Sonntag, 29. Dezember 2024

Nachtgedanken: Müssen Liberale gegen §218 StGB sein?

Im Diskurs rund um den Lebensschutz, gerade wenn es um diesen Themenkomplex im Zusammenhang mit der im November 2024 zerbrochenen "Ampel"-Regierung in Deutschland geht, wird in Richtung der FDP als parteipolitischer Heimat für Liberale oftmals eine weit verbreitete Ansicht kontrovers eingebracht: Demnach müsse "liberal" natürlich und notwendig mit "pro choice" zusammenfallen. Das zeigt sich z.B. deutlich in wie selbstverständlich genutzten Wendungen wie "liberales Abtreibungsrecht", die ihrem Inhalt nach eigentlich keinen Bezug zum Liberalismus als sichtbares Phänomen der Ideenwelt herstellen, sondern rein rhetorisch auf ein intuitives und mehr oder minder naives Verständnis in Richtung "möglichst unbeschränkte Freigabe" setzen - analog beispielsweise zur Redewendung "liberales Waffenrecht".

Diese Diskussion hat nun gerade im Dezember 2024 dadurch Fahrt aufgenommen, dass eine überparteilich organisierte Gruppe von Abgeordneten des deutschen Bundestags einen Antrag zur Neuregelung von §218ff. StGB eingebracht hat und entsprechend parteipolitische Unterstützung sucht. Wie im Wahlkampf um die US-Präsidentschaft ist das Thema Abtreibung damit auch in Deutschland in die Mitte der politischen Auseinandersetzung gerückt. Das alles scheint Grund genug, um der Frage nachzugehen, wie eine liberale Sichtweise auf die aktuelle Regelung im deutschen Strafgesetzbuch eigentlich aussieht.

Grundsätzliche Erwägungen

Der Begriffsinhalt des Ausdrucks "Liberalismus" unterscheidet sich je nach politischer Kultur bzw. geographischem Raum: In Großbritannien und den USA kann das politisch verwendete Adjektiv liberal so z.B. geradezu Gegenteiliges bedeuten, insofern es zum einen im Sinne von "klassisch-liberal" (GB), zum anderem im Sinne von "sozialliberal" bzw. "sozialdemokratisch" (GB & USA) oder bisweilen gar "sozialistisch" bzw. "kommunistisch" (USA) verwendet wird. Als häufig genannter Kern lässt sich dennoch eine wie auch immer geartete Nutzenmaximierung bei Fragen der Güter-Allokation destillieren. Dies markiert eine primär ökonomische Logik, die dann in anderen Bereichen des mondo civile adaptiert wird. Zur Komplexitätsreduktion lassen sich drei Verdichtungen beschreiben, die grob einer Unterscheidung zwischen Vormoderne, Postmoderne und Moderne folgen:

Zum einen steht der Ordoliberalismus als Verdichtung, die den gemeinen Nutzen (bonum commune) verwirklichen möchte. Dies vollzieht sich einerseits durch die Einhegung von Macht, und andererseits durch die Beschränkung von Monopolstrukturen. Auf diese Weise wird der Einbettung eines Akteurs in einen strukturellen Zusammenhang Rechnung getragen.
Zum anderen steht der Neoliberalismus als Verdichtung, die den individuellen Nutzen verwirklichen möchte. Dies vollzieht sich einerseits durch die Beseitigung von kollektiven Zwängen, und andererseits durch die ungestörte Entfaltung des Einzelwesens. Auf diese Weise wird der Akteur als eigener und vor allem eigenständiger Faktor in die Überlegungen eingepreist.
Schließlich steht der Liberalismus auch als generische Ideologie auf der Grundlage des Grundwerts Freiheit: Hier vertreten Kapitalismus und Reformismus jeweils Erwägungen auf Basis der Freiheit der Indifferenz, die auf Zweck-Mittel-Rationalität setzt, bzw. der Freiheit zur Exzellenz, die sich mit Ziel-Ausrichtung beschäftigt.

