Donnerstag, 30. September 2021

Der Mensch als Träger von Zwecken: Werte


Teil 1 -
 Politik: Ein ästhetisch-technisches Kontinuum
Teil 2 - Der Mensch als Träger von Mitteln: Normen

Insofern der einzelne Mensch sich in Gemeinschaft befindet, so begegnen ihm dort wie gesehen zunächst die Mittel, durch die die Gemeinschaft sich verwirklicht; sie setzen gewissermaßen das Sein des Gemeinschaftlichen. Insofern der einzelne Mensch sich in Gemeinschaft befindet, begegnen ihm jedoch auch immer schon die Zwecke, die zu jenen Mitteln gehören und ihnen Bedeutung verleihen; sie geben dem Gesetzten einen spezifischen Grund und fungieren so als Grund-Sätze, die ein Sollen bezeichnen.

In jedem konkreten Zustand menschlicher Gemeinschaft lassen sich so Sein und Sollen identifizieren. Und während das Sein zunächst betrachtet und analysiert (zergliedert) wird, geht das Sollen darüber hinaus: Es tendiert dazu, neues Sein zu synthetisieren (vereinigen), und das vollzieht sich über einen Akt, der als werten bezeichnet werden kann. Ein konkreter Zustand wird be-wertet, indem ihm und seinen einzelnen Elementen jeweils ein Wert zugesprochen wird: Die Elemente und der Zustand insgesamt werden auf-gewertet oder ab-gewertet, manchmal um-gewertet, und bei vielen Dingen spricht man vom Ver-werten und Ent-werten, insofern ein bestimmter Wert übertragen oder abgezogen wird. Dabei kann der Begriff "Wert", ebenso wie der Ausdruck "Norm", zunächst einmal mehrdeutig eingesetzt werden: Es kann sich um quantifizierte Zuschreibungen handeln, um Einstufungen von Qualität, um moralische Eigenschaften, um Messgrößen oder Ideale etc., die wiederum geschöpft, abgewägt, durchgesetzt oder priorisiert usw. werden.

Und ähnlich wie die Normen lassen sich auch individuelle Werte zusammenfassen in bestimmten Gruppen, insofern es Merkmale gibt, die sie jeweils gemein haben und in denen sie sich jeweils unterscheiden. Anders als bei den Normen handelt es sich jedoch nicht bloß um Aspekte: Werte können zwar konkret sein, sie sind allerdings der Tendenz nach immer schon sehr viel mehr theoretisch, insofern sie weniger eine Wirklichkeit an sich als viel mehr einen Anspruch bezeichnen, den der Mensch von vorn herein an eine Wirklichkeit heranträgt oder den er in seiner Perspektive vor die Wirklichkeit stellt - eben Wert-Vorstellungen. Die Unterscheidung zwischen mehreren Zusammenfassungen individueller Werte geschieht darum auf der Ebene der Wert-Arten selbst, und dies besteht zunächst ganz grundsätzlich in der Unterscheidung zwischen Sein und Nichts, also zwischen Sein-Sollen und Nicht-Sollen. Das Sein-Sollen kann jedoch auf zweierlei Weise verstanden werden, namentlich analog zu den Norm-Aspekten, als vorhandenes Sein und als hervorgebrachtes Sein; anders ausgedrückt: als Seiendes und Getanes, oder einfacher als Sein und als Tun. Damit lassen sich auf der Ebene der Wert-Arten ganz grundsätzlich solche benennen, die sich auf ein Sein-Sollen beziehen; solche, die sich auf ein Tun-Sollen beziehen; und solche, die sich auf ein Nicht-Sollen beziehen.

Sein-Sollen und Tun-Sollen beschreiben dabei insofern einen Wert-Relativismus, als sie bestimmte und konkrete Wirklichkeiten mit bestimmten Ansprüchen direkt positiv in Beziehung (Relation) zueinander setzen. Diese Beziehungen stehen wiederum für Wert-Urteile, die sich modal (möglich oder notwendig) und/oder hypothetisch (wenn A dann B) ableiten.
Dem gegenüber steht das Nicht-Sollen als Wert-Absolutismus, bei dem ein Sollen nicht positiv auf eine bestimmte und konkrete Wirklichkeit bezogen wird, sondern sich in der Verneinung vollzieht. Diese Verneinung steht für die Abwesenheit einer bestimmten und konkreten Wirklichkeit, und darum sind die aus ihr resultierenden Wert-Urteile kategorische Ableitungen. Die drei Wert-Arten lassen sich in Anschluss an den Philosophen Józef Maria Bocheński auch als ästhetische Werte (Sein-Sollen), moralische Werte (Tun-Sollen) und religiöse Werte (Nicht-Sollen) bezeichnen.

Ästhetisch ist das Sein-Sollen, insofern es sich auf einen Sachverhalt in sich und für sich bezieht, der anhand von Urteilen wie z.B. schön oder hässlich, elegant oder grob, edel oder vulgär, gut oder schlecht etc. be-wertet wird. Diese Werte sind wesentlich ideell, indem sie zwar direkt einleuchtend erscheinen, aber zumindest nicht unmittelbar das Gewissen herausfordern.

Moralisch ist das Tun-Sollen, und hierin wird das Gewissen unmittelbar angesprochen, insofern damit immer auch ein "Ruf zur Tat" (Bocheński) verbunden ist. Es bezieht sich auf einen Sachverhalt in Bezug zu einem Akteur wie auch in Bezug zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Raum, der anhand von Urteilen wie z.B. richtig oder falsch, erlaubt oder verboten, gerechtfertigt oder unanständig, gut oder böse etc. be-wertet wird. Durch ihren Aufruf zum Handeln sind diese Werte wesentlich materiell.

