Samstag, 13. Juli 2024

Intersektionalität und Lebensschutz

In über 150 Jahren hat die Frauenbewegung, und mit ihr der Feminismus, vielfältige Geschmacksrichtungen hervorgebracht und sich in verschiedenen Wellen entwickelt. Während sich die erste Welle der Bewegung primär mit der sozio-politischen Gleichberechtigung beschäftigte und die zweite Welle zuvorderst auf die sozio-ökonomische Gleichstellung zielte, hat sich ab der dritten Welle ein besonderes sozio-kulturelles Augenmerk auf unterschiedliche Diskriminierungsformen herausgebildet, die sowohl einzeln als auch miteinander verknüpft auftreten können, sei es durch bloße Gleichzeitigkeit, sei es durch inhaltliche Überschneidungen. Liegt eine derartige Verknüpfung von unterschiedlichen Diskriminierungsformen vor, lässt sich von Intersektionalität sprechen.

Insofern der Feminismus sich gemäß diesem wellenförmigen Fortschritt intersektional ausrichtet, strebt er inhaltlich danach, ethnozentrische Sichtweisen zu überwinden und so auch die spezifisch westlich-koloniale Perspektive früherer Feminismen hinter sich zu lassen. Daraus ergibt sich zugleich eine dezidiert antirassistische Ausrichtung.

Ein solcher progressiver, postkolonialer und antirassistischer, kurz: ein authentischer intersektionaler Feminismus muss sich folglich für die radikale Dekolonisierung des menschlichen Körpers einsetzen.

Das heißt zuvorderst: Progressiver, postkolonialer und antirassistischer Feminismus muss intrauterine Ureinwohner_innen gegen eine

  • kapitalistische,
  • patriarchale,
  • queerfeindliche,
  • europäisch-weiße,
  • ableistische
  • und menschenleugnende

Logik der Verwertung und der Abwertung verteidigen, da sich in all diesen Ansätzen mannigfaltige Formen sozio-kulturell aktuierter Diskriminierung wiederfinden.

Der Themenkomplex Abtreibung steht beispielhaft wie kein zweiter für eine intersektional zugängliche Perspektive: Im Umgang mit den Ungeborenen kreuzen sich verschiedene Macht- und Gewaltstrukturen, die in ihren Interdependenzen und Schnittmengen nicht nur Mehrfachdiskriminierung bedeuten, sondern gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit erzeugen und reproduzieren.

Genau dies muss ein authentischer intersektionaler Feminismus sichtbar machen und bekämpfen.

Abtreibung ist Kapitalismus.

Durch Schwangerschaft und Kindererziehung geht dem ökonomischen Verwertungsprozess Humankapital verloren bzw. dieses muss durch erhöhten Ressourceneinsatz vorrätig gehalten und (re-)aktiviert werden. Die kapitalistische Zweck-Mittel-Rationalität muss demgegenüber jedoch unproduktives Humankapital bedarfsgerecht vermeiden oder zumindest verringern. In diesem Sinne setzt der Kapitalismus bei der trotz aller Unproduktivität grundsätzlich notwendigen Erhaltung von Humankapital an: Der Kapitalismus beginnt bei der Verwertbarmachung von Reproduktion (z.B. durch die Ökonomisierung von Kinderwunschbehandlung oder Leihmutterschaft), und er führt seiner inneren Logik gemäß über die Verwertbarmachung von Aufzucht und Erziehung (z.B. durch die Ökonomisierung von Krippe, Hort und/oder KiTa) bis hin zur Möglichkeit der physischen Vernichtung unproduktiven, d.h. nicht verwertbaren Humankapitals, sofern der entsprechende Ressourceneinsatz zur Erhaltung ökonomisch nicht opportun erscheint. Die physische Vernichtung vollzieht sich innerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik sowohl indirekt (z.B. durch den Einsatz gegen Arbeitsschutz oder anderweitige Sicherheitsregularien) als auch direkt (z.B. durch Kriegsführung der kapitalistischen Strukturen des Staates nach innen wie nach außen).
Folgerichtig hat z.B. der Staatsmonopolkapitalismus in der Deutschen Demokratischen Republik Abtreibung in den Frame einer ökonomisch produktiven, d.h. als arbeitstätig gelesenen Weiblichkeit gestellt und so die physische Vernichtung der Ungeborenen juristisch als Entscheidung der individuellen Produktivkraft freigegeben. Die kapitalistisch gelenkte Volkswirtschaft der Volksrepublik China verfuhr indes anders: Ein-Kind-Politik und Zwangsabtreibungen gingen Hand in Hand, um Humankapital bedarfsgerecht zu planen und zu produzieren. Wieder anders der Zweite-Welle-Feminismus (sog. "TERF"): Der Ruf nach Übernahme männlich kodierter Rollen im ökonomischen Verwertungsprozess durch weiblich gelesene Menschen und der Ruf nach allumfassender Freigabe von Abtreibung gehören inhaltlich direkt und wesentlich zusammen. Dahinter steht die kapitalistische Verheißung der Herstellung von allgemeiner Freiheit auf dem Wege individueller Maximierung von Produktivität in Verbindung mit der Ausmerzung unproduktiven Humankapitals.

