Samstag, 22. Juni 2019

Gott und Person-Sein

"Gott" ist in der Religionsgeschichte üblicherweise eine Chiffre für etwas Unverfügbares; für etwas höchst Erhabenes; für etwas Absolutes, das losgelöst besteht von den natürlichen Zusammenhängen, denen der Mensch unterworfen ist; für etwas "Über-natürliches" (wobei es da gewaltige, geradezu himmelweite Unterschiede gibt); oder für einen bzw. mehrere über-mächtige Akteure. Das kann im poly- und henotheistischen Kontext eine Art von Über-Mensch sein, im Pan(en)theismus umfasst es die Gesamtheit der Natur und ggf. noch ein bisschen mehr, und in der philosophischen Tradition handelt es sich um Fixpunkte, Absoluta oder letzte Notwendigkeiten im Denken.

Christentum

Der christliche Glaube ist nun zunächst einmal in der Hinsicht besonders, als er einen im wahrsten Sinne des Wortes über-natürlichen Gottesbegriff postuliert: Der christliche Gott geht über seine eigene Natur hinaus, er transzendiert sich selbst und bleibt doch gerade darin ganz bei sich. Illustriert wird dies in der Beziehung zwischen Gott-Vater und Gott-Sohn, insofern der Vater als seiner Natur (von nasci, natus - geboren werden) nach ewiges, unendliches und deswegen gewissermaßen "un-natürliches" (also: nicht-geborenes, aus nichts hervorgegangenes) wie "prinzipien-loses" (also: ohne principium, d.h. ohne Grund, welcher ihm selbst einen Anfang verleiht) Prinzip den Sohn will, der wiederum seiner Natur nach gezeugt ist und damit in einem Prinzip, d.h. Grund fußt, das bzw. der von ihm verschieden ist. 

Dieser Gedanke ist im Grunde eine theologisch unerhörte und ganz und gar un-göttliche Behauptung (ein Ärgernis, könnte man geradezu sagen), denn es verlagert die Zeugung, also das Hervorgehen aus etwas anderem, in das Innere von Gott hinein, und es macht den Gottesbegriff in seiner Immanenz vollkommen transzendent und in seiner Transzendenz vollkommen immanent (der Überstieg ist völlig in Gott, und Gott ist somit selbst der Überstieg), wo man doch gerade als frommer und religiöser Mensch weiß, dass die Transzendenz des am höchsten Erhabenen absolut ist, losgelöst von allem anderen.

Zugleich ist es philosophisch unerhört bzw. absurd (eine Torheit, könnte man es geradezu nennen), den Gedanken von Beziehung in das Innere von Gott hineinzulegen, wo man doch gerade als Schüler von Plato und Aristoteles weiß, dass eine Beziehung kein substantielles, sondern nur ein akzidentielles Attribut darstellt, also etwas, das einem Wesen bloß von außen zu-fällt, aber nichts, das zu einem Wesen selbst, in dessen Inneres gehören würde. 

Wo aber Zeugung und Beziehung in Gott selbst vorhanden sind, da lässt sich Gott als individua substantia naturae rationalis beschreiben, als suppositum singularis proprietatis intellegens, als unteilbarer Träger vernünftiger Innerlichkeit oder als individuelle Subjekthaftigkeit und objektive Gemeinsamkeit mit einer Verhältnisbestimmung als innerem Bewegungsprinzip - you name it - das heißt: als Person. Gott ist nach christlichem Glauben logische Hypostase und hypostatischer Logos, und das macht den wesentlichen Unterschied zu allen anderen Ansätzen in der Religions-, Theologie-, Philosophie- und Geistesgeschichte aus, denn nur auf dieser Grundlage wird Theo-logie im vollen Wortsinne überhaupt möglich: nicht nur als (objektives) Reden von oder über Gott, sondern darüber hinaus als (inter-subjektives) Sprechen mit Gott und letztlich vor allem auch als (subjektives) Sprechen durch Gott. Und gerade das eröffnet am Ende überhaupt erst die Tür zum Gedanken von "Glauben" bzw. fides gegenüber Gott:

 An eine Gottheit wie Zeus oder Odin glaubt man nämlich recht eigentlich gar nicht. Man ehrt und fürchtet die Götter, man opfert und gehorcht ihnen, man fleht sie an und besucht ihre Tempel - die römische Religion hat das alles unter dem Begriff der pietas (Frömmigkeit) subsumiert, der eine Art von kultischer Reinheit bezeichnet, und das findet sich in jeder anderen Religion der Kulturgeschichte auch. Die zugehörige Philosophie hat nun zwar den wirklichen Wahrheitsgehalt dieses religiösen Kultes immer wieder angezweifelt und in Abrede gestellt, aber doch den sozio-ökonomischen Nutzen der pietas, geadelt als Tugend, im Sinne einer Stabilisierung der Ordnung des Gemeinwesens, als Bestätigung der Strukturen seitens des Individuums, herausgestellt und verteidigt.

Der prominente Begriff der christlichen Religion - fides (Glaube) - ist demgegenüber kein religiöses und kein kultisches Konzept, sondern er drückt eine Beziehung zwischen Individuen aus, die den religiösen Kulten unbekannt ist, weil er weit über sie hinausgeht. Hier finde ich auch Viktor Pöschls Erläuterung der fides nach all den Jahren sehr erhellend, da hierin dann doch der wesentliche Kern des Konzeptes auch und gerade in christlicher Hinsicht sehr gut ausgedrückt wird:

"Fides ist nicht das Vertrauen, das man einem anderen schenkt, sondern das Vertrauen, das man bei anderen genießt. Es ist das, was dem adligen Herrn seine Gefolgschaft verschafft. Fides ist gleichsam der Ausdruck der Güte, die hilfsbereit darauf wartet, dass man sich in Bedrängnis an sie wendet und in ihren Schutz begibt. Die Bundesgenossen begeben sich in die Fides des römischen Volkes, weil sie erwarten, dass sie in seinem Schutz gut aufgehoben sind."

Der Christ begibt sich letztlich in die fides Gottes - es ist also kein aktives Hinausgreifen des Menschen hin zu Gott, sondern es ist "ein Ausdruck der Güte" Gottes, der sich über die fides zu den Menschen ausstreckt, die die fides am Ende bloß annehmen können, indem sie sich in sie hinein begeben. Gleichzeitig ist die fides natürlich auch eine exklusiv personale Kategorie: Beginnend mit dem römischen Recht, in dem die persona als rechtsfähiges Subjekt steht (und damit die objektive Gemeinsamkeit zwischen patronus und cliens ausdrückt), eben über die Adaption der Kirchenväter hinein in die religiöse Sphäre. Die pietas betrifft als Kategorie zwar auch die Person, aber eben nur einseitig den Menschen, und das auch nicht in seinem Sein, sondern in seinem (kulturellen und kultischen) Handeln als Übereinstimmung von Tun und Sollen.

Und da steht der christliche Glaube am Ende auch zwischen Religion und Philosophie, ohne wirklich im vollen Sinne etwas von beiden zu sein, auch wenn er sich mit vollen Händen aus beidem bedienen kann: Zwar erfährt man existenziell den religiösen Kult oder das philosophische Denken, aber man erfährt eben nicht existenziell dasjenige, worauf sich religiöser Kult und/oder philosophisches Denken richten: man erfährt nicht diese oder jene Gottheit. Zum Menschsein als solchem haben beide folglich keinen rechten Bezug - schließlich gibt es Menschen, die außerhalb des konkreten Kultes stehen (Leute mit anderer Religion), sowie Menschen, die nicht dieses konkrete Denken teilen (Leute mit anderer Philosophie). In dieser Bewandtnis, die sollte durch die Praxis der spätantiken, und das heißt auch: nach-christlichen Mysterienkulte etwas gemildert werden sollte, gründet zum einen das (post-)moderne Fehl- und Vorurteil von der unermesslichen Toleranz des Polytheismus als pluralistisches "Ritualsystem" und der Philosophie als pluralistisches "Denksystem" im Gegensatz zum Monotheismus als exklusivem "Offenbarungssystem" mit Hang zur Gewalt. Zum anderen aber gründet darin auch der (post-)moderne Fundamentalismus, der den eigenen Kult und das eigene Denken zum normativen Maßstab erhebt bzw. (qua Gemein-sinn) erheben will. Hierbei wird auch die existenziale fides, die Annahme bestimmter Daseinsmöglichkeiten, in eine bloß mentale hypothesis gewendet, in das Annehmen bestimmter psychologischer Muster

