Donnerstag, 21. Oktober 2021

Individuelle und spezifische Personen

Teil 1 - Politik: Ein ästhetisch-technisches Kontinuum
Teil 2 - Der Mensch als Träger von Mitteln: Normen
Teil 3 - Der Mensch als Träger von Zwecken: Werte
Teil 4 - Der Mensch als Träger von Zielen: Grundwerte
Teil 5 - Der Mensch als Träger von Gründen: Prinzipien

Es muss noch eine bestimmte Sache angesprochen werden, um das Prinzip der Personalität, das menschliche Dasein als Person, nicht nur adäquat auszusagen, sondern auch einigermaßen verstehen zu können. In den vorangegangenen Beiträgen ist viel gesprochen worden von Unterscheidung, vor allem zwischen Immanenz und Transzendenz, aber auch zwischen intrinsischer Verfasstheit und extrinsischer Perspektive, zwischen Wollen und Sollen, zwischen Theorie und Praxis etc. Unter diesem Lichte muss noch eine letzte Sache, eine letzte Unterscheidung erklärt werden. 

In Bezug auf Normen, Werte und Grundwerte sind gewisse Unterscheidungen oder viel mehr Bestimmungen eingeführt worden: Es war von einzelnen Normen die Rede, von spezifischen Wertvorstellungen und von generischen Ideologien. Das hatte einerseits ganz allgemein den Zweck, Unterscheidungen und Bestimmungen zu treffen, ohne immer dasselbe Wort dafür verwenden zu müssen. Doch in einem engeren Sinne meinen diese Bestimmungswörter nicht dasselbe, sondern sie beziehen sich auf Unterschiedliches - und darum soll es jetzt gehen.

Hinter der Unterscheidung von einzelnen, spezifischen und generischen Dingen steckt der Verweis auf jeweils unterschiedliche Kategorien, die da wären: Individuum, Species, Genus, oder Einzelding, Art, Gattung. Diese Kategorien lassen sich hierarchisch ordnen vom Besonderen (Individuum) hin zum Allgemeinen (Genus), doch ihre Aufschlüsselung, also die Antwort auf die Frage, was diese Kategorien denn letztlich bedeuten, gelingt am besten über die Mitte, von der Species bzw. Art her. Diese Kategorie erfüllt eine doppelte Funktion, insofern sie sowohl die Gemeinsamkeiten von Einzeldingen beschreiben kann als auch die Unterschiede innerhalb einer Gattung.

Mit der Species verbunden ist das, was philosophisch als die Form eines Gegenstandes bezeichnet werden kann: Etwas, das zwar vom Stoff, aus dem ein Einzelding besteht, weggezogen (oder: abstrahiert) ist, diesem aber eine zusammengewachsene (oder: konkrete) Gestalt verleiht, wodurch der Gegenstand dann in einen Verstand quasi aufgenommen werden kann.
Auf diese Weise vollzieht sich das Verstehen als Grundlage jedweder Erkenntnis, sei sie alltäglich-unsystematisch oder wissenschaftlich-systematisch, da die Species immer eine bestimmte, eben eine spezifische Differenz anzeigt: zwischen Form und Materie, zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, oder eben zwischen unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb einer Gattung. Das Individuum oder Einzelding wird dabei innerhalb einer Species durch die Materie bestimmt, und diese ist in dieser Hinsicht das sog. "Prinzip der Individuation", also: der Ausgangspunkt des Daseins als Einzelding. Das Genus oder die Gattung wiederum steht als so etwas wie ein Oberbegriff für oder eine Zusammenfassung von verschiedenen Species unter dem Aspekt ihrer gemeinsamen Merkmale.

Vor diesem Hintergrund steht nun die Frage im Raum, ob denn neben dem Individuum, das als Zusammenfügung von Form und Materie eine eigene substanzielle Wirklichkeit besitzt, auch Gattungen/Genera oder Arten/Species eine eigene, echte bzw. substanzielle Wirklichkeit in diesem oder einem ähnlichen Sinne besitzen oder besitzen können. Diese Diskussion wird üblicherweise als die Frage dargelegt, ob es neben den besonderen Einzeldingen auch allgemeine Begriffsinhalte wie "Mensch", "Lebewesen" oder "Zahl" wirklich gibt, und der übliche Name für diesen Disput lautet "Universalienproblem" oder "Universalienstreit", da das Problem bzw. der Streit, mit dem die Gelehrten sich konfrontiert sehen, hinsichtlich der Universalien, d.h. Sammelbegriffe besteht.

