Montag, 6. September 2021

Gedanken zur priesterlichen Lebensform

Ich muss ja zugeben, dass ich mich etwas am weit verbreiteten Ausdruck "Pflichtzölibat" störe: Nach momentaner kanonischer Regelung gehört die Verpflichtung zur Ehelosigkeit in der lateinischen Westkirche zum Priesteramt dazu (und in den Ostkirchen m.W. nur zum Bischofsamt), so dass man parallel zur Gebetspflicht, der Gehorsamspflicht oder der Verpflichtung zum Streben nach Heiligkeit m.M.n. besser von der Zölibatspflicht sprechen sollte.

Die Umkehr der Wortbestandteile ist dabei nicht bloß rhetorischer Zinnober, sondern sie schiebt, wie ich sagen würde, auch den Fokus der Debatte in eine andere Richtung: Anstatt sich auf die sexuelle Enthaltsamkeit einzuschießen, die mit der (i.A. doch eher unangenehm konnotierten) Vorsilbe "Pflicht-" verknüpft wird, stehen hier die Aufgaben (Pflichten) des Priesters erstmal allgemein im Vordergrund, während der einleitende Bestandteil (Zölibat, Gebet, Gehorsam, ...) deren Konkretisierung anzeigt. So lässt sich dann viel besser Fragen: Gehört die Ehelosigkeit zum inneren Gehalt des Priestertums?

Ein paar unvollendete und unsystematische Gedanken:
Historisch betrachtet lautet die Antwort "nein". Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf beispielsweise argumentiert in seinem jüngsten Buch zum Zölibat, dass sich dieser nicht aus der Praxis der Apostel begründen ließe. Verbindlich festgeschrieben wurde die Regelung zur Ehelosigkeit erst und in variabler Bedeutung ab dem vierten Jahrhundert und mit Spezifizierungen dann ab dem 11. Jahrhundert im lateinischen Westen, was darauf schließen lässt, dass in der allgemeinen Praxis sowohl Ehe als auch Ehelosigkeit üblich waren und die Sache aufgrund praktischer Konflikte einer Klärung bedurfte. Der Osten, katholisch wie orthodox, hatte diese praktischen Konflikte offenbar nicht, weswegen dort auch keine entsprechende Klärung/Regelung existiert und verheiratete Priester bis heute als "normal" gelten.

Tatsächlich sehe ich den historischen Stellenwert des Zölibats im lateinischen Westen v.a. im ottonisch-salischen Reichskirchensystem begründet, das ab dem 10. Jahrhundert eine enge Verknüpfung von Kirche und Staat etabliert und formalisiert hat, insofern seitdem auch die kirchlichen Amtsträger in (Mittel-)Europa staatliche und politische Funktionen bekleideten: Hier sollte die priesterliche Ehelosigkeit funktional dafür sorgen, dass kirchliche Besitztümer auch bei der Kirche bleiben und nicht in geistliche wie weltliche Herrscherdynastien abwandern - zumindest idealiter, denn praktisch gab es einerseits durchaus einen kirchlichen Adel (allen voran die Familien Chigi und Borgia aus Italien) sowie andererseits weltliche Herrscher, die diese politische Schwäche der Kirchenstruktur für sich nutzen konnten (allen voran der westfränkisch-französische König, der noch vor der anglikanischen Abspaltung faktisch seine eigene "gallikanische" Kirche etabliert hatte).

Der schon genannte Hubert Wolf nennt historisch auch die Zeit nach der Reformation, in der der Zölibat gezielt als Merkmal katholischer Identitätsbildung und -pflege gegenüber der protestantischen Christenheit verwendet wurde, sowie im Zuge der Epoche der Aufklärung dann auch gegenüber der säkularen und antiklerikalen Welt.

In einer Zeit, in der das ottonisch-salische Reichskirchensystem weitgehend abgeschafft scheint (das letzte Erbe in Deutschland ist der staatliche Einzug der Kirchensteuern sowie die Anlehnung der Kirchenverwaltung/-hierarchie an den Öffentlichen Dienst), die Gemeinsamkeiten mit der protestantischen Christenheit mehr betont werden als die Unterschiede, und gegenüber der säkularen Welt viel mehr der Dialog als die Abgrenzung im Vordergrund steht, kann man darum m.E. durchaus berechtigt die Zölibatspflicht hinterfragen, weil die praktischen und faktischen (im Unterschied zu den o.g. kanonischen) Aufgaben des Priesters heute anders zugeschnitten sind und weder weltliche Herrschaft noch Identitätspolitik beinhalten: Die Ehelosigkeit gehört damit nicht zum inneren Gehalt, sondern "lediglich" zur äußeren Gestalt des (lateinischen) Priestertums.

