "religiöse Rechte" füttern und ruhig stellen kann, weswegen sich da die Kirche gewissermaßen ruhig mal "dem Staat unterwerfen" könne oder solle. Und so verläuft mitten durch die Kirche ein Riss zwischen den Extrempunkten new left und alt right, hüben wie drüben in den jeweils kulturspezifischen Ausprägungen, allerdings mit ähnlichen Bezügen auf Karl Marx (new left) und C.G. Jung (alt right). Das wiederum nicht notwendig explizit oder formal, sondern durchaus implizit und inhaltlich, insofern grundlegend alles auf sozio-ökonomische Umstände (sprich: institutionalisierte Macht und Gewalt) oder psychologische Dispositionen (sprich: bewusste und unbewusste Archetypen) reduziert wird bzw. werden soll. Und hier setzt sich wohl auch innerhalb der Kirche ein Narrativ des othering durch, demnach stets die anderen Probleme nicht mehr nur haben oder machen, sondern mehr und mehr das Problem sind.

Was mich dabei richtig gehend ärgert, sind Plattitüden wie 

"Jesus is our only medicine / cure / vaccine / remedy / ..."

In den letzten Monaten kam ich des öfteren und an mehreren Stellen in den zweifelhaften Genuss, so etwas zu lesen, und es wurde nur allzu gerne gegen die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung in Stellung gebracht. Dabei vermengt so eine Aussage zwei Ebenen, die zwar zusammengehören, aber doch nicht identisch sind, und es wird eine absolut korrekte Wahrheit - es hängt alles am einziggeborenen Sohn - falsch kontextualisiert und damit in mindestens zwei Richtungen fatal verdreht: Zum einen führt so eine Aussage in Richtung Doketismus, insofern die Körperlichkeit zu unterschlagen werden droht, während alles auf das (auf irgendeine ätherische Geistigkeit verkleinerte) Seelenheil reduziert wird. Zum anderen, und viel mehr, sehe ich darin aber auch ein Äquivalent zu Mt 4,5-7. Soll heißen: ein auf-die-Probe-Stellen Gottes, insofern hier direkte übernatürliche (göttliche) Wunderheilung von einer Krankheit erwartet wird, gegen die es natürliche (weltliche) Heilmethoden gibt, vermittels derer Christus selbst als Arzt wirkt. Auf der Grundlage eines im Ursprung absolut richtigen Impulses (nämlich alles von Gott zu erbitten) wird dabei am Ende der inkarnierte Logos auseinandergerissen, weil theologisch letztlich seine menschliche Natur unterschlagen wird. 

Ähnlich ärgert mich auch der Ausspruch 

"health is not the supreme good"

Den musste ich in den letzten Monaten ebenfalls öfters lesen, und er wurde ebenso gegen die Maßnahmen gerichtet. Abgesehen vom beißenden Zynismus, der (vornehmlich rhetorisch) entsteht, wenn man so einen Satz im Angesicht einer echten pandemischen Bedrohung raushaut, läuft auch dies am Ende auf ein Auseinanderreißen des Logos hinaus. Mehr noch als dies sehe ich aber in der aktuellen Situation vor allem eine kirchen- und damit christusfeindliche Einstellung in die Kirche selbst hineingetragen. Denn einerseits ist auch dieser Ausspruch absolut richtig, insofern er sich rein auf die körperliche Gesundheit im engeren Sinne bezieht, was am Ende auch die Gesundheit der materiell erforschbaren Psyche betrifft und in Kontrast steht zu "Gesundheit" im weiteren Sinne von körperlichem und seelischem Heil. Andererseits bezieht sich dieser Ausspruch an sich allerdings eher auf Abwägungen in Situationen, die eine Entscheidung zwischen verschiedenen Gütern fordern, weil derjenige, der für die Gestaltung der Umstände sorgt, so eine Entscheidung erzwingen möchte. Soll heißen: Angesichts von bspw. Verfolgung, Folter oder gar Mord aus religiösen Gründen - also unter solchen Umständen, die willentlich und vorsätzlich einen Widerspruch zwischen körperlicher Gesundheit und Seelenheil herbeiführen - hat dieser Ausspruch seine Berechtigung für das Opfer in so einer Situation, weil hier auf die übernatürliche Hoffnung verwiesen wird, aus der heraus der Christ lebt. In der jetzigen Situation stehen körperliche Gesundheit und Seelenheil jedoch nicht im Widerspruch zueinander - hier wird dieser Widerspruch willentlich und vorsätzlich von Strömungen innerhalb der Kirche künstlich erzeugt.

