Der Zweck von Religion als historischem Phänomen liegt - analog zu den historischen Phänomenen Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur - in der Verarbeitung der menschlichen Kontingenzerfahrung: In der Wirtschaft geschieht das über die Allokation von Gütern, in der Gesellschaft über soziales Handeln, in der Politik über die Beantwortung gemeinschaftlicher Fragen und in der Kultur über die Herstellung von Artefakten. In der Religion vollzieht es sich über den Bezug auf ein Unverfügbares, ein Absolutum.
Es sind dies (die) fünf Grundvollzüge menschlicher Geschichtlichkeit, und sie lassen sich einerseits jeweils nicht aufeinander reduzieren, andererseits aber auch nicht strikt voneinander trennen - wohl lassen sie sich aber aufeinander bezogen voneinander unterscheiden. Zudem hängen sie prozesshaft miteinander zusammen: Das Unverfügbare findet der Einzelne immer schon vor, und sein Handeln resultiert in einem Artefakt.
So viel zum deskriptiv darstellbaren Zweck der Religion. Daneben lässt sich natürlich auch noch ein normativer Zweck identifizieren:
Als Bezugnahme zum Unverfügbaren leitet sich aus diesem Grundvollzug menschlicher Geschichtlichkeit die Forderung ab, das Unverfügbare auch als solches anzuerkennen. Dazu gehört z.B. der andere Mensch als anderer Mensch mit eigener Kontingenzerfahrung, eigenen Werturteilen und eigenem Bezug zum Unverfügbaren: Der Mensch als Mensch ist dem Menschen unverfügbar - womit wir bei der religiösen Verankerung der menschlichen Würde sind.
Andererseits besteht natürlich wie bei jeder anderen Begegnung mit Normativität die Gefahr, Dinge fälschlich zu ver-absolutieren und unzutreffenderweise als unverfügbar zu behaupten. Man denke da beispielsweise an den Rechtspositivismus bzw. den daraus entspringenden Legalismus, der das gesetzte Recht als unverfügbar behandelt. Eine religiös gestützte Ständegesellschaft bewegt sich ebenso in diesem Bereich wie das indische Kastenwesen, denn dort sollen bestimmte soziale Strukturen als unverfügbar durchgesetzt werden. Ein anderes Beispiel wäre schließlich noch ein biblizistischer, koranistischer oder allgemein: kulturell fixierter Fundamentalismus, der ein Artefakt als unverfügbar behauptet.
Derartige Verabsolutierungen lassen sich nun zwar deskriptiv als Religion klassifizieren - eben weil sie den Bezug zu einem Unverfügbaren setzen. Sie verfehlen jedoch den normativen Zweck von Religion. Es handelt sich so gesehen um fehlerhafte, defekt(iv)e oder defizitäre Religion.
Natürlich wird sich dagegen nun Widerspruch erheben: Eine beliebte Grundposition im Diskurs geht nämlich davon aus, dass gerade o.g. Zweckverfehlung keine Verfehlung, sondern klare Zweck-Erfüllung sei. Hierin scheinen sich übrigens "atheistische" Kritiker und Evangelikale bzw. Freikirchler einig (vgl. "Why I hate religion but love Jesus").
Meiner Erfahrung nach beruht diese Grundposition auf einer von zwei Ursachen:
Zum einen gibt es - typisch (post-)modern dem Zeitgeist entsprechend - einen emotionalen Reflex, zunächst einmal religionskritisch bis -feindlich zu sein. Das scheint in sich selbst natürlich schon ein wenig religiös gemäß o.g. deskriptivem Zweck, da es sich eher auf intuitive Art und Weise vollzieht, in der dann eine allgemeine Mentalität zur Prägung des Einzelnen als unverfügbar erscheint.
Zum anderen - und m.E. weitaus häufiger - hängt es konzeptionell daran, dass entweder versucht wird, Religion deskriptiv als historisches Phänomen auf ein anderes historisches Phänomen zu reduzieren (z.B. auf Politik wie bei Ludwig Feuerbach, auf Wirtschaft wie bei Karl Marx oder auf Kultur wie bei Sigmund Freud), oder dass die Unterscheidung zwischen deskriptiver und normativer Zwecksetzung abgelehnt / unterlaufen / ignoriert werden soll (z.B. zugunsten eines epistemologischen Imperialismus wie bei Richard Dawkins), oder dass vom einzelnen Teil auf das Ganze verallgemeinert wird (z.B. Religion als Chiffre für alles, was man selbst nicht mag, wie bei Christopher Hitchens).
Der konzeptionelle Ansatz ist dabei prinzipiell der Diskussion zugänglich, denn über konzeptionelle Dinge lässt sich reden. Inwiefern die Diskussion darüber gewünscht wird, hängt freilich wieder vom Einzelnen ab.
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