So verstanden lässt sich der Liberalismus insgesamt einordnen zwischen dem Libertinismus, d.h. der bloßen Abweichung innerhalb fest gesetzter Normen ("Spielräume in einer Welt der Knechtschaft"), und dem Libertarismus, d.h. der radikalen Entfesselung des Einzelnen ("Freiheit des Banditen"), - auch wenn die Grenzen zu beiden Seiten hin eher fließend sind.

Liberal sind Argumentationen vornehmlich auf der Grundlage von Vertragstheorien, insofern sie in der Praxis vor allem die Evaluation gemeinschaftlicher Regelungen betreffen: Wenn zum Beispiel anhand von Nützlichkeit aussortiert werden darf - insbesondere Schwache und Kranke, aber auch allgemein freiwillig oder unfreiwillig "unproduktive" Mitglieder eines Gemeinwesens -, dann kann sich prinzipiell niemand sicher sein, nicht auch selbst aussortiert zu werden. Die Ökonomisierung des mondo civile muss darum gerade aus liberaler Sicht ihre eindeutige Grenze in den ökonomischen Akteuren selbst haben, damit die Kategorie "Nutzen" überhaupt eine Bedeutung tragen, d.h. von einer Sache auf eine andere Sache verweisen kann.

Liberale Befürworterinnen von Abtreibung beziehen sich nun vornehmlich auf die persönliche Freiheit und Selbstbestimmung der schwangeren Frau, auf die kein Zwang ausgeübt werden dürfe. Als vollumfänglicher Eigentümer des eigenen Körpers sei der Einzelmensch für den eigenen Lebensentwurf in letzter Instanz verantwortlich, und dieser Entwurf könne, dürfe und müsse frei gestaltet werden - darunter falle auch die Entscheidung, ob man ein Kind haben möchte oder nicht.
Darüber hinaus müsse der Staat sich selbst in dem Falle, dass Abtreibung als unmoralisch gesehen werde, eines solchen moralischen Urteils enthalten und den Sachverhalt der persönlichen Entscheidung des betroffenen Individuums überlassen: Recht und Gesetz hätten schließlich nicht die Aufgabe, irgendeine Moral durchzusetzen (die ohnehin nur subjektiv sein könne), sondern ihre Aufgabe läge darin, gemeinsame Regeln im öffentlichen Leben zu setzen, die die größtmögliche Freiheit für die größte Anzahl an Menschen verwirklichen.

Dagegen lässt sich von einer liberalen Warte aus einwenden: Existenzielle Freiheit oder Freiheit zum Leben (dass man lebt) ist grundlegend für essentielle Freiheit oder Freiheit im Leben (was & wie man lebt), weil erst die eigenständige Teilhabe am Daseinsakt zum autonomen Handeln befähigt. Die Exzellenz des bloßen Daseins muss darum in den Regeln eines Gemeinwesens gezielt verwirklicht werden, ehe die Indifferenz der verschiedenen Daseinsentwürfe vermittelt werden kann. Insofern Recht und Gesetz die größtmögliche Freiheit für die größtmögliche Anzahl an Menschen verwirklichen sollen, können sie darum logisch niemals komplett von einer moralischen Grundlage entkoppelt werden, weil sie immer die existenzielle Freiheit als normativ verbindlich setzen müssen. Die Kernaufgabe des Staates ist es dabei, den Zwang eines Menschen gegenüber seinem Mitmenschen einzuhegen, und dies umso mehr dann, wenn sich beide innerhalb einer univoken Konzeption des Seins gegenüberstehen, bei der der autonome Daseinsentwurf des einen die schiere Existenz eines anderen bedroht.
Die Frage der Abtreibung steht hierfür als Paradebeispiel, insofern die reine Selbstbestimmung des einen Menschen die existenzielle Vernichtung eines anderen Menschen bedeuten kann. Der Staat kann das nicht zulassen, weil sonst die Stärkeren den Schwächeren sämtliche inhärenten Möglichkeiten rauben, was einen gemeinen Nutzen gänzlich unmöglich macht: Die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf besitzt dort eine Grenze, wo die Existenz eines anderen Menschen beginnt.

