Montag, 7. Dezember 2015

Soziale Marktwirtschaft und sozialer Staat

Soziale Marktwirtschaft ist praktizierter Neoliberalismus - schließlich entstammt diese Konzeption der ordoliberalen Strömung innerhalb der Wirtschaftswissenschaften. Aber der akademische Elfenbeinturm ist nur in den seltensten Fällen intuitiv, darum eine politische Argumentation:

"Sozialisten" sollten anerkennen, dass es sich dabei um echte Marktwirtschaft handelt, und dass der (deutsche) Sozialstaat wie er von den 1950er bis in die 1970er Jahre hinein aufgebaut wurde, eine Abweichung vom eigentlichen Konzept darstellt, die vom sozialstaatlichen Unions-Flügel um Adenauer durchgesetzt wurde, gegen die wirtschaftsliberalen Leute um Erhard und Müller-Armack, und um auch den Sozialdemokraten entgegenzukommen.

"Kapitalisten" andererseits sollten anerkennen, dass der Markt eben nicht in erster Linie ein Instrument zur Herstellung bestimmter Ergebnisse darstellt, sondern die natürliche Form zwischenmenschlicher Kommunikation unter dem Aspekt der Knappheit, die als solche des Schutzes durch eine Instanz bedarf, welche zur Ausübung von Macht und Gewalt legitimiert ist.

Soll heißen: Die soziale Marktwirtschaft ist kein "dritter Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus, sondern in gewisser Weise beides, insofern beide die Ökonomie dem Menschen dienstbar machen wollen anstatt umgekehrt.

Der häufig gehörte Ausdruck "Sozialstaat als Grundrecht" bezieht sich wohl auf Artikel 20 GG, der zwar nicht im engeren Sinne zu den Grundrechten gehört - die werden ihrerseits durch die Artikel 1 bis 19 GG umrissen. Aber der Artikel fällt doch unter die "Ewigkeitsklausel" von Artikel 79 Absatz 3 GG, da hier grundlegende Strukturprinzipien der Bundesrepublik festgelegt werden. In Artikel 20 Absatz 1 GG heißt es jedoch: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" (Kursivsetzung von mir). "Sozialer (Bundes)Staat" und "Sozialstaat" sind nicht automatisch deckungsgleich, wie eben die Einführung des Sozialstaates historisch zeigt; das geschah nämlich in folgender Reihenfolge: Zuerst wurde mit dem Grundgesetz 1949 der sozialen Marktwirtschaft ("im ursprünglichen Sinne" bzw. gemäß Erhard und Müller-Armack) ein staatlicher Rahmen verpasst ("sie wurde eingeführt"); dann kam ab den 1950er Jahren (spätestens mit Adenauers Rentenreform, die ihm neben anderen Dingen die absolute Mehrheit bei der Wahl 1957 brachte) der Auf- und Ausbau des Sozialstaates hinzu. Hierdurch wiederum hat sich der Begriff von der "sozialen Marktwirtschaft" im allgemeinen Sprachgebrauch gewandelt hin zu dem, was man heute allgemein darunter subsumiert: soziale Wohltaten, die auf dem Markt erwirtschaftet werden (müssen).

Ich habe insofern den Eindruck, als würden im Diskurs mehrere Dinge ganz gerne durcheinander gebracht:

  • "Sozialer Staat"  und "Sozialstaat" sind nicht dasselbe.-- Die Formel vom sozialen Staat eröffnet dem Staat den Weg, Sozialleistungen bereitzustellen, ja. Aber sie verpflichtet ihn nicht auf ein konkretes Modell: Der soziale Staat ist so gesehen die Bedingung der Möglichkeit des Sozialstaates, der Sozialstaat umgekehrt aber nicht notwendige Folge des sozialen Staates. Das zeigt sich im historischen Befund wie auch im Verfassungsvergleich. Der Sozialstaat wird, wenn auch nicht explizit so bezeichnet, ganz deutlich z.B. in Artikel 15 der DDR-Verfassung von 1949 festgelegt. So etwas fehlt im Grundgesetz. Artikel 20 GG gibt der Bundesrepublik (im Vergleich: lediglich) die Erlaubnis oder Kompetenz, eine Sozialgesetzgebung zu erlassen.
  • "Soziale Marktwirtschaft"' und "soziale Marktwirtschaft" sind nicht dasselbe.-- Im Verlauf der Geschichte der Bundesrepublik hat der Begriff von der sozialen Marktwirtschaft im allgemeinen Sprachgebrauch einen Bedeutungswandel erfahren. In seinen Ursprüngen geht dieses Konzept davon aus, dass der Markt an sich bereits sozial sei, und gerade deswegen vom Staat durch bestimmte Eingriffe bewahrt und geschützt werden muss. Genau diesen Anspruch spiegelt auch Artikel 20 GG wieder. Durch den Auf- und Ausbau des Sozialstaates als inhaltliche Präzisierung des sozialen Staates durch die Politik der Regierungen Adenauer ff. kam es zu einer Verschiebung der Bedeutung, die als Folge des Auf- und Ausbaus des Sozialstaates diesen als wesentlich zur sozialen Marktwirtschaft gehörend auffasst. Die soziale Marktwirtschaft als an sich sozialer Markt, der durch den Staat beschützt werden muss, wurde unter Artikel 20 ins GG aufgenommen. Die soziale Marktwirtschaft als Markt, der durch den Sozialstaat gezähmt wird, beschreibt etwas anderes, denn sie ist eine politische und inhaltliche Ausgestaltung.
  • "Sozial" und "sozial" sind nicht dasselbe.-- "Sozial" stellt einerseits das Synonym zu "gesellschaftlich" dar, und andererseits kann es aber auch soviel wie "gemeinnützig, hilfsbereit, barmherzig" bedeuten. Ersteres korrespondiert eher mit der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs von der sozialen Marktwirtschaft, insofern es um den Schutz des an sich sozialen Marktes geht; letzteres umschreibt eher die politische und inhaltliche Ausgestaltung, insofern es um die Erzeugung oder den Erhalt sozialer Standards geht.

Diese Dinge kann man nicht vollständig voneinander trennen, aber man muss sie doch deutlich voneinander unterscheiden.

Artikel 20 GG zielt insofern nicht nur auf Bewahrung und Schutz des Marktes - das umschreibt die Sache aus Sicht der Marktwirtschaft[1] -, sondern aus der Perspektive des Staates gilt gerade auch andersherum: Staatsziel ist der soziale Staat, und das heißt, dass der Staat in den ökonomischen Prozess eingreifen darf, kann und beizeiten auch muss. Diese Kompetenz versteht sich nicht von selbst, da die Bundesrepublik in Artikel 1 GG die Existenz eines vorstaatlichen Bereiches anerkennt, der sich der staatlichen Handlungskompetenz prinzipiell entzieht.

Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser sieht in seiner "Deutsche(n) Wirtschaftsgeschichte"[2] die Bundesrepublik durch Artikel 20 GG durchaus in der Tradition der Wirtschafts- und Sozialordnung der Weimarer Reichsverfassung. Er zeigt aber auf, dass und warum so gut wie alle westdeutschen "Verfassungsväter" vor einer konkreten Festschreibung sozialer oder wirtschaftlicher Ziele im Grundgesetz zurückschreckten bzw. in diese Richtung Zurückhaltung übten: 

  • Die Sozialdemokraten seien vor einem Auseinanderklaffen von Verfassungsanspruch und -wirklichkeit wie in der Weimarer Zeit zurückgeschreckt und hätten eher darauf spekuliert, durch einen Sieg bei der Bundestagswahl die ökonomischen Weichen in ihrem Sinne zu stellen. 
  • Die Liberalen hätten die Frage einer "gerechten, sozialen Wirtschaftsordnung" nicht in der Verfassung lösen wollen, sondern mittels "nachhaltiger ordnungspolitischer Gestaltungskraft". Hinzu käme deren starke Rolle im Frankfurter Wirtschaftsrat, deren Wirkungen durch die "ordnungspolitische Neutralität des Grundgesetzes" begünstigt worden seien.
  • Die Union hingegen habe sich erst spät, mit den Düsseldorfer Leitsätzen (15.7.1949, also nach Verkündung des Grundgesetzes), vollends zur (sozialen) Marktwirtschaft bekannt. Damit seien auch die Ordoliberalen im Kreis der CDU - trotz ihres im Kern christlich-ethischen Hintergrundes[3] - erst spät zu einer dominierenden Stellung gekommen.