Abtreibung ist Patriarchat.

Kaum etwas steht so sehr für das Patriarchat wie die Setzung der Geburt als Grenze des Menschseins: Diese Definition bindet ethische und rechtliche Regelungen an eine androzentrische Perspektive, denn erst nach Abschluss der Geburt kann ein traditionell männlich gelesener Mensch seinen Nachwuchs unmittelbar betrachten und berühren; zuvor ist ihm dies nur vermittels der traditionell weiblich gelesenen schwangeren Person möglich. Hieraus ergibt sich nach patriarchaler Logik der Wert des Nachwuchses, denn erst auf diese Weise wird ein Mensch direkt verfügbar für den Patriarchen.
Durch den Versuch, die Definition von Geburt als Grenze für schützenswertes, d.h. mit grundlegenden Rechten ausgestattetes Dasein, allgemein durchzusetzen, soll eine traditionell männlich - und das heißt: väterlich - kodierte Lesart für alle Menschen als verbindlich gesetzt werden. In diesem Sinne gehen die antike patria potestas, wonach der Patriarch über Leben und Tod seiner Kinder entscheiden durfte (ius vitae necisque), und das moderne bro choice, demnach die reproduktiven Rechte im Wesentlichen vom männlich gelesenen Teil einer Beziehung her definiert werden, Hand in Hand. Schließlich verwirklicht sich in der physischen Vernichtung von Menschen ein Konglomerat aus männlich kodierten und männlich gelesenen Strukturen von Macht, Kontrolle, Nützlichkeit und Vorteilnahme.

Abtreibung ist Queerfeindlichkeit.

Ungeborene Menschen sind in ihrer Geschlechtsidentität per se unbestimmt, damit zunächst intrinsisch nonbinär und somit unter den allgemeinen Schirm der Queerness einzuordnen. Die physische Vernichtung dieser Menschen vor ihrer Geburt verhindert, dass sie zu gegebener Zeit selbstbestimmt ihre eigene geschlechtliche Identität festlegen und ausdrücken können. Stattdessen werden die Ungeborenen als Teil der Gruppe der Nonbinären im Falle einer Abtreibung ultimativ fremdbestimmt, da die für sie zentralen existenziellen Fragestellungen von anderen Leuten im Rahmen der von ihnen gewählten geschlechtlichen Identität und damit zusammenhängenden praktizierten Rollenvorstellungen beantwortet werden.
Das macht Abtreibung in objektiver Hinsicht strukturell queerfeindlich: Geschlechtlich kodierte Machtstrukturen halten es nicht aus, dass sich manche Menschen dieser Kodierung bewusst oder unbewusst entziehen, und diejenigen, die sich ob der geschlechtlichen Kodierung nicht aktiv und kraftvoll verteidigen können, werden aus diesen Machtstrukturen früher oder später auch physisch ausgesondert. Als objektiv ist diese Queerfeindlichkeit deshalb einzuordnen, weil die Machtstrukturen die grundsätzlich nonbinären Ungeborenen unabhängig von der individuellen Motivation der handelnden Personen prinzipiell fremdbestimmen und ihnen damit einseitig und endgültig, d.h. gewaltsam die Möglichkeit überhaupt verwehren, ihre eigene Geschlechtsidentität selbst zu bestimmen.

Abtreibung ist weiße Machtausübung.

Weiß-Sein ist keine Frage der kutanen Pigmentierung, sondern ein sozio-kulturelles Konstrukt, das ethnozentrische Macht- und Gewaltstrukturen etabliert. Wer in diesen ethnozentrischen Strukturen unterdrückt wird, ist Nichtweiß. Wer seinerseits in diesen ethnozentrischen Strukturen unterdrückt, ist weiß. Die größte Unterdrückung wiederum liegt in der physischen Vernichtung der Jüngsten, der Kleinsten, der Schwächsten, kurzum: der Marginalisierten und Subalternen.
Ganz grundlegend zeigt sich in diesem Licht eine besondere Form des othering, die ihren extremsten Ausdruck in kolonialistischer Machtausübung findet: Das Andere wird über einen hegemonialen Diskurs in abwertender Weise auf den anderen übertragen, so dass der fremde Mensch im Rahmen der weißen Machtausübung nur mehr als minderwertiger Mensch in Erscheinung treten darf. Der Umgang mit den Ungeborenen steht auf diese Weise in starker Analogie zum Umgang der europäisch-weißen Kolonialherren mit der indigenen Bevölkerung in den unterworfenen Regionen der außer-europäischen Welt, insofern sich das Konzept der "Wilden", die nicht der eigenen (weißen) zivilisatorischen bzw. kulturellen Form entsprechen und darum als ungeordnete soziale Ansammlung gelten, inhaltlich nahezu verlustfrei in der Rede von "Zellhaufen" wiederfindet, d.h. in der Abwertung als etwas Anderes, das nicht der eigenen Körperform entspricht und darum nur mehr als unorganisierte Ansammlung von Biomasse gelesen wird.