Das heißt letztlich: Gerade aus liberaler Perspektive muss das Gemeinwesen die Freiheit des Menschen auch vor der Geburt schützen. Damit gehört es notwendig und ganz grundsätzlich zum konsequent liberalen Denken, eine Regelung wie unter §218ff. StGB zu befürworten.

In der vorliegenden Diskussion kommen zu diesen grundsätzlichen Überlegungen zwei weitere Elemente hinzu:

Der besondere Blick auf §218ff. StGB

Zunächst steht die besondere Regelung gemäß §218ff. StGB, die sich inhaltlich von anderen gesetzlichen Regelungen in anderen Staaten unterscheidet, allen voran den immer gerne herangezogenen (und oftmals nur karikaturesk oder verzerrt wiedergegebenen) Regelungen innerhalb der USA. Die grundsätzliche Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs bildet den Vorrang der existenziellen Freiheit vor der essentiellen Freiheit ab und entspricht damit der konsequent liberalen Position.
In anderen Worten ausgedrückt: Unabhängig davon, ob innerhalb des liberalen Diskurses nun naturrechtlich, rechtspositivistisch oder pragmatisch gedacht, argumentiert und gesprochen wird, steht das Lebensrecht (i.e. Recht auf Leben) grundlegend und notwendig als Voraussetzung für (die Wahrnehmung) alle(r) anderen Rechte (i.e. Rechte am und im Leben).

Doch die strafrechtliche Regelung nach §218ff. StGB definiert darüber hinaus drei Ausnahmen:
  • die medizinische Indikation, 
  • die kriminologische Indikation 
  • und die soziale Indikation bzw. Beratungsregelung.
Auf diese Weise wird das grundsätzliche Verbot wesentlich differenziert und relativiert.

Die medizinische Indikation ist dabei am offensichtlichsten nachvollziehbar, da sie direkt die existenzielle Freiheit bzw. das Lebensrecht schwangerer Frauen schützt. In der Abwägung zwischen der existenziellen Freiheit der Frau und der existenziellen Freiheit des Kindes kann dem Recht auf Leben der Frau aufgrund seines chrono-logisch früheren Vorhandenseins auch ein praxeo-logischer Vorrang gegenüber dem Recht auf Leben des Kindes eingeräumt werden.

Die kriminologische Indikation verteidigt die essentielle Freiheit der Frauen in Fällen, in denen diese von einem Dritten vermittels sexueller Gewalthandlungen eingeschränkt wurde. Das heißt: Ihrer Anlage nach bedeutet die kriminologische Indikation den Schutz der essentiellen Freiheit der Frau gegenüber dem Gewalttäter (sic!), und dieser Schutz überwiegt wiederum den Schutz der existenziellen Freiheit des Kindes.
Begründet werden kann dies, insofern der Angriff auf die essentielle Freiheit der Frau chrono-logisch vor dem Vorhandensein (der existenziellen Freiheit) des Kindes steht und damit innerhalb (handlungs-)ökonomischer Kategorien Priorität genießt; schließlich ist die durch den Gewaltakt erzeugte willkürliche Einschränkung der essentiellen Freiheit der Frau überhaupt erst konstitutiv für das Vorhandensein des Kindes.
In anderen Worten ausgedrückt, die womöglich besser nachvollziehbar sind: Das grundsätzliche Verbot eines Schwangerschaftsabbruchs bedeutet im Umkehrschluss die grundsätzliche Pflicht zur Austragung eines Kindes. Dieser Umkehrschluss lässt sich stringent aus der Freiwilligkeit des Sexualakts ableiten, denn die Zeugung eines Kindes stellt die logische Folge von Geschlechtsverkehr dar: Wer für eine Ursache die Verantwortung trägt, zeichnet ebenso für die daraus entsprungene Wirkung verantwortlich, und dieser Wirkungszusammenhang drückt in sich, an sich und für sich die Wahrnehmung der Rechte am und im Leben aus. Wo aber der Geschlechtsverkehr nicht freiwillig war - d.h. in Situationen, in denen die essentielle Freiheit der Frau bzw. ihre Rechte am und im Leben durch willkürlichen Zwang eingeschränkt worden sind -, da lässt sich dieser Umkehrschluss nicht konsequent vollziehen. Und wo dieser Umkehrschluss nicht mit Notwendigkeit vollzogen werden kann, da kann (nicht: muss!) die chronologisch früher vorhandene essentielle Freiheit der chronologisch später vorhandenen existenziellen Freiheit vorgezogen werden - sofern die auf diese Weise in ihrer essentiellen Freiheit bzw. in ihren Rechten am und im Leben eingeschränkte Person dies will.

