Üblicherweise werden jedoch nicht alle drei dieser Bereiche gleichermaßen oder adäquat im Rahmen des Lebensschutzes betrachtet und diskutiert.
Die größte Gefahr in der Debatte stammt dabei - leider - nicht von Faktoren, die außerhalb der Lebensschutz-Bewegung liegen, sondern von einer Einstellung, die zum einen den gesamten Komplex auf einen einzigen Aspekt (üblicherweise ist dies die Abtreibung) reduzieren möchte und damit einhergehend das Thema zum anderen formal-rhetorisch über schlichtes Partisanentum betrachtet: Die bloße Etikettierung als "pro-life" (oder schlicht "anti-abortion") ersetzt so gewissermaßen eine konsistente Lebensethik.
Eine sehr große Hypothek in dieser Hinsicht stellt die Verknüpfung der Lebensschutz-Bewegung mit bestimmten politischen Parteiungen und Organisationen dar - an vorderster Stelle die Verbandelung des pro-life movement mit der Partei der Republikaner in den USA. Auf diese Weise vermengt sich das Anliegen der Lebensschutz-Bewegung mit den programmatischen Ansichten und Vorgaben der politischen Organisationen in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Diskurses, und ganz besonders sichtbar wird dies in den üblichen "Whataboutismen", die im sozio-politischen Diskurs gerne gegenüber Lebensschützerinnen eingebracht werden. Diese lassen sich dergestalt zusammenfassen, dass das menschliche Leben vor der Geburt als etwas Hochheiliges gelte und deshalb beschützt werden müsse, nach der Geburt jedoch auf sich gestellt im survival of the strongest zu bestehen habe: "Euch interessieren nur die Ungeborenen, aber nach der Geburt sind euch die Menschen egal" oder "Leben in der Gebärmutter um jeden Preis retten, aber Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen".
Solche Vorwürfe mögen in der konkreten Situation zumeist ein bloßer Ausdruck eines an die Diskussionspartnerin herangetragenen Vor-Urteils sein, schließlich befürworten viele Lebensschützerinnen zumindest in Europa sowohl den Sozialstaat als auch staatliche Hilfen für flüchtende Menschen. Diese Vorwürfe zeigen jedoch eine eklatante Fehlentwicklung an, die seitens der Lebensschützerinnen selbst ernst genommen werden muss und nicht marginalisiert oder leichtfertig abgetan werden darf.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Verbindungen zwischen der Lebensschutz-Bewegung und politischen Gruppierungen sind nicht per se schlecht, und sie sind auch nicht in sich problematisch - allgemein und prinzipiell gesprochen. Schließlich können auf diese Weise die Anliegen des Lebensschutzes als legitime Interessen in das politische Gemeinwesen eingebracht werden, um Wirkung zu entfalten. Im Besonderen besteht allerdings immer die Gefahr, dass diese Anliegen politisch vereinnahmt werden und die jeweilige politische Gruppierung sich selbst als alternativlos verkauft und damit aus den Reihen der Lebensschutz-Bewegung Ein-Themen-Wähler rekrutiert, die programmatisch (fast?) alles akzeptieren, so lange "ihr" Thema Berücksichtigung findet: So steht der Lebensschutz vor allem in den USA und in Osteuropa gewissermaßen in der Geiselhaft des Populismus und dessen autoritärer Staatsentwürfe.
In Deutschland wiederum versucht sich eine Partei entsprechend in Position zu bringen, die es nicht einmal schafft, Faschisten aus den eigenen Reihen auszuschließen. Auf diese Weise werden jedoch die Anliegen und Positionen der Lebensschützerinnen bereits diskreditiert noch bevor der eigentliche Diskurs überhaupt in concreto beginnt: Bezeichnend hierfür ist die Stelle, an der das Thema Abtreibung im Grundsatzprogramm jener Partei zum ersten mal genannt, d.h. programmatisch eingeführt wird - namentlich als Alternative zur "Masseneinwanderung", um einen "ethnisch-kulturellen Wandel" einzudämmen. Der Lebensschutz taucht hier primär auf als ein Instrument, das - salopp gesprochen - dem Zweck dient, die Anzahl der Ausländerinnen in Deutschland radikal, d.h. von der Wurzel her zu regulieren. So steht eigentlich gar nicht der Schutz des Lebens im Vordergrund, sondern der Schutz des Volkes - was auch immer das konkret bedeuten mag. Anders formuliert: Der Lebensschutz wird auf diese Weise zur bloßen Rahmensetzung, innerhalb derer eine andere Auseinandersetzung (nämlich Identitätspolitik) stattfindet.