Abtreibung ist Ableismus.

Ableismus bedeutet Wertzuschreibung anhand individuell vorhandener Fähigkeiten und damit Diskriminierung aufgrund fehlender Leistungsfähigkeit. Ganz grundlegend sind Ungeborene per se immer die Schwächeren in einem Machtgefälle, denn sie sind jene, die in Strukturen prinzipiell weniger vorhandene Fähigkeiten haben als andere. Das macht die Ungeborenen in sich, an sich und für sich zu einer hochgradig vulnerablen Gruppe und somit auch zum Ziel von Diskriminierung aufgrund fehlender Leistungsfähigkeit.
Der Ruf nach Abtreibung wird gerne unterfüttert durch eine Abwertung, die sich direkt aus der Hilfebedürftigkeit der vulnerablen Gruppe der Ungeborenen ableitet. Auf diese Weise wird die physische Vernichtung der Schwächeren in einem Machtgefälle dadurch gerechtfertigt, dass es sich um Schwächere handelt: Konkret sichtbar zeigt sich dies z.B. im Kriterium der Viabilität, wodurch Hilfebedürftigkeit als ein Makel gelesen wird, welcher ein Werturteil nach sich zieht, das in Extremfällen bis zum Rekurs auf einen vermeintlichen Parasitismus reichen kann (in juristischer Rhetorik als fehlendes "Leistungsrecht"  an den Fähigkeiten anderer vorgebracht) und zur Rechtfertigung physischer Vernichtung herangezogen wird.
Daneben findet sich oftmals eine Abwertung auf Grundlage der Nichterfüllung eines Anspruchs an Körpernormen und Normkörper: Dies wird nicht nur allgemein in der weißen Rede von "Zellhaufen" sichtbar, sondern auch und gerade in einem spezifisch ableistischen Neuro-Chauvinismus mit Rekurs auf die individuelle Fähigkeit zu Schmerzempfinden und/oder Bewusstsein. Das erhebt besondere neuro(bio)logische Unterschiede zur Grundlage pauschaler Abwertung - typisch für eine ableistische Sicht auf Neurodiversität -, um damit wiederum physische Vernichtung zu rechtfertigen.

Abtreibung ist Menschenleugnung.

Rassistisches Denken verweigert Exemplaren der Species Homo sapiens aus bestimmten Gruppen die Anerkennung als Menschen. So wurde und wird im rassistischen Aktivismus, beispielhaft in der weißen Phrenologie des 19. Jahrhunderts, vermittels Rekurs auf (oft nur oberflächlich herangezogene) äußerliche Merkmale eine Ähnlichkeit zwischen bestimmten Tiergattungen und bestimmten Menschengruppen behauptet, die dann als Grundlage dafür dient(e), diese Menschengruppen nicht nur allgemein abzuwerten, sondern ihnen ganz konkret das Menschsein abzusprechen.
Der Aktivismus für Abtreibung rekurriert allzu oft auf bildliche Darstellungen verschiedener Tiergattungen im embryonalen Zustand, die bildlichen Darstellungen von Exemplaren der Species Homo sapiens im embryonalen Zustand gegenübergestellt werden. Die auf solche Weise (oft nur oberflächlich) illustrierten Änhlichkeiten zwischen den verschiedenen Species im embryonalen Zustand gereichen diesem Aktivismus dann als Grundlage, den embryonalen Exemplaren der Species Homo sapiens das Menschsein abzusprechen. Damit rechtfertigt dieser Aktivismus wiederum die physische Vernichtung.
Die Frage nach der Species des Embryos bleibt dabei allzu oft eine absichtliche Leerstelle in der Diskursstrategie des Aktivismus, denn auf diese Weise kann die o.g. allgemeine Abwertung der Ungeborenen als "Parasiten" im Besonderen vollzogen werden: Parasiten gehören per definitionem einer anderen Species an als ihr Wirt, und wo die Species keine Rolle spielt bzw. spielen soll, da kann Parasitismus zwar nicht sachlich ausgeschlossen, wohl aber hochgradig impliziert werden. Bei der Abwertung von Exemplaren der Species Homo sapiens als "Parasiten" handelt es sich direkt und eindeutig um einen Ausdruck rassistischer Ideologie.

Intersektionalität heißt Lebensschutz.

Aus all diesen genannten Feldern heraus sollte klar geworden sein, dass authentischer intersektionaler Feminismus gar nicht anders kann als sich im Kampf gegen Kapitalismus, gegen Patriarchat, gegen Queerfeindlichkeit, gegen weiße Machtausübung, gegen Ableismus und gegen Menschenleugnung, kurz: im Kampf gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auf die Seite der vulnerabelsten aller Gruppen zu stellen und die Mehrfachdiskriminierung der Ungeborenen sichtbar zu machen und zu bekämpfen.

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