Wo das oder der Andere nicht bereits im Gottesbegriff, eben als etwas Erhabenes, vorhanden ist, da bleibt das Othering letztendlich als legitime Praxis bestehen und es geht nur darum, wie man technisch damit umzugehen hat: vermittels Absorption, Appropriation, Assimilation oder Annihilation?

Die anderen Traditionen der Religionsgeschichte stehen ebenso an genau diesem Problem.

Judentum

Das Judentum steht dabei noch am nächsten zum christlichen Glauben. Schließlich ist das Christentum dem eigenen Anspruch nach ein vollendetes Judentum, und interessanterweise gehört damit zum spezifisch christlichen Glauben (Christentum ist hier auch und gerade gemeint als Ekklesia - "Herausgerufene" nach der Trennung von der Synagoge - "Zusammenkunft") immer schon die Annahme, dass sich die von Gott her offenbarte Wahrheit auch in einer anderen Religion manifestiert und wiederfindet, obschon in möglicherweise bloß unvollständiger Art und Weise. Aber alleine dadurch wird die Exklusivität des eigenen religiösen Kultes radikal, d.h. von seiner Wurzel her, aufgebrochen und relativiert, indem nämlich einem anderen echte Wahrheit bescheinigt werden muss, um die eigene Wahrheit vollständig schauen zu können

In sich selbst ist das Judentum zwar prinzipiell offen für einen personalen Gottesbegriff, doch dieser gehört nicht notwendigerweise zur jüdischen Theologie: Es schadet zwar nichts, wenn man Gott als Person ansieht, aber es ist so gesehen nicht wichtig oder notwendig. Analog dazu ist der christliche Glaube eine mögliche Ableitung aus der jüdischen Religion, aber eben keine notwendige Ableitung, was in der Verankerung der Offenbarung begründet ist, die über die Geschichte innerhalb der Welt vollzogen wurde. Im Judentum steht die Chiffre "Gott" für den erhabenen, absoluten, unverfügbaren ethischen Grund des menschlichen Sich-verhaltens, und der drückt sich zuvorderst in der Tora, also: im "Gesetz" aus. Und so sind die großen Figuren der jüdischen Religion einerseits Tora-Lehrer wie Hillel, Schammai und Gamaliel, die den religiösen Kult - die Weisheit des Gesetzes selbst - im Zentrum ihres Wirkens haben, und andererseits Gelehrte wie Philo, Avicebron und Maimonides, die das philosophische Denken -- die Weisheit in Bezug auf das Gesetz - im Zentrum ihres Wirkens haben. Als Drittes kommt dabei freilich noch die Mystik der Kabbala hinzu, die einerseits eine Mittelposition als philosophische Esoterik annimmt, andererseits im Zweifelsfall aber näher bei den Tora-Lehrern steht.