Die Beratungsregelung schließlich bindet die Entscheidung der Frau über einen Schwangerschaftsabbruch an ein notwendig vorhandenes bestimmtes Maß an Information, das durch anerkannte Einrichtungen bereit- und sichergestellt wird bzw. werden soll. In der Beratungsregelung verwirklicht sich damit ein spezifisches Verständnis von Entscheidungsfreiheit, das sich vor allem und im Wesentlichen aus marktliberalen Ansätzen ableitet:
Hinter dem auf diese Weise eingeforderten informed consent steht eine prinzipielle Überlegung, wonach vollständige Information eine Prämisse bzw. einen Bestandteil des vollkommenen Marktes darstellt, namentlich die vollkommene Markttransparenz. Ähnlich wie im Falle des Kartellrechts, wonach der Staat durch verbindliche Eingriffe unlautere Differenzen in der Anpassungsgeschwindigkeit oder den Präferenzen der jeweiligen Akteure beseitigt, werden beim Thema Schwangerschaftsabbruch durch die verbindlich festgelegte Beratung, d.h. Herstellung von Markttransparenz in Bezug auf eine konkrete Dienstleistung, sowohl ein möglichst großes Rationalverhalten als auch Nutzenmaximierung angestrebt. In der Bestimmung von §219 StGB, demnach diese Herstellung von Markttransparenz "dem Schutz des ungeborenen Lebens [dient]", findet zudem nochmals eine Rückbindung an die liberale Maxime der Priorität existenzieller Freiheit statt.

Damit entspricht die spezifische Regelung gemäß §218ff. StGB auch in ihrer inhärenten Differenzierung und Relativierung liberalen Maximen und Grundsätzen.

Das liberale Argument in der aktuellen Debatte

Das zweite Element, welches in der vorliegenden Diskussion zu den o.g. grundsätzlichen Überlegungen hinzukommt, liegt in einem Argumentationsgang, den auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner in Bezug auf eine Neufassung der Regelung gemäß §218ff. StGB zumindest in seinen Grundzügen gegeben hat:
Dieser Argumentationsgang verweist darauf, dass die Diskussion um diese spezielle gesetzliche Regelung nicht notwendig sei, da der status quo einen Kompromiss darstelle, welcher die gesellschaftliche Auseinandersetzung auf einer parteipolitisch sehr breiten Basis befriedet habe, so dass aufgrund der Zugeständnisse in alle Richtungen jede Seite zumindest halbwegs zufrieden sein könne. Zudem gibt der Argumentationsgang zu bedenken, dass ein Aufbrechen des bestehenden Kompromisses seitens der Befürworterinnen einer unbeschränkten Freigabe von Abtreibung nicht notwendig auch in einer kompletten Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs münden werde; es sei nämlich nicht ausgeschlossen, dass die bisherige Regelung restriktiver werden könne wie es beispielsweise in den USA oder Polen zu beobachten ist.

