Donnerstag, 3. Dezember 2015

Zum sog. "dritten Weg"

Ein "dritter Weg" im Zuge der Wiedervereinigung wäre mittel- bis langfristig nicht lebensfähig gewesen, da er in letzter Konsequenz den (gerne als Begriff gebrauchten) "Sonderweg" zementiert bzw. gepflegt hätte. Ein als komplett neuer Staat wiedervereinigtes Deutschland hätte sich in der veränderten weltpolitischen Lage vollständig neu orientieren müssen - mit der Hypothek einer faktisch abgebrochenen europäischen Integration. Genau so eine selbstgewählte Isolation war jedoch maßgeblich für den Prozess verantwortlich, an dessen Ende die deutsche Teilung stand.

Es ist notwendig für ein gesamtdeutsches Gemeinwesen, die drei Dimensionen des "Deutschseins" in sich zu tragen: kleindeutsch-preußisch, "großdeutsch"-europäisch, "Trias" der Mittelstaaten. Die Bundesrepublik hat alle drei Elemente in einem sinnvollen Verhältnis zueinander verwirklicht. Das wäre bei einem "dritten Weg" (v.a. mit dem Anspruch, "zwischen West und Ost" zu stehen und "weder Kommunismus noch Kapitalismus" zu praktizieren) nicht (mehr so) gegeben gewesen, sondern hätte wohl eher ein Wiederaufleben von Schaukelpolitik und Autarkiebestrebungen bedeutet.

Ganz davon abgesehen hat der Osten nunmal schlichtweg den Kalten Krieg verloren, wie man es gerne auch salopp ausdrückt. Preußen hat seinerzeit nach dem deutschen Krieg z.B. die unterlegenen Bundesglieder Hannover, Hessen, Nassau und Frankfurt annektiert - und auf eine Annexion weiterer Bundesglieder u.a. auch deshalb verzichtet, um die größere, europäische Dimension einer deutschen Einigung nicht zu gefährden. Analog dazu sind die Länder zwischen Elbe und Oder der Bundesrepublik beigetreten, während diese im Gegenzug endgültig (im Sinne von: völkerrechtlich für das gesamte Deutschland verbindlich) auf die "Ostgebiete" verzichtet hat, um die europäische Dimension der deutschen Einigung nicht zu gefährden. Der "Anschluss nach Artikel 23" hat so auch die weltpolitischen Ambitionen in Deutschland auf gerade für Deutschland elementare Prinzipien verpflichtet, die eine Vereinigung auf Grundlage von Artikel 146 nicht effektiv hätte bewahren können.

Es gibt in der Revolutionsforschung das Wort von der "Revolution der steigenden Erwartungen", und es steht für eine Situation, in der die Hoffnungen, Absichten und Bestrebungen der Akteure schneller wachsen oder größer werden als der tatsächlich vorhandene oder sich vollziehende Wandel einer Struktur. Dieses Phänomen lässt sich in jedem revolutionären Szenario beobachten, und das setzt diejenigen in Verantwortungspositionen unter Druck. Die Rede von "Sachzwängen" gibt die Situation dieser Verantwortlichen ungenau wieder, weist aber in die grobe Richtung: bestimmte Möglichkeiten sind an bestimmte Bedingungen gebunden, Zeit ist begrenzt, und je größer die Geschwindigkeit des erwarteten Wandels von der des tatsächlichen Wandels abweicht, desto größer wird die Gefahr, dass die sich wandelnde Struktur überdehnt wird oder gar reißt und dadurch auch Gewalt Raum findet - sei dies nun seitens der "Revolutionäre", sei es von Seiten der Staatsmacht. Es hängt natürlich viel daran, was man nun genau unter einer Revolution versteht, und da gehen die Lehrmeinungen durchaus auseinander: Manche zählen dazu jedwede (quasi-)"außerplanmäßige" Veränderung in einem Staat, andere lassen nur erfolgreiche Umstürze gelten (demnach handle es sich z.B. bei 1848 nicht um eine Revolution), wieder andere - bspw. Hannah Arendt - unterscheiden zwischen (echter) Revolution und (bloßer) Rebellion auf Grundlage einer normativen Einschätzung der resultierenden (Staats-)Ordnung. Unter all diesen Ansätzen lässt sich 1989/90 als Revolution verbuchen - es sei denn, man begreift Revolution als notwendig gewaltsamen Umsturz. Andererseits würde ich den Mauerfall nicht als Anfang, sondern bereits als Ergebnis eines revolutionären Prozesses ansehen. Schabowskis "sofort, unverzüglich" scheint mir bereits ein Resultat der "Revolution der steigenden Erwartungen".

Dass es nach dem Beitritt der neuen Länder eine Situation gab, in der Glücksritter in Ost und West mitunter schlechte oder krumme Geschäfte abziehen konnten, und dass auch die Bundesregierung nicht unfehlbar war, scheint bei allem berechtigten Ärger darüber ganz natürlich. Andererseits wird der damaligen Regierung Kohl, und hier v.a. Wolfgang Schäuble, ja aus gewissen Kreisen auch vorgeworfen, in der "nationaldemokratischen Revolution" von 1989/91 bewusst auf nationalen Pathos und Deutschtümelei verzichtet zu haben.

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