Donnerstag, 16. September 2021

Politik: Ein ästhetisch-technisches Kontinuum

Ähnlich dem Historiker hat es der Politologe gerade gegenüber dem Alltagsverständnis schwer, seinen Forschungsgegenstand adäquat zu benennen und seine Tätigkeit entsprechend zu verteidigen - auch Philosophen und Theologen kennen dergleichen wohl zur Genüge: Schließlich hat jeder auf irgendeine Weise schon einmal irgendwie Erfahrungen mit Geschichte, Philosophie, Religion oder Politik gemacht. Diese mehr oder minder diffusen und intuitiven Erfahrungen wirken in der Regel als Regulativ, wenn es darum geht, darüber zu sprechen.

Wirkliches Verstehen, und dabei ist noch nicht einmal von wissenschaftlichem Verstehen die Rede, begnügt sich jedoch nicht mit bloßen Erfahrungen, sondern reflektiert auf diese Erfahrungen, betrachtet sie formal und materiell, von innen und von außen, in sich und im Kontext. Dafür ist es notwendig, zunächst einmal einen Begriff derjenigen Sache zu haben, mit der man sich in Erfahrung wähnt, denn ohne einen Begriff lässt sich eine Sache nicht begreifen. Vor diesem Hintergrund scheint es wichtig, Begriffe einigermaßen klar zu umreißen und voneinander zu differenzieren, auch wenn man natürlich festhalten muss, dass es so etwas wie eine echte Objektsprache gar nicht gibt: Sprachlich bezeichnete Dinge können letzten Endes immer nur relativ zueinander voneinander beschrieben, unterschieden und getrennt werden. 

Dabei fällt nun auf, dass verschiedene Begriffe von Politik - z.B. Politik als gute Ordnung, Politik als legitime Ausübung von Macht, Politik als Kommunikationsnetzwerk hinsichtlich gemeinschaftlicher Interessen - oftmals eher auf Seiten einer normativen Definition stehen denn auf Seiten einer deskriptiven. Auch die Definition von Politik als Verarbeitung der Kontingenzerfahrung vermittels Beantwortung gemeinschaftlicher Fragen, obwohl sie einen gewissen Ausgleich zwischen formellem und inhaltlichem Verständnis liefert, scheint doch mehr in der normativ-ontologischen Ecke zu stehen denn in der empirisch-analytischen, insofern es dabei nicht nur bloß um ein Sein (ontologisch) geht, sondern immer auch um ein Sollen (normativ). Das lässt sich natürlich dadurch begründen, dass es sich um Einrichtungen in der Menschenwelt dreht und diese immer schon sowohl einem Sein als auch einem Sollen unterworfen ist, da in ihr sowohl der menschliche Verstand als auch der menschliche Wille wirken. Darüber hinaus gehend, und ohne das zuvor Genannte zurückzunehmen, lässt sich jedoch auch fragen nach der Übereinstimmung von Sein und Sollen mit dem, was durch Erfahrung (empirisch) und Zergliederung (analytisch) erkannt werden kann. Den Ausgleich zwischen beiden Fragestellungen kann schließlich eine historisch-kritische Betrachtung liefern, insofern diese einen Sachverhalt als eine Aufschichtung, oder mit einem älteren Ausdruck: als ein Ge-schichte (historisch) verschiedener Elemente begreift, die durch Auseinanderlegung (kritisch) zugänglich werden.

So scheint es sinnvoll, auch eine andere Perspektive zu ihrem Recht kommen zu lassen, und damit neben einem in der klassischen europäisch-"kontinentalen" Tradition stehenden Zugang auch die "angelsächsisch"-analytische Tradition zu berücksichtigen. Diese verzichtet nämlich darauf, nach dem "Wesen" oder der "Natur" des Politischen zu fragen und beschränkt sich dafür auf eine Beschreibung dessen, wie das Politische dem empirischen Beobachter erscheint. Ob solch eine Herangehensweise für sich alleine genommen tragfähig ist, braucht an dieser Stelle gleichwohl nicht zu interessieren, denn sie steht hier ja nicht alleine.

Gemäß dieser Tradition jedenfalls zerfällt Politik in die drei Elemente policy, polity und politics. Mit policy wird dabei die "Politik-Formulierung" beschrieben, beispielsweise in der klassichen Staatsdoktrin, in außenpolitischen Leitlinien oder auch in programmatischen Vorgaben. Der Ausdruck polity betrifft den politischen Ordnungsrahmen und das politische Institutionengefüge, beispielsweise klassisch im Strukturaufbau eines Staates. Die politics wiederum bezeichnen den politischen Prozess von Willensbildung und Interessenvermittlung, beispielsweise vermittels staatlicher Entscheidungsmechanismen. Nach diesen drei Dimensionen lässt sich nun das, was man eigentlich eher diffus oder intuitiv als "Politik" erfährt, sinnvoll zergliedern, um auf diese Weise reflektiert verstehen zu können.

