Montag, 30. November 2015

Zur deutschen Identität

Es gibt einen Dualismus zwischen dem katholischen und österreichischen, durch und durch übernationalen Süd- und Westdeutschland (Rheinland) einerseits und dem protestantischen und preußischen, durch und durch kleinlich-nationalen Nord- und Ostdeutschland (Elbland) andererseits: Die alte Bundesrepublik war rheinisch dominiert, neben dem amerikanischen Einfluss gab es da freilich noch die französischen Nachbarn (und die grundlegende politische Spannung bestand zwischen Atlantikern und Gaullisten/Kontinentalisten, sowohl außen- als auch kulturpolitisch); die Ostzone hingegen umfasste die (alt-)preußischen Kernlande (Mark Brandenburg) plus das alte Königreich Sachsen und die beiden Großherzogtümer Mecklenburg (wo noch bis 1918 aus dem Kabinett heraus regiert wurde) - Hochburgen des ostelbischen Junkertums, dessen Mentalität natürlich nicht von jetzt auf nachher verschwand.

Es stimmt, dass in der DDR "das Deutsche Reich weiterlebte", insofern dort die preußische Obrigkeitsstaatlichkeit wie auch ein typisch deutschnationaler Exzeptionalismus überlebt haben - zwei Standbeine dessen, was seit dem wilhelminischen Zeitalter und stärker dann noch in der Weimarer Republik als wirklich deutsch galt. Emblematisch dafür: Ein Werbefilm über die Uniformen der NVA, welche "in den nationalen Traditionen unseres Landes" stünden, während der Kampfanzug der imperialistischen Bundeswehr (abschätzig) "ein NATO-Produkt" sei. Generell galt der DDR-Bürger dem eigenen Selbstverständnis nach auch als erster und bester Schüler des Sowjetmenschen. Von den Gastarbeitern in der SBZ brauchen wir wohl gar nicht erst anfangen.

Jedenfalls ist es auffällig, dass mit dem betont internationalistischen Selbstverständnis der DDR so eine entschieden nationale, ja: kleindeutsche Mentalität einhergeht und -ging. Analog dazu steht wohl auch die in der Propaganda betonte Entnazifizierung, die per sowjetischem Ukas ihr offizielles Ende fand, während dieser Prozess in der Bundesrepublik bis tief in die Gesellschaft hinein getragen wurde und auch heute noch nicht ganz abgeschlossen scheint, insofern die (oft bemühte und reale oder vermeintliche) "Pille der eigenen Schuld-bis-in-alle-Ewigkeit" noch ein Thema darstellt. Dass aber gerade dieses Schuldbewusstsein bedeutet, tief in der deutschen Tradition und Kultur zu stehen - sich eben nicht nur die Rosinen der eigenen Geschichte herauszupicken wie es im historischen Narrativ der DDR Gang und Gäbe war -, scheint noch nicht überall und ganz angekommen.

Diese ganze Mentalität lebt nun heute aber tatsächlich noch in den neuen Bundesländern fort: sei es nun bezogen auf die Wahlerfolge der rechtsextremen Parteien (die NPD gründete sich im Westen als national-konservative Partei, konnte sich aber erst dadurch strukturell etablieren, dass sie sich im Osten als national-sozialistische Partei neu aufgestellt hat); sei es bezogen auf die Stärke von *gida und AfD als Neuauflage der in der alten Bundesrepublik nicht durchsetzungsfähigen deutschnationalen Strömungen (die Deutsche bzw. Deutsch-Hannoversche Partei wurde von der Adenauer-CDU geschluckt, was dann auch dem Gesamtdeutschen Block das Licht ausgeschaltet hat); sei es bezogen auf die Überlebensfähigkeit der alten SED unter dem Namen der Linkspartei.

In diesem Licht lassen sich auch die ganzen Teile der "Reichsbürgerbewegung" einordnen als Ausdruck einer typisch kleindeutschen Mentalität - und der Erfolg dieser Gruppierungen vor allem in den Ost-Ländern ("Königreich Deutschland" gegründet in Wittenberg; "Republik Freies Deutschland" gegründet in Leipzig; "staatenlos.info" mit Sitz in McPomm, um mal nur die großen Namen zu nennen) erscheint damit nur logisch. In der alten Bundesrepublik haben solche Gruppierungen versucht, die Legitimierung durch die (West-)Alliierten - v.a. durch die Amerikaner - zu erhalten. Heutzutage legitimieren sich diese Gruppen im Osten selbst, aus eigenem Recht, und nehmen dafür die deutsche Geschichte und Kultur wie selbstverständlich für sich in Anspruch.