Diese Argumentation besitzt zwei Aspekte, die sich als einerseits pragmatisch und andererseits axiomatisch bezeichnen lassen.

Der pragmatische Aspekt verläuft über eine Art von Formalismus, die primär das Vorhandensein der aktuellen Regelung als solche betrifft ohne auf den speziellen Inhalt zu achten; das macht diesen Aspekt vor allem für diejenigen interessant, die an der Regelung per se festhalten wollen - schließlich lässt sich so der status quo verteidigen ohne wirklich in die inhaltliche Auseinandersetzung gehen zu müssen. Es hat dabei - auch, und vielleicht sogar: gerade - aus liberaler Sicht jedoch durchaus seine Berechtigung, darauf hinzuweisen, dass die Aufkündigung dieses Kompromisses problematisch ist. Der Gemeinnutz wird nämlich durch vermeidbare und damit ohne Not vom Zaun gebrochene Streitereien vermindert und im schlimmsten Fall beseitigt. Die Diskussion um §218ff. StGB ist wiederum eine solch vermeidbare und damit ohne Not vom Zaun gebrochene Streiterei, die den Gemeinnutz vermindert.

Zum einen ist im Rahmen eines Wahlkampfs, und das heißt: in der Kürze der damit zusammenhängenden Zeit, keine angemessene Debatte um so ein brisantes Thema möglich. Das Thema, eben weil es hierbei im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod geht, benötigt jedoch eine angemessene Debatte und somit auch entsprechend vorhandene Zeit, damit genau diejenigen Nuancen und Zwischentöne in den Vordergrund treten können, welche durch die Polarisierung innerhalb eines Wahlkampfs absichtlich oder aufgrund von wahlpolitischen Sachzwängen unter den Tisch fallen. Im Wahlkampf wird die Thematik inhaltlich verkürzt, und eine solche Verkürzung setzt letztlich nicht auf die Stärke des besseren Arguments, sondern auf das Argument des Stärkeren, d.h. auf willkürlichen Zwang.

Zum anderen erscheint es mehr als offensichtlich, dass die (versuchte) Polarisierung der (wahlberechtigten) Bevölkerung über dieses Thema lediglich ein Manöver zur Generierung von emotionalisierten Mehrheiten darstellt. Das degradiert nicht nur die ungeborenen Kinder, sondern auch und vor allem die betroffenen Frauen zu bloßen Instrumenten wahltaktischer Überlegungen: Es geht damit nämlich gar nicht um das Thema oder die betroffenen Menschen, sondern nur um deren Funktion für den eigenen Machtgewinn. Die Instrumentalisierung von Menschen unterwirft diese jedoch einem willkürlichen Zwang, da sie nicht als eigenständige Akteure anerkannt werden.

Schließlich steht dieser neu aufgerissene Konflikt inmitten bereits bestehender Konflikte und vermehrt diese auch rein quantitativ: Damit wird die Fähigkeit des Gemeinwesens, für einen Ausgleich zwischen widerstreitenden Interessen zu sorgen, zusätzlich beansprucht. Diese Fähigkeit des Gemeinwesens ist jedoch in sich begrenzt, und sie sollte darum möglichst sparsam in Anspruch genommen werden: Wird sie übermäßig strapaziert, kann dies zu einer Überforderung der vorhandenen Ausgleichsmechanismen führen, was wiederum den Gemeinnutz zugunsten des am stärksten in Position gebrachten Eigennutzes vermindert und damit willkürlichen Zwang der zugehörigen Gruppe ermöglicht.