Die Bandbreite der Antworten auf diese Frage ist wiederum recht groß: Es reicht von der einfachen Position, dass diese Universalien eine echte Wirklichkeit besitzen, die mitunter auch "echter" als diejenige der Einzeldinge sein soll; und es geht bis hin zur Ansicht, dass diese Universalien bloße Namen sind, die der Mensch seinen Sinneseindrücken gibt, während ausschließlich diese Einzeldinge als direkte Ursachen der Sinneseindrücke existieren. Ersteres trägt die Bezeichnung "Realismus", letzteres die Bezeichnung "Nominalismus".
Eine Mittelposition differenziert das Problem in einen seins-logischen (ontologischen) und einen sprach-logischen (philologischen) Aspekt; also in einen Aspekt, der das wirkliche Sein betrifft, und einen, der die sprachlichen Konzepte betrifft. Diese Mittelposition wiederum lässt sich dergestalt ausführen, dass Sprache und Sein voneinander getrennt werden, und dergestalt, dass ihre Beziehung gewahrt bleibt. Ersteres fährt unter dem Namen "Konzeptualismus", zweiteres wird "gemäßigter Realismus" genannt. Und es ist dabei gerade der gemäßigte Realismus, der einen wirklichen Ausgleich in dieser Frage liefert, indem er den Universalien zwar eine echte eigene Existenz zuspricht, diese jedoch als durch die Einzeldinge vermittelt sieht und dabei gleichsam die volle Funktion der Species wahrt, die sowohl die Wirklichkeit des Seins als auch die Wirklichkeit des (sprachlichen) Erkennens besorgt.

Bevor es hier allerdings zu weit in ein eigentlich anderes Thema geht, muss die Frage gestellt werden: Was hat das mit der Personalität zu tun?

Um den Begriff der Person anzuwenden und anzusiedeln, gibt es in der Philosophiegeschichte mindestens drei Grundlagen, die eine solche Bezeichnung tragen: der Mensch, die Engel und Gott. In Rückgriff auf die drei vorgenannten Kategorien läge es nun nahe, die menschliche Person dem Individuum zuzuordnen, die angelische Person der Species und die göttliche Person dem Genus. Doch ganz so einfach ist es nicht: Während dies bei der menschlichen Person und der angelischen Person funktioniert, handelt es sich bei Gott nämlich gerade nicht um generisches Personsein, da Gott im Lichte einer ernsthaften theologischen Betrachtung zu keinem Genus gehört (nicht einmal zur Gattung des Seienden) - aber das ist eine ganz andere, eigene Betrachtung, die daher an dieser Stelle abseits gelassen werden kann.

Insofern Engel als reine Form ohne Materie existieren, spielt sich ihr Person-Sein notwendig auf der Ebene der Species ab, da sich Engel so letztlich nur in ihrer Species voneinander unterscheiden können. Jeder singuläre Engel ist demnach streng genommen kein individueller Engel, sondern markiert eine eigene Engel-Species, während die "Engelschöre" den jeweiligen Gattungen entsprechen. Diese Ausführungen sind hier jedoch nicht als Postulat oder Diskussion um die Existenz von Engeln gedacht, sondern sie sollen einen wesentlichen Unterschied illustrieren:
Insofern der Mensch nämlich als Zusammensetzung aus Form und Materie existiert, spielt sich sein Person-Sein auf der Ebene des Individuums ab. Es lässt sich so sagen, dass Engel, die in Einzahl nur als Species existieren, spezielle oder spezifische Personen sind, während Menschen, die in Einzahl als Individuum existieren, eben individuelle Personen sind. Oder anders: Die Frage, was ein bestimmter Engel ist, und die Frage, wer ein bestimmter Engel ist, beziehen sich auf dasselbe, und die Species beantwortet beides. Die Frage, was ein bestimmter Mensch ist, und die Frage, wer ein bestimmter Mensch ist, beziehen sich jedoch auf Unterschiedliches: Die Species beantwortet die Frage, was ein bestimmter Mensch ist; das Individuum hingegen beantwortet die Frage, wer ein bestimmter Mensch ist.