Komplementär zum Ansatz der parteipolitischen Heimat des völkischen Denkens in der Bundesrepublik steht die Herangehensweise jener Partei, deren rechtsidentische Vorgängerin 40 Jahre lang in den deutschen Ländern östlich der Elbe regiert hat (zwischen 1968 und 1989 sogar mit Führungsanspruch von Verfassungsrang): So behandelt beispielhaft eine Broschüre der entsprechenden Fraktion aus dem 19. deutschen Bundestag die Embryologie lediglich als "Framing", d.h. als Rahmensetzung einer Debatte, die sich recht eigentlich um Macht, Selbst- und Fremdbestimmung über den Körper von Frauen drehe. In dasselbe Horn stoßen auch allerlei Diskurs- und Argumentationshilfen, die den Lebensschutz auf "bioethische Strategien" reduzieren anstatt von Strategien auf der Grundlage bioethischer Erkenntnisse oder zumindest bestimmter bioethischer Positionen zu sprechen. Und wie sein Amtsvorgänger die Corona-Pandemie anfänglich unter dem Schlagwort "hoax" abgetan hat, so scheint nun Präsident Biden die Sichtweise, das individuelle menschliche Leben beginne mit der Befruchtung, als bloßes "Glauben" (believe) zu marginalisieren.
Es handelt sich bei all diesen Beispielen um eine Rhetorik, die verrät, dass das Thema als bloß politischer Meinungs- und Machtkampf wahrgenommen wird, wodurch infolge ein politisches Partisanentum greift: "Die anderen" müssen Unrecht haben, weil sie nun einmal "die anderen" sind. Eine Folge dieser Engführung des Themas auf den bloßen Meinungskampf zeigt aktuell die Kontroverse um das texanische Abtreibungsgesetz, die keinen zivilisierten Mittelgrund mehr zu kennen scheint, weder im Gesetz selbst (das einerseits eine Fristenlösung anhand von viability setzt statt eine Indikationsregelung zu etablieren sowie andererseits über Zivilklagen durchgesetzt werden soll statt von der staatlichen Strafverfolgung) noch im politischen Umgang damit (Legislative und Judikative werden gegeneinander in Stellung gebracht, ebenso die bundesstaatliche Ebene gegen die föderale Ebene).
Ein zivilisierter Mittelgrund ist jedoch unbedingt notwendig: nicht nur, um den Lebensschutz im Diskurs zu platzieren, sondern auch, damit er adäquate Wirkungen entfalten kann. Nur auf einem solchen Mittelgrund können miteinander streitende Positionen ausgetauscht werden, und nur hier kann - um es mit einem Kalenderspruch zu sagen - die Stärke des Arguments dem Argument des Stärkeren den Rang ablaufen.
Ein lohnender Ansatz, so einen Mittelgrund zu finden, ergibt sich aus der Frage, wie sich die genannten Bereiche Abtreibung, Todesstrafe, Sterbehilfe sinnvoll miteinander verbinden lassen, denn dies ist auf mehrerlei Art und Weise möglich.
Die erste Möglichkeit lässt sich als chrono-logisch bezeichnen: Es geht schlicht um den Schutz des Lebens am Anfang und am Ende, also um den rein zeitlichen Bezug der Fragestellung. Dies ist für sich genommen allerdings bedeutungslos, daher muss notwendig eine ideo-logische Satzung als folgerichtiges Aufeinander-Beziehen von verschiedenen ideellen Sachverhalten folgen: Es geht recht eigentlich um den Zeit-Wert des menschlichen Lebens.
Die zweite Möglichkeit lässt sich pragmatisch nennen: Als besondere Variante der allgemeinen Maxime "Leid minimieren und Glück maximieren" operiert ein pessimistischer Konsequentialismus bzw. wohlwollender Utilitarismus, um die größtmögliche Bedrohung von Leib und Leben für die größtmögliche Anzahl von Menschen abzuwenden bzw. um den größtmöglichen Lebens-Wert für die größtmögliche Anzahl von Menschen sicherzustellen.