Der axiomatische Aspekt verläuft über einen Konsequentialismus, welcher die aktuelle Regelung zwar inhaltlich thematisiert, überwiegend jedoch im Sinne eines wertbezogenen Szenarios, das aus Sicht der Befürworterinnen einer unbeschränkten Freigabe ein für diese Befürworterinnen negatives Bild zeichnet: Vielleicht wird die neue Regelung ja restriktiver. Zumeist wird hierfür auf "konservative", "reaktionäre" oder gar "klerikale" bzw. "rechte" Kräfte verwiesen; doch ein Szenario, das die Befürworterinnen unbeschränkter Freigabe von Abtreibung abschreckt, lässt sich auch von liberalen Grundlagen aus zeichnen. Es muss aus liberaler Sicht trotz aller Kompatibilität zwischen §218ff. StGB und liberalen Maximen nämlich präzise dort eingehakt werden, wo das Verhältnis zwischen Ordoliberalismus und Neoliberalismus, Reformismus und Kapitalismus oder Gemeinnutz und Eigennutz einseitig verkürzt wird und damit zu einem reduzierten Freiheitsverständnis führt. Dies betrifft konkret die kriminologische Indikation und die Beratungsregelung, und zwar auf je unterschiedliche Art und Weise:

So nachvollziehbar die Begründung der kriminologischen Indikation über den Wirkungszusammenhang als Wahrnehmung von Rechten am und im Leben vorgebracht werden mag, läuft eine solche Argumentation Gefahr, nicht nur das Vorhandensein des Kindes, sondern auch dessen existenzielle Freiheit als abhängig von der (eingeschränkten) essentiellen Freiheit der Mutter einzustufen. Dies mag für konventionsrechtlich argumentierende Liberale kein wesentliches Problem darstellen, insofern sie davon ausgehen, dass die Rechte eines Individuums diesem von einer dazu kompetenten Instanz verliehen werden. Es widerspricht jedoch eklatant einem Bezug auf naturrechtliche Vorstellungen, demnach die Rechte eines Individuums diesem inhärent sind. Ein von außen verliehenes Recht auf Leben kann (zumindest in der Theorie) von den Rechten am und im Leben eines anderen abhängen; ein inhärent vorhandenes Recht auf Leben existiert jedoch qua Vorhandensein des jeweiligen Trägers. Dabei steht nun nicht nur die Gefahr einer unzulässigen Umkehrung des Verhältnisses von existenzieller und essentieller Freiheit im Raum, sondern im schlimmsten Fall wird der Gemeinnutz dadurch unmöglich, dass der Eigennutz eines Gewalttäters - oder anders formuliert: die Tatsache, dass dieser sich bestimmte Privilegien am und im Leben einseitig nimmt - über die existenzielle Freiheit von Dritten entscheidet und dies wiederum allgemein akzeptiert wird.
Die kriminologische Indikation stellt damit bereits innerhalb der liberalen Perspektive lediglich einen Kompromiss zwischen verschiedenen Ansätzen dar.

Die Beratungsregelung hingegen wirkt mit am marktliberalen Streben hin zum Idealtypus des vollkommenen Marktes. Bei einem Idealtypus handelt es sich jedoch nicht um ein Ideal, sondern er ist seiner Anlage nach eine bewusst wirklichkeitsfremde Konstruktion, anhand derer die empirische Realität gemessen und analysiert werden soll. Das macht ihn recht eigentlich ungeeignet für politische bzw. aktivistische Zielstellungen, wie in der nicht nur innerliberalen Diskussion um den Idealtypus des homo oeconomicus (der als Akteur unverzichtbar für den Idealtypus des vollkommenen Marktes ist) gerne und konsequent betont wird.
In diesem Zusammenhang stellt sich zudem die Frage, wer die Maßgabe für hinreichend vollständige Information vorgeben darf bzw. soll. Grundsätzlich ist die Schaffung der Markttransparenz eine öffentliche Angelegenheit, und damit den verschiedenen Gruppen, Gemeinschaften und Institutionen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext vorbehalten. Es lässt sich aufgrund der inhaltlichen Brisanz des Sachthemas - immerhin geht es um Leben und Tod - durchaus eine Handlungshoheit des Staates begründen. Wo jedoch solch eine Maßgabe durch den Staat gesetzt und in seiner Setzung konzentriert und damit monopolisiert wird, da leitet sich aus der marktliberalen Logik heraus ein Baustein des Staatsmonopolkapitalismus ab, was wiederum zu zwei Problemen führt: Zum einen liefern Monopole im Laufe der Zeit für immer höhere Preise immer schlechtere Leistungen, womit die Gefahr besteht, dass die Beratungsleistung mit zunehmender Zeit nicht mehr dem eigentlich angestrebten Standard entspricht. Zum anderen sind gerade staatlich festgesetzte Monopole besonders schwerfällig und nur begrenzt wandlungsfähig; dies führt zur Gefahr, dass neue Ergebnisse aus Forschung und Wissenschaft nur unzureichend in das standardisierte Beratungsangebot aufgenommen werden. Der tatsächliche Nutzen zur Herstellung von vollkommener Markttransparenz wird dadurch in Zweifel gezogen.