Dies steckt den notwendigen Verständnisrahmen ab, wenn wir uns nach dieser eigentlichen Vorrede nun wieder dem Politischen zuwenden: Der Totalitarismus, der sich als Ideologie sui generis in Gegenbewegung zu den generischen Ideologien erhoben hat, will, insofern er sich dem Menschen als Person zuwendet, recht eigentlich gar keine individuellen, sondern bloß spezifische Personen. Die Blaupause hierfür liefert der Philosoph Plato mit seinen Überlegungen zum Gemeinwesen (Politeia). Die lassen sich zwar als ent-äußertes Seelenleben im Rahmenmodell eines Staatswesens und damit als bloße Allegorie für den individuellen Menschen lesen, doch die weitaus größte Wirkung haben diese Überlegungen innerhalb der Geschichte im Sinne eines ernst gemeinten politischen Projekts entfaltet, was nicht zuletzt von Karl Popper in dessen Gedanken über die offene Gesellschaft radikal kritisiert wurde.

Entsprechend Platos Vorbild lassen sich verschiedene Konzeptionen eines Gemeinwesens begreifen, und das nicht nur im engeren Zusammenhang einer kulturellen Kontingenz zur griechisch-abendländischen Geschichte, sondern auch in einem breiteren soziologischen Sinne: Ständegesellschaften, Kastengesellschaften, Klassengesellschaften, selbst multikulturelle und ethnopluralistische (in Unterscheidung zu inter- und transkulturellen) Vorstellungen entsprechen Platos Zeichnung eines nach Ständen organisierten Gemeinwesens, demnach jeder Stand gegenüber dem Gemeinwesen eine bestimmte Funktion erfüllt ("Lehrstand, Wehrstand, Nährstand") und in sich selbst die organisierten Menschen darauf hin erzieht (z.B. vermittels radikaler Zensur). Der Mensch steht in allen diesen Konzeptionen des Gemeinwesens nicht in sich selbst, sondern immer nur in Abhängigkeit zu seiner Species, sei diese nun biologisch, soziologisch, ethnologisch, politologisch, meritokratisch, psychologisch oder anderweitig definiert. Diese Forderung nach spezifischen Personen im Gemeinwesen möchte letztlich gar keine menschlichen Personen, sondern nur mehr menschliche Typen.

Besonders beredte Beispiele dafür liefern die beiden großen Totalitarismen mit den Klassengenossen einerseits und den Rassengenossen andererseits: Die Definition der spezifischen Person, und damit auch die Bestimmung des einzelnen Menschen, verläuft einerseits über die Art des Einkommens, andererseits über die Art des "Blutes", also als soziologisch und biologisch begründete Species (dies ist nicht zu verwechseln mit der biologischen Spezies, die den Begriff auf eine eigene Weise rezipiert; um den Unterschied zu verdeutlichen, benutze ich bewusst die Schreibweise "Species").

In seiner Schrift "Mein Kampf" fordert Adolf Hitler, eine "Erziehung zur Achtung der Person" zu etablieren. Was sich naiv gelesen ganz danach anhört, als ginge es um die Menschenwürde im Sinne eines universalen und unverlierbaren Ansehens jedes Einzelnen, bedeutet allerdings nachgerade das Gegenteil: Als "Person" begreift Hitler nämlich bloß den "großen Mann", den begabten Meister, Dichter, Künstler, den großen Staatsmann und Feldherrn, der ein "durch göttliche Gnade angeborenes kulturell-schöpferisches Element verkörpert". "Achtung der Person" bedeutet so die Verehrung des Genies: Es geht Hitler nicht um den "einfachen" Menschen als Person, nicht um jeden x-beliebigen Hinz und Kunz, und es geht auch nicht um die Person als philosophisches Konzept. Es geht ihm ausschließlich um die Verteidigung des Führerprinzips, das sich in der Gattung des Volkes spezifisch als Verhältnis von Führer und Gefolgschaft verwirklicht.

In ähnlicher Weise argumentiert auch Lenin, wenn er nach der geglückten Revolution im April 1918 "die Anwendung der diktatorischen Gewalt einzelner Personen" rechtfertigt, sofern diese "in ihrem Willen" das entsprechende proletarische Klassenbewusstsein trügen: Dann nämlich müsse "die Unterordnung des Willens von Tausenden unter den Willen eines einzelnen" geschehen, da nur "die widerspruchslose Unterordnung unter einen einheitlichen Willen" notwendig zum Erfolg führe. Auch hierbei geht es letztlich um die Verteidigung des Führerprinzips, das sich spezifisch als Verhältnis von Avantgarde und Masse verwirklicht.