Die dritte Möglichkeit kann als axiomatisch charakterisiert werden: Menschliches Leben wird dabei als vor-sittliches Gut begriffen. Es ist als solches Möglichkeit und Grundlage für wertgebundenes Sich-Verhalten, d.h. sittliches Handeln zur Verwirklichung von bestimmten Gütern; es fällt aber doch nicht per se mit einem sittlichen Gut zusammen. Entscheidend für eine Positionierung unter diesem Gesichtspunkt ist insofern der sittliche Wert des menschlichen Lebens.
Diese Verbindungen sind ihrer Anlage nach eher modal und akzidentiell, da sie sich auf die Frage nach dem Wert des menschlichen Individuums herunterbrechen lassen, von deren Antwort dann die Befürwortung oder Ablehnung von Abtreibung, Todesstrafe und Sterbehilfe abhängt. Vorausgesetzt wird immer schon eine bestimmte Wert-Schätzung des menschlichen Lebens, die allerdings pragmatisch reduziert ausfallen kann (z.B. durch erworbene Schuld) und/oder axiomatisch sittlichen Gütern unterlegen ist (z.B. vermittels Bevorzugung des sittlichen Gutes "Gerechtigkeit" gegenüber dem vor-sittlichen Gut "Leben").
Demgegenüber lässt sich jedoch auch eine Verbindung der Bereiche anführen, die ontologisch und axiologisch genannt werden kann und sich am menschlichen Person-Sein orientiert: Einheit und Würde der Person bestehen materiell und formal unabhängig sowohl von quantifizierbaren Variablen wie Alter, Größe, Gewicht (tatsächlich ist die Einheit der Person Voraussetzung, um überhaupt auf diese Weise quantifizieren zu können) als auch von den konkreten Modalitäten des Handelns, welches dann in Schuld oder Unschuld mündet (tatsächlich ist die personale Würde notwendige Voraussetzung, um überhaupt konkret zwischen Schuld und Unschuld unterscheiden zu können).
Entscheidend ist hierfür das Menschenbild: Grundlegend steht das Prinzip der Personalität als Ursprung auch des Politischen, aus dem sich Subsidiarität und Solidarität als Individual- und Strukturgrund ableiten.
Damit werden zwei wesentliche Punkte ausgesagt: Insofern die Verbindung der Bereiche auf der Grundlage des Person-Seins erfolgt, ist Lebensschutz immer schon im vor-politischen Raum angesiedelt; und es muss die "zweite Öffentlichkeit" eine tragende Rolle spielen, was per se Sozialpolitik impliziert. Lebensschutz ist in diesem Sinne zudem nicht auf die drei genannten Bereiche Abtreibung, Todesstrafe, Sterbehilfe beschränkt, sondern er strahlt von hier auch auf andere Bereiche aus: von der Frage nach dem "gerechten" Krieg über den Umgang mit pandemischen Bedrohungen (ja: Infektionsschutz ist Lebensschutz) bis hin zum Klimawandel (ja: auch Naturschutz ist Lebensschutz). Lebensschutz kann in diesem Sinne kein Ein-Themen-Wählertum begründen, sondern ist notwendig breit(er) aufgestellt.
Statt dem schlichten pro-life, das sich faktisch auf nur eine Facette im gesamten Komplex konzentriert (wie gut und zutreffend man das auch immer rechtfertigen mag), wäre deswegen eher die Bezeichnung whole life angebracht, da es um das Leben des Menschen als Ganzes geht: in der ganzen Fülle, in der ganzen Ausdehnung und im ganzen Wert seines Daseins.
Im Unterschied zur Bezeichnung pro-life, das eine binäre Grenzziehung etabliert und konsequenterweise anti-life zum Gegenpol hat (politisch euphemisiert freilich als pro-choice mit der spiegelbildlichen Nemesis anti-choice), bietet die Bezeichnung whole life den Diskussionspartnerinnen schon aus sich heraus einen grünen Zweig an: Sie mögen alles in allem betrachtet zwar nur (a) part (of) life vertreten, doch es kann durchaus anerkannt werden, dass es auch ihnen irgendwie irgendwo in irgendeiner Form um das Leben geht. Auf diese Weise kann bereits die bloße Selbst-Identifikation deeskalierend wirken, da sie primär auf eine Gemeinsamkeit zielt und nicht auf Unterschiede. Hinzu kommt freilich, dass auf diese Weise auch pro-life selbst in die Pflicht genommen wird, insofern zumindest Teile der Bewegung lediglich (a) part (of) life vertreten, womit wiederum einer politischen Vereinnahmung des Lebensschutzes von der Wurzel her kritisch vorgebeugt werden kann.
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