Schließlich besteht auch in der Diskussion um die Beratungsregelung das Problem, dass die existenzielle Freiheit des Kindes in Abhängigkeit zur essentiellen Freiheit der Mutter begriffen und diese Abhängigkeit zugelassen und akzeptiert wird, wenn nur die Ausrichtung auf den entsprechenden Idealtypus des vollkommenen Marktes gewährleistet ist. Um es vielleicht nachvollziehbarer zu formulieren: Alle drei Ausnahmen gemäß §218ff. StGB lassen sich aus liberaler Perspektive mit der chrono-logischen Priorität der schwangeren Frau, d.h. aufgrund materieller bzw. materialistischer Erwägungen begründen; medizinische und kriminologische Indikation qualifizieren diese Priorität jedoch auf eine Weise, die der Beratungsregelung fehlt.

Am besten nachvollziehbar erscheint wiederum die medizinische Indikation: Hier stehen sich mit der existenziellen Freiheit der Mutter und der existenziellen Freiheit des Kindes die gleichen Aspekte der jeweiligen Freiheit gegenüber, und die chrono-logische Priorisierung sorgt sozusagen für das Aufbrechen einer Patt-Situation, indem durch den Bezug auf dieses Entscheidungskriterium eine grundlegende Handlungsfähigkeit zum Schutz der existenziellen Freiheit für zumindest eine Seite hergestellt wird.

Bei der kriminologischen Indikation stehen sich einerseits mit der essentiellen Freiheit der Mutter und der existenziellen Freiheit des Kindes zwei unterschiedliche Aspekte der jeweiligen Freiheit gegenüber, andererseits mit der essentiellen Freiheit der Mutter und dem Privileg am und im Leben, das sich der Gewalttäter einseitig genommen hat, zumindest ähnliche Aspekte des jeweiligen Handlungsvermögens (das einseitig genommene Privileg könnte durchaus als Sonderform unter die essentielle Freiheit subsumiert werden, obschon ausschließlich im Sinne einer libertär übersteigerten "Freiheit des Banditen"). Die chrono-logische Priorisierung führt also in einer Art Misch-Situation zur Entscheidung, namentlich indem sie die Abwägung zwischen zwei zumindest ähnlichen Aspekten (essentielle Freiheit der Frau gegen "Freiheit des Banditen") einer Abwägung zwischen zwei unterschiedlichen Aspekten  (essentielle Freiheit der Frau gegen existenzielle Freiheit des Kindes) vorzieht.