Gleichzeitig gehört diese Art der Aufschlüsselung nicht exklusiv zu einer "anderen" Tradition, denn historisch betrachtet hat Georg von Hertling - einer der zahlreichen "politischen Akademiker" des 19. Jahrhunderts - beispielsweise auch drei Arten der Politik voneinander unterschieden, die prinzipiell anschlussfähig zu den genannten Dimensionen sind, aber doch eher chronologisch denn systematisch extrahiert wurden: Die erste (Art von) Politik wird demnach von Diplomatie und Außenpolitik beschrieben, was sich systematisieren lässt als das Verhältnis eines Gemeinwesens zu einem anderen nach außen hin, oder als Beziehungen zwischen verschiedenen Staaten. Die zweite (Art von) Politik beschreibt die Verfassungs- und Parteipolitik, was sich systematisieren lässt als das Verhältnis eines Gemeinwesens zu sich selbst, oder als selbst-referenzielle Beziehungen des Staates. Die dritte (Art von) Politik schließlich betrifft die Sozialpolitik, was sich systematisieren lässt als das Verhältnis eines Gemeinwesens zu einem anderen nach innen hin, oder als Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft.
Diese Verständnisweise besitzt freilich deutliche Anklänge an die Dimensionen der policy (erste Politik), polity (zweite Politik) und politics (dritte Politik), und in diesem Sinne würde sich auch das ausgleichende Wirken des historisch-kritischen Zugriffs zeigen. Andererseits geht diese Auffächerung wohl eher auf historische Betrachtungen ihres Erfinders zurück, demnach die erste Politik die klassische Diplomatiegeschichte des Mittelalters beschreibt, die zweite Politik sich auf die großen Verfassungskontroversen der frühen Neuzeit und Aufklärung bezieht, während die dritte Politik das genuine Feld des Zentrumspolitikers Hertling in der Moderne des 19. Jahrhunderts beschreibt -  womit es sich bei dieser Aufschlüsselung genauso gut um die bloße Selbstlegitimation eines Parteipolitikers handeln könnte.

Andererseits jedoch lassen sich die drei Politiken, wie auch die drei Dimensionen des Politischen nach "angelsächsisch"-analytischer Tradition, durchaus in Analogie zu drei Elementen in der Geschichte der Staatstheorie setzen:

Die erste Politik gehört demnach zum princeps, dem Fürsten, der die Geschäfte des Gemeinwesens lenkt und leitet und inhaltlich ausführt, denn dieser verwirklicht die Diplomatie, und er handelt nach außen hin gegenüber anderen Fürsten. Für ihn werden traditionell die Fürstenspiegel verfasst. "Der Fürst" (il principe) ist dabei natürlich eine Chiffre für im Grunde jeden Herrscher, der diese Aufgabe durchführt; das kann ein Kaiser, König oder sonstiger Monarch sein, aber auch ein Herzog (dux, doge) oder Präsident, erster Minister, Regierungsrat etc.

Die zweite Politik gehört zum status regalis, dem formalen Zustand der königlichen Ordnung, der königlichen Verfasstheit, oder eben dem Staat im engeren (heutigen, modernen) Sinne. Darüber gibt es gerade in der frühen Neuzeit die großen Werke zur Theorie des Gemeinwesens, seien es livres de la République (Jean Bodin), Gedanken zum Leviathan (Thomas Hobbes) oder zur Verbesserung des Gemeinen Nütz (Andrzej Modrzewski). Lo stato ist historisch betrachtet die strukturelle Gesamtheit des regimento, also der Königs- oder Fürstenherrschaft, und daraus entspringt auch l'état als formale Gesamtheit der Staatsgeschäfte.

Die dritte Politik schließlich gehört zum bonum commune, dem Gemeinwohl, das spätestens mit Beginn des europäischen Mittelalters von der klassisch-aristotelischen Bindung an das politische Gemeinwesen gelöst und als eigenständiges Ziel innerhalb des menschlichen Lebens betrachtet wird. Hier liegt der Grundstein für eine Art von zweiter Öffentlichkeit, die nicht unter die Ordnung des Fürsten subsumiert werden kann, sondern die im Gegenteil il principe und lo stato ihrerseits in-formiert, da das regimen hieraus überhaupt erst seine Zielursache bezieht: das gute bzw. glückliche Leben der Menschen als Staatsziel, das aber eben gerade nicht mit dem Staatsleben in eins fällt.