Um es nach eingehender, d.h. nach innen horchender, meditativer Prüfung meiner Motive und Gründe klar zu sagen: Ich ärgere mich hier keineswegs über die Leute, die solche Sätze loslassen. Das sind Menschen mit eigenen Sorgen und eigenen Nöten, eigenen Werturteilen und eigenen Gründen, eigenen Zugängen zu dieser Wirklichkeit - und diese Sorgen und Nöte, Werturteile und Gründe sowie Zugänge zur Wirklichkeit sind ernst zu nehmen und bedürfen auch einer spirituellen Antwort, die ich seitens der offiziösen Institutionen für eher dürftig halte, sofern sie überhaupt jenseits von eher allgemeinen Durchhalteparolen vorhanden sind. 

Ich ärgere mich über eine fehlerhafte Theologie - über ein fehler-behaftetes, mit Irrtümern durchtränktes Reden von Gott. 

Mein Ärger betrifft nicht Fleisch und Blut, er richtet sich nicht auf zusammengesetzte Substanzen aus Form und Materie. Der Ärger betrifft getrennte Substanzen, die nicht aus Form und Materie bestehen, aber gerade dadurch mächtig und gewaltig daherkommen können, dass sie eben ihrer Natur nach nicht an materielle Komponenten gebunden sind. Das ist, glaube ich, der Kern dessen, was mich in dieser Zeit beschäftigt, mit dem ich in dieser pandemischen Nacht wortwörtlich ringe: Dass ich in dieser Theologie einen feindlichen Geist wahrnehme, der sich seinen Weg in die Kirche bahnt oder bahnen möchte, der Zwietracht sät, Enge und Beklemmung herbeiführt. Das ist der spirituelle Kampf, den ich hier wahrnehme, und der mich in Beschlag nimmt, und das sehr viel mehr und gründlicher noch als das Virus, das letzten Endes auch bloß eine Art Aufhänger dafür ist. Denn nicht zuletzt sehe ich mich auch selbst in der Gefahr, anstelle der getrennten Substanzen, anstelle dieser fehlerhaften Theologie, doch die zusammengesetzten Substanzen: Menschen aus Fleisch und Blut ins Visier zu nehmen und damit selbst am othering mitzuwirken.

Der Hebelpunkt, an dem dieser ärgerliche Geist ansetzt, liegt letztlich in einer ganz natürlichen menschlichen Regung, die sich in die religiöse Grammatik als Bedürfnis nach "kultischer Reinheit" transponiert. Das Zentrum hierbei ist wiederum eine natürliche Grund-Intuition des Menschseins, die bei Philippe Ariès in seiner "Geschichte des Todes" dergestalt kondensiert ist, dass in der Neuzeit bzw. Moderne "immer nur die anderen sterben". Am Ende ist das die alte epikureische Ansicht, dass dort, wo wir sind, der Tod nicht sei, und dort wo der Tod ist, wir nicht seien. In die gegenwärtige Situation überträgt sich diese Einsicht als "krank und ansteckend sind immer nur die anderen" - womit das o.g. Narrativ des othering im Kern eigentlich auch ein epikureisches Narrativ ist. Das Perfide an dieser aktuellen Pandemie ist nun aber, dass genau diese epikureische Ansicht empirisch nachweisbar schlichtweg nicht stimmt, denn es gibt neben der variablen Inkubationszeit auch asymptomatische Verläufe, so dass wir es mit einer Krankheit zu tun haben, die man vermittels natürlicher zwischenmenschlicher Interaktion weitergibt ohne zu wissen, dass man sie selbst in sich trägt. Gibt es eine treffendere Analogie (Ähnlichkeit bei größerer Unähnlichkeit) zu dem, was theologisch im etwas unglücklich durch Luther geprägten Begriff der Erbsünde gefasst ist? 