Die Beratungsregelung akzeptiert nun die zuvor genannten Gefahren aus den Überlegungen zur kriminologischen Indikation, sofern die Entscheidungsfreiheit der Frau sichergestellt wurde; das Kriterium zur Sicherstellung der Entscheidungsfreiheit liegt wiederum in der Verfügbarkeit von als hinreichend definierten Informationen. Inhaltlich findet also gar keine Abwägung zwischen den beiden Aspekten der jeweiligen Freiheit statt, wohl aber im Ergebnis: Die Beratungsregelung gibt der essentiellen Freiheit der Frau in Verbindung mit der entsprechend sichergestellten Entscheidungsfreiheit den Vorzug gegenüber der existenziellen Freiheit des Kindes. Dabei genießt die essentielle Freiheit der Frau auch hier chrono-logische Priorität vor der existenziellen Freiheit des Kindes, während die sichergestellte Entscheidungsfreiheit der Frau chrono-logisch immer nur nach der existenziellen Freiheit des Kindes vorhanden sein kann, weil sie inhaltlich darauf reagiert. Das bedeutet am Ende, dass ein Kriterium zur Herstellung des vollkommenen Marktes die existenzielle Freiheit eines Menschen im Ergebnis aufheben kann. Das Herzstück der Beratungsregelung besteht so in einem auf das chrono-logisch früher vorhandene Individuum reduzierten Verständnis von Freiheit, das letztlich hart an der Grenze zum Libertarismus kratzt und gerade aus der Perspektive liberaler Ansätze jenseits von Neoliberalismus und Kapitalismus kritisiert wird (denn: "Freiheit" ist mehr als nur "meine eigene Freiheit").
So stellt auch die Beratungsregelung lediglich einen innerliberalen Kompromiss dar, eben zugunsten von Neoliberalismus und Kapitalismus.

Fazit

Um es zusammenzufassen: Der liberale Minimalkonsens, d.h. die inhaltliche Übereinstimmung aller liberalen Ansätze, findet sich neben der grundsätzlichen Strafbarkeit von Abtreibung (weil existenzielle Freiheit hierarchisch über essentieller Freiheit steht) in jener Ausnahme, die durch die medizinische Indikation definiert wird (weil in der Gegenüberstellung der existenziellen Freiheit zweier Menschen die chronologische Priorität der einen Person greifen kann).
In politische Kategorien übersetzt sich dieser liberale Minimalkonsens als liberale Maximalposition: Die größte Menge aller liberalen Ansätze wird inhaltlich dort vereint, wo grundsätzliche Strafbarkeit und medizinische Indikation gegeben sind. Insofern eine parteipolitische Sammlung aller liberalen Kräfte angestrebt wird (und diesen Anspruch stellt vor allem die FDP), muss folgerichtig diese liberale Maximalposition betont und hervorgehoben werden.

Andere politische Strömungen richten ihren Aktivismus vor allem gezielt gegen die Beratungsregelung (was natürlich gerade aus kapitalismuskritischer Sicht logisch stringent ist). Gleichzeitig stellen Ausnahmeregelungen jenseits der medizinischen Indikation bloß innerliberale Kompromisse dar (zuvorderst zwischen Sozialliberalismus und Marktliberalismus), die bis dato auch gesamtgesellschaftlich akzeptiert wurden. Wenn nun der bisherige Kompromiss, der hinter den Regelungen von §§218ff. StGB steht, seitens maßgeblicher politischer Akteure oder gar gesamtgesellschaftlich nicht mehr gewünscht ist, dann erscheint es aus liberaler Perspektive nur folgerichtig, den aufgekündigten Kompromiss ebenfalls fallen zu lassen und exklusiv die liberale Maximalposition zu verteidigen.

Müssen Liberale also gegen §218 StGB sein?

Nein, denn die Regelungen gemäß §§218ff. StGB setzen liberale Maximen strafrechtlich um.

Müssen Liberale im Gegenzug §218 StGB bis zum Äußersten verteidigen?

Ebenfalls nein, denn bei aller Brauchbarkeit der aktuellen Regelung ergibt ein Kompromiss keinen Sinn, wenn die Gesprächspartnerinnen nicht (mehr) kompromissbereit sind. In diesem Falle empfiehlt sich die liberale Maximalposition: Strafbarkeit mit Ausnahme der medizinischen Indikation. Denn nur so lässt sich die größtmögliche Freiheit für die größte Anzahl an Menschen auch tatsächlich verwirklichen.

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