Es ist diese letzte, die dritte Politik, die eine Schlüsselposition einnimmt, insofern sie einer totalen Ausweitung der ersten beiden Politiken entgegensteht. L'état c'est moi, das heißt: der König als die Gesamtheit aller Staatsgeschäfte, wird dadurch angreifbar, dass das Staatswesen eben nicht per se deckungsgleich mit dem Gemeinwesen ist. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieser Ansicht lassen sich bei zwei einflussreichen Denkern verorten:

Am Ende der Spätantike verfasste Augustinus von Hippo seine staatstheoretische Schrift De civitate Dei (üblicherweise als "Vom Gottesstaat" übersetzt). Darin entwickelt er die Idee einer himmlischen Bürgerschaft (civitas caelestis) und einer irdischen Bürgerschaft (civitas terrena), die im Gegensatz zueinander stehen. Abseits der bekannteren klassisch-theologischen und geschichts-philosophischen Aspekte, die Augustinus darin entfaltet, besteht der polito-logische Clou darin, dass keine der beiden Bürgerschaften direkt mit einer konkreten Ortskirche oder einem konkreten Staat identifiziert werden können, sondern dass in diesen Einrichtungen diese beiden Bürgerschaften miteinander um die Vorherrschaft ringen. Dieses Verständnis zeitigte wesentliche ideengeschichtliche wie systematische Konsequenzen: Ideengeschichtlich hat sich auf dieser Grundlage die Zwei-Schwerter-Lehre entwickelt, welche eine weltliche von einer geistlichen Macht unterscheidet und damit beide als Mächte in eigenem Recht anerkennt, was wiederum die Bedingung der Möglichkeit für echte Säkularisierung bedeutet. Dies wiederum gründet in der systematischen Konzeption zweier Öffentlichkeiten, die hinter der sich konkret vollziehenden geschichtlichen Welt stehen und diese gewissermaßen überhaupt erst begründen und mit bestimmten Maßgaben ausstatten.

In zeitlicher Nachfolge und inhaltlicher Analogie zum neuplatonisch ausgerichteten Augustinus hat Thomas von Aquin im Spätmittelalter eine Staatslehre entwickelt, die ganz im Zeichen einer Adaption der aristotelischen Philosophie steht. In seinem Fürstenspiegel entfaltet er diese von einer anthropologischen Grundlage aus, insofern der Mensch eine Sozialnatur besitzt (also ein zoon politikon ist), die sich auf eine doppelte Weise verwirklicht: zum einen auf dem Wege der Sozialnatur qua Natur, demnach der Mensch als Seiendes in sich selbst immer schon auf Gemeinschaft hin geordnet ist; zum anderen auf dem Wege der willentlichen Ordnung, demnach diese Gemeinschaft gezielt gestaltet wird. Die menschliche Gemeinschaft fußt damit zum einen in der menschlichen Natur, zum anderen im menschlichen Willen, und sie ist ihrerseits auf das Gemeinwohl (bonum commune) hin geordnet, welches sich als vernünftige Vermittlung zwischen Natur und Wille verwirklicht. Auch hierbei gibt es systematisch betrachtet zwei Öffentlichkeiten: sozusagen eine natürliche Gemeinschaft und eine willentliche Gemeinschaft, und auch diese stehen hinter der sich als Vermittlungsprozess realisierenden zivilen Welt.

Was Augustinus und Aquinas hier unter der systematischen Bezeichnung der zwei Öffentlichkeiten beschreiben, steht in sich wiederum analog zur Unterscheidung zwischen Transzendenz (himmlische Bürgerschaft; natürliche Gemeinschaft) und Immanenz (irdische Bürgerschaft; willentliche Gemeinschaft).

Von hier aus lassen sich analog zwei Zugänge zur Politik voneinander benennen, die letzten Endes nur relativ zueinander voneinander unterschieden sind und vielleicht besser als Einstiegspunkte in die Hermeneutik des Politischen bezeichnet werden sollten. Diese lassen sich in Fortführung der Unterscheidung zwischen transzendent und immanent als "ästhetisch" und "technisch" bezeichnen:

  • Ästhetisch bedeutet Politik ein Kunstwerk und bezeichnet die Beantwortung gemeinschaftlicher Fragen. Technisch bedeutet Politik ein Handwerk und bezeichnet die Ausübung von Macht und Herrschaft.
  • Während der ästhetische Zugang primär schaut und betrachtet, da handelt und wirkt in erster Linie der technische Zugang.
  • Der ästhetische Zugang ist primär final, d.h. auf ein Ziel hin orientiert; der technische Zugang ist in erster Linie kausal, d.h. von einer Ursache her orientiert.
  • Der ästhetische Zugang ist vornehmlich holistisch, der technische Zugang ist vornehmlich partikulär.
  • Für den ästhetischen Zugang steht der Zweck im Vordergrund, für den technischen Zugang stehen die Mittel im Vordergrund.
  • Damit korrespondierend auch das Freiheitsverständnis: Ästhetisch vornehmlich als "Entfaltung der inhärenten Möglichkeiten" oder "Freiheit zur Exzellenz" (positiver Freiheitsbegriff); technisch vornehmlich als "Recht, in Ruhe gelassen zu werden" oder "Freiheit der Indifferenz" (negativer Freiheitsbegriff).
  • Der ästhetische Zugang setzt auf Universalität, der technische Zugang setzt auf Totalität.
  • Der ästhetische Zugang ist primär synthetisch (vereinigend) und auf Einheit ausgerichtet; der technische Zugang ist primär analytisch (zergliedernd) und auf Vielheit ausgerichtet.
  • Dem ästhetischen Zugang geht es primär darum, einen anderen ins Boot zu holen; dem technischen Zugang geht es primär darum, sich gegen einen anderen durchzusetzen.
  • Der ästhetische Zugang zielt mehr auf den Konsens ab (ein Konsens wird gefunden), während der technische Zugang mehr auf einen Kompromiss zielt (ein Kompromiss wird fomuliert).
Es handelt sich hierbei wie gesagt nicht um Absoluta, sondern um Einstiegspunkte in das ganze Gefüge des Politischen, und beides ergänzt sich mehr als es sich widersprechen muss; am Ende sind beide nämlich auch aufeinander angewiesen.

Zuletzt lässt sich noch ein weiterer Zugriff formulieren, der direkt von der Frage ausgeht, woher ein politischer Standpunkt eigentlich kommt. Dabei hilft es, Ästhetik und Technik, Transzendenz und Immanenz beisammen zu denken und so auch die beiden Öffentlichkeiten in ein Kontinuum zu stellen. Dies lässt sich am leichtesten bewerkstelligen, wenn man die aristotelische Ursachenlehre heranzieht und mit ihr zunächst die Unterscheidung zwischen einer eher statischen und einer eher dynamischen Ebene trifft, die sich jeweils mit dem Dasein (statisch) und mit dem Werden (dynamisch) einer Sache beschäftigen.

Für das konkrete Dasein sorgen die Formursache und die Stoffursache, die beide zusammen gedacht werden müssen, aber nicht vermischt werden dürfen, da Form und Stoff zwar unterschiedliche Dinge sind, der Stoff aber doch nur in Form (oder in-formiert) existieren kann. So stehen im konkreten Dasein des Politischen die einzelnen Gesetze und Rechtsakte, Satzungen und Verordnungen, kurz: die erlassenen Normen als der Stoff, aus dem ein konkreter politischer Zustand besteht. Dieser Stoff wird in Form gebracht durch etwas, das dahinter steht und sich im Stoff eigentlich manifestiert: die Werte, und dies namentlich als Zwecke, zu denen hin der Stoff strebt, welcher dadurch wiederum zu dem Mittel wird, durch das die Werte sich verwirklichen.

Für das Werden sorgen andererseits die Wirkursache und die Zielursache, die beide ebenfalls zusammen gedacht werden müssen, aber doch viel leichter voneinander unterschieden werden können, da sie entgegengesetzte Fragen beantworten: Die Wirkursache beantwortet die Frage, woher ein Gegenstand kommt; die Zielursache, wohin ein Gegenstand geht. So stehen im Werden des Politischen die Ziele der beteiligten Akteure als das, was wiederum den genannten Zwecken eine konkrete Gestalt und Richtung verleiht, gewissermaßen einen Grund ihres Daseins in sich, womit diese Ziele auch als Grund-werte bezeichnet werden können. Auf der anderen Seite stellt sich jedoch die Frage, woher der Gegenstand an sich und in sich kommt, und das betrifft die Gründe des Gegenstandes, oder: seine Prinzipien.

So lässt sich schließlich ein Kontinuum beschreiben: Normen, Werte, Grundwerte, Prinzipien. Die Normen stehen dabei auf der Seite des Konkreten und Besonderen, sowie des Technischen; die Prinzipien wiederum auf der Seite des Allgemeinen und Universalen, sowie des Ästhetischen.

Teil 2 - Der Mensch als Träger von Mitteln: Normen
Teil 3 - Der Mensch als Träger von Zwecken: Werte
Teil 4 - Der Mensch als Träger von Zielen: Grundwerte
Teil 5 - Der Mensch als Träger von Gründen: Prinzipien
Teil 6 - Individuelle und spezifische Personen

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