Auf andere, aber gerade heute gesellschaftlich möglicherweise leichter verdauliche und dadurch umso gefährlichere Art tritt die Forderung nach bloß spezifischen Personen in der Argumentation von Leuten im Dunstkreis der AfD auf: In einer Rede aus dem Jahr 2015 hat der Politiker Björn Höcke einen "afrikanischen Ausbreitungstyp" einem "europäischen Platzhaltertyp" gegenüberstellt und damit Bezeichnungen aus der Reproduktionsbiologie in die politische Sprache übernommen. Die Kernbotschaft seiner Rede zielte darauf ab, diesen "Ausbreitungstyp" zu wandeln, um so am Ende weniger Afrikaner auf der Welt und damit auch in Deutschland zu haben. Hierbei geht es nun konkret nicht um eine Verteidigung des Führerprinzips, sondern um die Etablierung tribalistischer Denkmuster, die über verschiedene "Menschen-Typen" eine In-group und eine Out-group konstituieren.

Gerade was das letzte Beispiel angeht, bedient sich der Ruf nach spezifischen Personen der gesellschaftlich weitgehend akzeptierten (und darum brisanten) Typisierung: Traditionell wird das über die Lehre von den vier Körpersäften gemacht, demnach die Bezeichnungen Choleriker (Gelbe Galle), Melancholiker (Schwarze Galle), Sanguiniker (Blut) und Phlegmatiker (Schleim) für besonders hervorstechende Charaktereigenschaften eines Menschen herangezogen werden. Eine andere Variante dieser Typisierung besteht in der Lehre der Tierkreiszeichen, demnach die (physikalisch tatsächlich vorhandene) generische Wirkung von Himmelskörpern (Jahreszeiten, Tidenhub) auch individuelle Effekte habe und dadurch spezifisches Dasein gestalte (cf. populäre Vorstellungen zu "Lunatismus" bzw. Mondsucht). In der Wirtschafts- und Berufswelt mag man den Ausdruck "Myers-Briggs-Typenindikator" (MBTI) kennen, der anhand von vier "Indikatoren" mit je zwei "Präferenzen" typisiert und dabei jedoch weniger objektive Indikatoren als viel mehr subjektive Präferenzen (also: das jeweilige Selbst-Bild) erfasst. Der MBTI basiert letztlich auf der Typenlehre des analytischen Psychologen C.G. Jung, und da sind wir dann auch beim zur Zeit prominentesten Vertreter der jungschen Schule, dem politischen Publizisten und klinischen Psychologen Jordan Peterson, der in Buchform "zwölf Regeln" als "Antidot zum Chaos" veröffentlicht hat. Zwischen diesen Ansätzen flattert schließlich auch noch der Bezug zu bestimmten Archetypen herum, deren Bedeutung sich irgendwo zwischen (populärpsychologischen) "Urformen" eines "kollektiven Unterbewussten" und "Energiepunkten (in) der (individuellen) Seele" einpendelt und mal evolutionsgeschichtlich (Jäger, Sammler), mal kulturgeschichtlich (Krieger, Liebhaber) ausgelegt und entschlüsselt wird.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Das Korrelat aus Form und Species ist für den Erkenntnisprozess unverzichtbar, und so können Typen durchaus eine Funktion erfüllen, die analog steht zum Idealtypus aus der Soziologie Max Webers - namentlich als eine bewusst wirklichkeitsfremde Konstruktion, um darüber ex negativo, also vermittels der Abweichung zwischen Konstruktion und Wirklichkeit, die Realität adäquat zu begreifen. Wirklichkeitsfremd sind die Typen deswegen, weil das Person-Sein des Menschen sich eben nicht spezifisch, sondern immer nur individuell vollzieht und das Dasein der Typen daher dem Dasein des Menschen immer nur nachgeordnet sein kann, also wesentlich in der Nähe einer nominalistischen Antwort steht.

Wo Typen jedoch mehr sein sollen als bloße Ideal-typen, wo sie in den politischen Diskurs eingeführt werden, um ein Gemeinwesen zu konstituieren, da öffnet sich ein im innersten Kern theologischer Konflikt: Denn da wird der Mensch nicht mehr als individuelle Person, sondern nur noch als spezifische Person wahrgenommen. Das ist jedoch die besondere Wirklichkeit der angelischen Person. Und so steht im Totalitarismus immer auch eine Angelisierung ("Ver-Engelung") und gleichzeitig Dämonisierung des Menschen auf der Tagesordnung: Dadurch wird im Totalitarismus die individuelle Person immer schon ausgelöscht - und dies bereits vor der physischen Vernichtung einer Devianz.

Den Totalitarismus nicht zuzulassen heißt darum, die Einheit der Person zu wahren und zu verteidigen: Die menschliche Person ist Form und Materie, Seele und Leib. Ein voll-ständiges Du.

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