Was ich unter diesem Licht betrachtet ganz interessant fände, wäre eine durchaus größere Orientierung der lateinischen Westkirche an den Ostkirchen - schließlich muss weltkirchliche Einheit ja nicht unbedingt bedeuten, dass sich alles nach lateinischen Maßstäben ausrichtet; und das gilt m.E. neben disziplinarischen Dingen auch z.B. für die Liturgie und gerade die Theologie.

Ein Aspekt scheint mir in der gesamten Debatte für und wider die Zölibatspflicht allerdings wenig beleuchtet: Es ist fast nur die Rede von den Männern, die verheiratet sein dürfen oder nicht. Selten hört man jedoch auch von den Frauen, die mit einem geweihten Mann verheiratet sind, und noch seltener von den Kindern, die einen geweihten Mann zum Vater haben. Kurze und aktuelle Einblicke dazu gibt es bei Domradio für die russische und bei Deutschlandfunk für die griechische Orthodoxie.

Abseits von oberflächlichen Fragen (Sollten die Frauen hierzulande dann ihre geweihten Ehemänner ganz vorbildlich mit "Hochwürden" ansprechen, um ein Beispiel zu setzen? Denn immerhin gewährleisten ja gerade diese Männer das Recht der Gläubigen auf die Sakramente) scheint mir, dass die Güterabwägung anders gelagert ist, als Hubert Wolf sie in seinem Buch ausführt. Diese besteht m.E. nämlich nicht zwischen (Zitat Wolf) "der heilsnotwendigen Eucharistie [und dem] nicht heilsnotwendigen Zölibat", sondern zwischen einerseits den Rechten und Pflichten, die aus dem Sakrament der Weihe hervorgehen, und andererseits den Rechten und Pflichten, die aus dem Ehesakrament hervorgehen.

Das ist nun kein bloß pragmatisches Argument der Verfügbarkeit (des Mannes wie der Sakramente), sondern ein Blick auf die anthropologische bzw. personale Dimension der Sakramente: So wie die Gläubigen ein Recht auf die Eucharistie haben, und so wie der Priester ein Recht auf Ehe und Familie hat, so haben Ehefrauen auch ein Recht auf ihren Ehemann und Kinder ein Recht auf ihren Vater. Wenn also eine Pflicht der Kirche gegenüber den Gläubigen besteht, durch eine adäquate Anzahl von Priestern den vollen Zugang zur Eucharistie zu sichern; und wenn eine Pflicht der Kirche gegenüber dem Priester besteht, seine Sexualität als vollwertig anzuerkennen; so besteht auch eine Pflicht der Kirche gegenüber den Ehefrauen und Kindern, diesen ein vollständiges Ehe- und Familienleben zu ermöglichen.

Das führt wieder zur Diskussion um den wesentlichen Gehalt des Priestertums, der trotz einer Vergütung in Anlehnung an die Beamtenbesoldung auch in Deutschland keinen Beruf, sondern eine Berufung beschreibt und sich damit eigentlich abseits der modernen west- und mitteleuropäischen Vorstellungen von geregelter Erwerbsarbeit mit Feierabend, Freizeit und tariflichem Urlaubsanspruch befindet.
Die Frage wäre also, ob unter den hiesigen sozio-ökonomischen Verhältnissen die Priesterweihe für verheiratete Männer pauschal geöffnet werden kann (im Unterschied zur bisherigen Einzelfallentscheidung per Dispens), ohne den Priester als Person und dessen Familie als personale Gemeinschaft letztlich strukturell auseinanderzureißen.
Hier sehe ich einen Unterschied zu osteuropäischen und außer-europäischen Gesellschaften, in denen das Individuum viel tiefer in der Struktur steht (und damit viel mehr von der Struktur gehalten, auch zusammen-gehalten, wird) als in Mitteleuropa. Soll heißen: Gerade die Atomisierung und Individualisierung der hiesigen (post-)modernen Gesellschaft lässt mich ein Fragezeichen an die sinnvolle Umsetzbarkeit anbringen.

In dieser Hinsicht - Berufung, Person und personale Gemeinschaft - scheint mir die Förderung der vita communis sehr viel geeigneter, um das Priestertum als eschatologisches Zeichen darzustellen: Wo Ehe und Familie ohnehin nicht mehr als übliches Mittel der Daseinssicherung verstanden werden, da wird die Diskussion um Für und Wider von Ehelosigkeit insgesamt bedeutungslos, und es scheint mir der Verzicht auf das gesamte "bürgerliche" Leben des guten Staatsbeamten mit Haus, Hof und Heimchen als übliches Mittel der Daseinssicherung sehr viel aussagekräftiger. 

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