"Kleindeutsch"  meint dabei übrigens nicht das Gegenstück zu "großmächtig" - ganz im Gegenteil. Der Ausdruck stammt aus den Debatten des 19. Jahrhunderts rund um die sog. "deutsche Frage", und er umschreibt diejenigen Strömungen, gerade im Zuge der Revolution von 1848, die einen deutschen Staat unter preußischer Führung und unter Ausschluss des österreichischen Vielvölkerstaates wollten. Man könnte wohl auch "großpreußisch" dazu sagen.[1] Am Ende hat sich diese Linie durchgesetzt und vielfach wird gerade das mit "deutsch" gleichgesetzt - aber das ist nur die Hälfte, oder besser: ein Drittel des Ganzen.

Die Gegenströmung zu den "Kleindeutschen" war der "großdeutsche" Ansatz, der den österreichischen Vielvölkerstaat in ein deutsches Gemeinwesen einbinden und damit die Lösung der "deutschen Frage" als Lösung auf europäischer Ebene durchführen wollte bzw. sollte. Auch das ist deutsch. Ebenso deutsch sind Ansätze rund um ein "drittes Deutschland" (sog. "Triasvorstellungen"), die einen Bund der Mittelstaaten unter der Führung Bayerns und ohne Preußen und Österreich bezeichnen.

Während die DDR sich sehr klar in die kleindeutsch-großpreußische Tradition gestellt hat, nahm die Bundesrepublik alle drei Elemente in sich auf. "Kleindeutsch" war sie, insofern es darum ging, das 1870/71 gegründete kleindeutsche Gemeinwesen wieder zu einem Ganzen zu machen. "Großdeutsch" war sie, insofern die Frage einer deutschen (Wieder-)Vereinigung immer nur im europäischen Rahmen betrieben wurde und werden sollte. Ein "drittes Deutschland" war sie ganz praktisch, insofern weder Preußen noch Österreich unmittelbar dazugehörten, sondern es sich um einen Zusammenschluss tatsächlicher Mittelstaaten handelte. So betrachtet war die alte Bundesrepublik deutscher als die DDR, und so gesehen sind auch die daraus entspringenden westdeutschen Mentalitäten deutscher als die jenseits der Mauer. Die DDR erscheint da eher als letzter Rest eines "Rumpf-Preußen".

Deutschland war nie eine Insel in Europa, ganz im Gegenteil: Vor dem Aufkommen der "deutschen Frage" im 19. Jahrhundert war ein deutscher Gesamtstaat immer nur im europäischen Kontext existent und denkbar, der Kaiser war kein "deutscher Kaiser", sondern "(erwählter) römischer Kaiser", der (mehr oder minder zufällig) aus einem deutschen Land kam. Ausgedrückt wird dies z.B. durch eine spätmittelalterliche Maxime, dernach die Deutschen mit dem imperium ("Reich"), die Italiener mit dem sacerdotium (Priestertum), die Franzosen mit dem studium ("Wissenschaft" im weitesten Sinne) betraut seien.

Genau das haben die Gestalter der alten Bundesrepublik um Adenauer besser begriffen als ihre Gegner diesseits und jenseits der Elbe, und es ist wohl kein Zufall, dass eine Karte der alten EG so ziemlich aussieht wie eine Karte des Reiches von Karl dem Großen. Hierin liegt der Grund und am Ende auch der Schlüssel zur deutschen Identität. Eine Verkürzung rein auf kleindeutsch-großpreußische Befindlichkeiten verkürzt so auch deutsche Identität zu einer (rumpf-)preußischen. Und insofern ist auch "deutsche Kultur" niemals eigenständig gewesen, sondern immer nur im europäischen Kontext und in Verbindung mit anderen europäischen Kulturrahmen als etwas Eigenes erschienen.