Diesen Sachverhalt sehe ich im Kern der gesamten Situation, denn er betrifft die "kultische Reinheit" des Einzelnen direkt, d.h. die Fähigkeit, wahrhaftig am öffentlich vollzogenen Kult, also am gemeinschaftlichen Leben zu partizipieren und dadurch selbständiger Teilhaber dieses Gemeinschaftslebens zu sein. 

Das trifft sich letztlich mit der kontra-intuitiven Bedeutung des MNS als vornehmlicher Fremdschutz: denn das übliche Mittel zur Herstellung dieser kultischen Reinheit besteht religionsgeschichtlich in bestimmten Handlungen, die der Einzelne vollzieht. Und üblicherweise vollzieht der Einzelne diese Handlungen für sich selbst (typischerweise auf den Punkt gebracht im do ut des), insofern er (ein) Opfer darbringt. Der plot twist in der jüdischen Religion, und qua Erweiterung dann auch im Christentum, besteht darin, dass dieses religiöse Opfer gar nicht für einen selbst vollzogen wird, sondern für einen anderen, beispielhaft bei den Propheten verkörpert durch Gerechtigkeit gegenüber Witwen und Waisen, und dann auf die Spitze getrieben durch das Opfer am Kreuz, das vom Schöpfer selbst und für seine Schöpfung dargebracht wird. So sind auch die Sakramente als Nachklang dieses Opfers nichts, das man seit jeher tut, sondern etwas, das man immer erst empfängt

Und so, in Analogie gesprochen, d.h. in Ähnlichkeit bei größerer Unähnlichkeit, hängt die "kultische Reinheit" in dieser Zeit der Pandemie, die Teilhabe am Gemeinschaftsleben, vermittels der ganzen ergriffenen politischen Maßnahmen nicht an Handlungen, die der Einzelne für sich selbst vollzieht, zum selbständigen Herstellen der "kultischen Reinheit", sondern an Handlungen für andere, an Handlungen, die der Einzelne immer nur und immer erst von einem anderen empfangen kann. So sind die Maßnahmen - Abstand, Husten- und Nießhygiene, MNS - ferne Abklänge und Nachklänge, ein wie leise auch immer schallendes Echo des sakramentalen Geschehens, das die Teilnehmer am Gemeinschaftsleben untereinander und füreinander vollziehen und vermittels dessen Christus selbst als Arzt wirkt und handelt. Die Schwierigkeit für den Einzelnen liegt dabei darin, es zulassen zu können, den Eigenschutz zu empfangen und gleichzeitig "nur" den Fremdschutz weiterzugeben, denn genau das läuft den natürlichen Grund-Intuitionen des Menschseins entgegen. 

Hier steht eigentlich die Pastoral in der Pflicht, eine adäquate Antwort zu formulieren, und das meint nicht nur die formell verfasste Pastoral der offiziösen Institutionen, sondern auch die informelle Pastoral der einzelnen Geschmacksrichtungen und Strömungen innerhalb der Kirche. Hierin liegt nämlich, zumindest soweit ich es sehe, die Antwort auf die auch in dieser Zeit aufgeworfene Frage nach der Theodizee - wie kann ein guter Gott zulassen, dass eine Pandemie die Welt so im Griff hat? -, indem nämlich die wesentliche und zentrale Hoffnung kommuniziert wird, aus der heraus und auf die hin ein Christ lebt: 

Das Reich Gottes ist mitten unter euch. 

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