So gesehen wäre die Formel vom "sozialen Staat" eine wirkliche Kompromissformel zwischen den Parteien gewesen: Die Sozialdemokraten hofften auf ihre Wirkmacht für die Zukunft, die Freidemokraten hofften auf ihre Wirkmacht aus der Vergangenheit heraus, und die Christdemokraten waren gegenwärtig uneins.

Zwei wichtige Faktoren nennt Abelshauser darüber hinaus, die wohl nicht minder entscheidend gewesen sein dürften: Einerseits der dezidierte Provisoriumscharakter des Grundgesetzes, der bei allen beteiligten Verfassungsvätern und -müttern ein Bewusstsein für bestimmte Grenzen des neu zu gründenden Staates wach hielt. Die Vorläufigkeit des westdeutschen Staates sollte so gesehen nicht dadurch unterminiert werden, dass das Grundgesetz eine konkrete Wirtschafts- und Sozialordnung festschreibt. Zum anderen: die aliierten Besatzer. Obwohl "die Mehrheit aller politischen Kräfte in Westdeutschland [... eigentlich ...] eine gemeinwirtschaftlich bestimmte Wirtschaftsordnung [...] etablieren"' wollte, scheiterte genau das an der Besatzungsmacht. Die soziale Marktwirtschaft wäre demnach auch ein pragmatischer Kompromiss gewesen, weil sie den geringsten Aufwand bedeutete.

In Artikel 20 GG wird "eine im Kern 'soziale' Lesart" vertreten. Ebendas bedeutet (in ihren Ursprüngen) die soziale Marktwirtschaft. Mir scheint, es wird ganz gerne an einer Stelle ein Gegensatz aufgebaut, an der es keinen gibt: Weil das Grundgesetz keine konkrete Wirtschafts- und Sozialordnung vorschreibt, steht es den Bürgern frei, diese in eigener Verantwortung zu gestalten. In ökonomischen Begriffen ausgedrückt heißt das "Marktwirtschaft". Weil es absolute Freiheit im menschlichen Zusammenleben nicht gibt bzw. geben kann, hat der Staat die Kompetenz, zur Sicherung der relativen Freiheit seiner Bürger in die von den Bürgern in eigener Verantwortung gestaltete Wirtschafts- und Sozialordnung einzugreifen. In ökonomischen Begriffen ausgedrückt heißt das "soziale Marktwirtschaft".

Das Grundgesetz hat darum keinen "Freifahrtschein der Marktwirtschaft" ausgestellt, sondern es hat dem neu verfassten Bundesstaat die Kompetenz erteilt, in die von den Bürgern in eigener Verantwortung gestaltete Wirtschafts- und Sozialordnung einzugreifen. Die Marktwirtschaft ihrerseits erhält ihr Dasein nicht vom Staat, sondern von den Menschen, die daran teilnehmen: Ökonomie ist soziales Handeln unter dem Aspekt der Knappheit (von materiellen Ressourcen), und sie gehört damit in den vorstaatlichen Bereich. Der Staat kommt erst dort ins Spiel, wo es Institutionen (das heißt: Regeln für das soziale Handeln) gibt. Kurzum: Gemäß Grundgesetz begründet die Bundesrepublik kein Wirtschaftssystem, sondern die Bundesrepublik nimmt sich als Staat das Recht heraus, in den wirtschaftlichen Prozess einzugreifen.

Soziale Marktwirtschaft ist insofern weniger etwas, das staatlicherseits eingeführt und durchgesetzt würde (wie z.B. eine zentralstaatliche Planwirtschaft, die Bauernhöfe kollektivert), sondern es ist das, was passiert, wenn man einen beschränkten Staat gründet.

 

[1] Zumindest wenn man dem Ordoliberalismus der Freiburger Schule der Nationalökonomie folgt.

[2] Abelshauser, Werner, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegewart (Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 1204), Bonn 2011, S. 186-189. 

[3] Das "ordo" aus "ordoliberal" bezieht sich durchaus auf den scholastischen Begriff. 

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