Religiös ist schließlich das Nicht-Sollen, das nicht nur den Intellekt wie die ästhetischen Werte und nicht bloß das Gewissen wie die moralischen Werte anspricht, sondern die Gesamtheit der menschlichen Gemütskräfte, insofern es nicht bloß um Gutes und Schlechtes oder Erlaubtes und Verbotenes geht, sondern um Heiliges und Sündiges.

So umschreiben die ästhetischen Werte jene Zwecke, die auf ein Schönes abzielen; die moralischen Werte jene Zwecke, die auf ein Gutes abzielen; und die religiösen Werte jene Zwecke, die auf ein Heiliges abzielen. Die ästhetischen Werte richten sich dabei vor allem auf das, was ethisch als Tugend benannt werden kann; die moralischen Werte richten sich demgegenüber vor allem auf das, was ethisch als Pflicht bezeichnet werden kann; und die religiösen Werte richten sich vor allem auf das, was ethisch (und vielleicht hochgradig missverständlich) Gesinnung genannt werden kann.

Auch für die Werte lässt sich letztlich die Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz nachziehen, und zwar dort, wo bestimmte Wert-Arten als Letztbegründung gelten, indem gerade das Schöne und das Gute den Eindruck von Endpunkten im Denken erzeugen, namentlich als Abstrakta, von denen aus sich der Blick auf die konkrete Welt dann wiederum entfaltet. Solch ein Entfalten lässt sich als Axiomatik bezeichnen, und es geschieht im Idealismus und im Materialismus, insofern sich alles aus den jeweiligen Axiomen "Idee" und "Materie" ableitet, sowie im Nihilismus, der sich aus dem Axiom des "Nicht(s)", dem bloßen "Nein", erhebt.
Insofern jedoch der andere Mensch kein reines Abstraktum ist - d.h. weder eine bloße Idee noch bloße Materie und ebenfalls nicht bloße Verneinung des Eigenen -, sondern ein konkretes Gegenüber, können Werte keine Letztbegründung liefern. Das transzendente Element verwirklicht sich folglich dort, wo man statt von Axiomatik von Axiologie sprechen kann und muss, wo ein Wert nicht in etwas Geltung beansprucht, sondern wo ein Wert für jemanden Geltung beansprucht: nicht im Schönen, sondern für den anderen als etwas Schönes; nicht im Guten, sondern für den anderen als etwas Gutes; nicht im Heiligen, sondern für den anderen als etwas Heiliges. Damit verlangen auch die Werte immer schon nach Rückbindung an eine bestimmte Wirklichkeit, von der her sie selbst Bedeutung empfangen, die sie dann an die Normen weitergeben können.

In der Zusammenschau von Normen und Werten zeigen sich sehr anschaulich die Grenzen dessen, was heutzutage gemeinhin als Konservatismus gilt: Erhard Eppler beschrieb in den 1970er Jahren einen Gegensatz zwischen Strukturkonservatismus und Wertkonservatismus, und anders als man vermuten könnte, bezieht sich diese Gegenüberstellung nicht auf einen "elbischen" Konservatismus des preußisch-kleindeutschen Nationalismus einerseits sowie einen "rheinischen" Konservatismus der adenauerschen Union andererseits. Ganz im Gegenteil subsumiert Eppler unter dem Strukturkonservatismus den "letzten Aufguß des Liberalismus der Jahrhundertwende" um 1900, während der Wertkonservatismus ausgerechnet in der Studentenrevolte 1968 und bei den Jungsozialisten verortet wird. Seitdem gilt gerade der Wertkonservatismus als das hehre Ideal des modernen Konservativen, der mit Franz-Josef Strauß "an der Spitze des Fortschritts" marschiert, während er den Strukturkonservatismus als überholte Form veralteter Machtverhältnisse ablehnt - obwohl die Einführung des Konzeptes "Wertkonservatismus" den spezifischen Zweck, also: Wert hat, das Etikett des Konservativen auch für bislang dezidiert nicht-konservative Kräfte positiv zu besetzen, während die negativen Aspekte einseitig auf die Gegenseite abgewälzt werden.
So steht der Strukturkonservatismus für die eigentliche Immanenz-Ideologie, für den positivistischen Fortschrittsglauben an die allein durch ihren Erfolg legitimierten Normen. Und der Wertkonservatismus kritisiert dies aus den durch und durch richtigen Gründen, indem er darauf hinweist, dass jede besondere Satzung notwendig allgemeine Grundsätze benötigt. Doch seinerseits scheitert der Wertkonservatismus dort, wo er selbst einer reinen Immanenz-Lehre anhängt: dort, wo er jedem gesetzten Zustand sein bloßes Nein entgegenhält; wo er ein abstraktes Ideal predigt; wo er lediglich seine eigene Satzung manifestieren will. Kurzum: Dort, wo es schlicht und ergreifend nur um "Werte" geht. Doch benötigen eben auch die Werte ihrerseits eine Grundlage, und diese Wert-Gründe, oder: Grund-Werte dürfen nicht übergangen werden.

Teil 4 - Der Mensch als Träger von Zielen: Grundwerte
Teil 5 - Der Mensch als Träger von Gründen: Prinzipien
Teil 6 - Individuelle und spezifische Personen

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