Der Rückgriff auf "germanisch-slawische Stämme" datiert vornehmlich ins 19. Jahrhundert und ist bereits Teil einer kleindeutsch-großpreußischen Selbstdeutung, die den Deutschland-Mythos vermittels des roten Fadens "Kampf gegen Rom" von Arminius über Luther bis hin zu Bismarck zieht.[2] Und auch wenn die Reichsteilung sich letztlich über einen längeren Zeitraum hinzog, so ist doch die Scheidung anhand der Mentalitäten "römisch besetzt" und "freie Stämme" unzutreffend. Es waren gerade die "unrömischen" Gebiete, die in Folge der Reichsteilungen (das ist schon ein erster Indikator) Träger des römischen Kaisertums wurden. Und einen größeren Einfluss als der Mentalität kann man z.B. eher dem sächsischen Erbrecht zusprechen. Demnach wurde die Erbmasse eben nicht, wie nach fränkischem Recht, je nach Nachkommenschaft in mehrere Teile sortiert, sondern einer hat alles erhalten - die Primogenitur hat sich damit eigentlich erst durchgesetzt. Andererseits greift die Identifikation von "römisch" mit dem alten SPQR etwas zu kurz, denn weitaus wirkmächtiger war wohl die römische Kirche(nverwaltung). So wurden die Westslawen katholisch, also römisch oder lateinisch, während die Ostslawen orthodox, also griechisch oder "rhomäisch" wurden. "Slawisch" ist also auch "lateinisch" (auch wenn die Polen von den Russen bisweilen nicht so wirklich als echte Slawen anerkannt wurden).

Und da sind wir wieder beim politischen Mythos: Weitaus wirkmächtiger als der Bezug zu Karl dem Großen war bei der Reichsgründung 1870/71 z.B. der Bezug zu den Staufern, die als machtvolles teutsches Herrschergeschlecht schlechthin galten. Wilhelm I. wurde gar als "Barbablanca" zum Wiedergänger des Rotbärtigen stilisiert, der nun endlich aus dem Kyffhäuser erwacht sei. Die Staufer standen im zugehörigen historischen Narrativ dem Römer mindestens ebenbürtig gegenüber: Wo der Salier in Canossa noch zu Kreuze kriechen musste - eine Schmach undenkbaren Ausmaßes im deutschnationalen Empfinden -, da hat der Staufer das Reich heilig gemacht, denn die Titulatur sacrum imperium - "heiliges Reich" geht auf die Kanzlei Barbarossas zurück. In genau dieser Selbstdeutung stand das kleindeutsch-großpreußische Gemeinwesen (Adolf Stoecker: "Heiliges evangelisches Reich deutscher Nation"), und genau diese Selbstdeutung war am Ende auch staatstragend für die DDR, insofern sie sich als Arbeiter- und Bauernstaat in die marxistische Geschichtsphilosophie eingeordnet hat. Das entreißt, um beim Beispiel zu bleiben, aber wiederum die Stauferkaiser ihrer historischen Umgebung: Denn un-römisch waren sie nicht, wollten sie auch gar nicht sein; sondern: der Anspruch war, römischer noch als der Papst zu sein. Schließlich, so die Argumentation, habe das (römische) Reich bereits bestanden, als Christus geboren wurde, ja er wurde gar in das Reich hineingeboren und habe erst später dann die Kirche gegründet.

Um von diesem Exkurs wieder zurückzukehren: Auch in dieser geschichtlichen Selbstdeutung, dem kleindeutsch-großpreußischen Bezug auf die Stauferkaiser, wird am Ende das Deutschsein schlichtweg strukturell verkürzt, so wie dies durch die einseitige Fixierung auf Preußen geschieht. Preußen mag in Deutschland aufgehen, oder aufgegangen sein (in beiderlei Wortsinne), aber Deutschland geht nicht in Preußen auf, ging nie in Preußen auf, und kann prinzipiell nicht in Preußen aufgehen. Das ist der große Fehler, der sich von den kleindeutschen Revolutionären über das DDR-Selbstverständnis bis hin zu den heutigen Deutschnationalen und "Kulturpatrioten" zieht.

Um es pointiert auszudrücken: Sie sind so gesehen nicht zu deutsch, sondern zu undeutsch.

 

[1] Ein alternatives Modell zum Fürstenbund von 1870/71 bestand so z.B. darin, dass Preußen die anderen Staaten schlichtweg annektieren solle; mit Westfalen, Hessen-Nassau, Hannover sowie Schleswig und Holstein wurde das praktiziert. 

[2] Herfried Münkler hat unter dem Titel "Die Deutschen und ihre Mythen" eine sehr empfehlenswerte Studie veröffentlicht. Zum Einstieg (Münklers Buch umfasst knapp 500 Seiten inhaltlichen Text, dazu kommt ein umfangreicher Anmerkungs- und Literaturapparat) kann ich auch Hagen Schulzes Essay unter dem (zugegeben reißerischen) Titel "Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?" empfehlen.

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