Montag, 5. Juni 2017

Das Drama der menschlichen Todesfurcht


Der Abendländer kennt ein Bonmot, das Chilon von Sparta, einem der sieben Weisen des alten Griechenland, zugeschrieben wird:

De mortuis nil nisi bene
- "Über die Toten nur (wörtl.: nichts, wenn nicht) Gutes"

Zugleich ist der Abendländer natürlich des römischen Rechts eingedenk, in dem sich der Grundsatz findet:

Audiatur et altera pars
- "Auch die andere Seite soll gehört werden"

In der Gegenüberstellung beider Sentenzen steckt nun das ganze Drama der menschlichen Todesfurcht:

Über die Toten gibt es eben nicht nur Gutes zu berichten, und genau das ist die andere Seite. Das mag gerade noch so ertragen werden, wenn es um andere geht, die verstorben sind. Es scheint aber unerträglich, sobald man selbst derjenige ist, über den die andere Seite gehört werden soll - vor allem, weil man nach dem eigenen Ableben keinerlei Möglichkeit mehr besitzt, das Wort über sich selbst irgendwie zu beeinflussen. So ist die Vorstellung eines Totengerichts, in dem gute und schlechte Taten, Handlungen, Aspekte und Züge des eigenen Lebens einander gegenübergestellt werden, äußerst beunruhigend. Denn was könnte erschütternder sein für den "Homo-mensura"-Satz,[*] den das je eigene menschliche Selbst-Verständnis geradezu selbst-verständlich auf sich selbst bezieht?

So wie die Erfahrung des Todes untrennbar mit dem menschlichen Leben verbunden ist, erlebt der Mensch auch, wie das Gedenken an Verstorbene vonstatten geht - und dazu gehört die (be)wertende Erinnerung, das Richten über den Toten durch die Lebenden. Dem religiösen Glauben an ein Gericht am Ende der Zeit entspricht insofern ein ganz realer Bewertungsprozess nach dem Ende der je individuellen menschlichen Lebenszeit. Hierin liegt die große Kränkung des menschlichen Ego, zeigt es doch auf, dass das je eigene individuelle Selbst-Verständnis eben gerade nicht das Maß aller Dinge darstellt. Im Umgang mit dieser Kränkung gibt es nun bestimmte Mechanismen und Instrumente.

Beliebt scheinen Optionen, die einen gewissen Grad an Kontrolle versprechen:

  • So hat mancher es wohl lieber, dass es überhaupt nichts Gutes gebe, ehe über ihn auch Nicht-Gutes gesagt werden könnte.
  • Ein anderer mag die Auflösung seines Daseins im Tod und ein späteres (Wieder-) Zusammensetzen akzeptieren. Dies aber bitte nur als blindes Spiel der Elemente - keinesfalls als identifizierbares Individuum.

Dabei gehen letztlich Ekstase und Transzendenz - das Über-sich-selbst-hinausgehen - verloren. Das Ego igelt sich ein und verlangt von aller Welt, sich dem zu beugen. 

Und das ist letztlich der Punkt: Das Abstreiten des Ego (anatta) soll keinen Sinn machen. Das Einigeln im Ego (Egoismus) will keinen keinen Sinn machen.

Das Problem: Für sich alleine kann das Ego keinen Sinn machen.


[*] "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" - dem Sophisten Protagoras zugeschrieben.

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