Und während in der Hochachtung vor Gamaliel ein ganz und gar praktischer Konsens zwischen Christen und Juden besteht, so scheiden sie sich doch an Philo in aller theoretischen Schärfe und Tiefe: Nicht nur dass Philo im nach der Tempelzerstörung zerstreuten (nun mehr rabbinischen) Judentum bis zum Spätmittelalter eigentlich gänzlich unbekannt war. Auch seine Philosophie markiert einen entscheidenden Punkt der Abweichung: Philo hat das Konzept des Logos in die jüdische Theologie eingeführt, und das haben die Christen, neben der allegorischen Auslegung des Tanach (z.B. Gal 4,21-31), bereitwillig  von ihm übernommen. Aber bei Philo ist der Logos eben keine Hypostase, das heißt: nichts, das zu Gott selbst gehören würde, kein Ausdruck der göttlichen Essenz, sondern nur ein Mittel des göttlichen Wirkens, ein bloßer Ausdruck der göttlichen Energien, eine Art privilegierter Engel, so to speak, eine besondere Manifestation des göttlich gewirkten Sprechakts. Hier bleibt der Mittelplatoniker Philo eben ultimativ und gänzlich sowohl im überlieferten Judentum als auch im "orthodoxen" Platonismus seiner Zeit verhaftet. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Aristoteliker Maimonides: Wo Philo mit seiner platonischen Allegorese in die philosophische Ethik einsteigt, indem er die Figuren der Tora als Allegorien der Tugenden auslegt, da steigt Maimonides mit seiner aristotelischen Allegorese in die philosophische Physik ein, indem er gerade die Beschreibungen der Genesis als Allegorien der Weltursachen auslegt. Am Ende sind Philo und Maimonides sehr viel bessere, stringentere und gelehrsamere Platoniker bzw. Aristoteliker als die christlichen Theologen von Origenes bis Aquinas und darüber hinaus: Dies muss man ohne Beanstandung zugestehen. Als Kehrseite der Medaille bleiben Religion, Theologie und Philosophie aber immer auch getrennte Entitäten. Ein philosophia est ancilla theologiae (das unzweifelhaft mit Lk 1,38 resoniert) ist in diesem Zusammenhang im wahrsten Sinne des Wortes un-denkbar: Es geht gerade Philo, Avicebron und Maimonides ganz explizit darum, aufzuzeigen, dass die Tora die eigentliche Trägerin der Philosophie ist. Und ebendies lässt sich wiederum darauf zurückführen, dass der Gottesbegriff keine in sich notwendige Beziehung kennt, nicht notwendig personal ist, und damit auch keine Beziehung zwischen beiden Seiten zulässt, sondern in letzter Konsequenz Abschottung (hier Tora, dort Philosophie) oder Absorption (die Tora als die eigentliche Philosophie) fordert.

Islam

In einer ähnlichen Lage befindet sich auch der Islam, obschon er zwar aus seiner genetischen Tradition heraus rein theoretisch offen für einen personal gedachten Gottesbegriff scheint, es aber praktisch ungleich schwerer bis fast ausgeschlossen ist, das auch tatsächlich umzusetzen - eben weil das auch hier als eher nebensächlich gilt und die absolute Erhabenheit und Transzendenz Gottes über allen denkbaren Dingen strikt und streng bewacht und verteidigt wird. Der Islam ist in sich von Grund auf eine Gegenbewegung sowie seinem Selbstverständnis nach eine Reinigung der beiden anderen "abrahamitischen" Religionen. Der Koran kann unter diesem Lichte literarisch aufgefasst werden als einerseits eine speziell arabische Evangelienharmonie: Diese Art der vereinheitlichten Erzählung vom Leben Jesu war gerade im syrischen Christentum auch liturgisch in Gebrauch, und der syrische Ritus war derjenige, den ein arabischer Händler und Hirte kennengelernt haben dürfte, in orthdoxer wie heterodoxer Gestalt (was die inhaltliche Rezeption des apokryphen Thomas-Evangeliums erklären könnte). Andererseits kann der Koran auch als ein speziell arabischer Psalter im Sinne einer "Summe der Schrift" gelesen werden, das heißt als eine Kurzfassung von Gesetz und Propheten, die sowohl bei Christen als auch bei Juden Teil der liturgischen Praxis ist, auch hier orthodox wie heterodox (was die Rezeption apokrypher AT-Schriften erklären könnte). Beides würde in der Vorstellung eines arabischen Händlers darüber, wie ein religiöses Buch sein sollte, zusammenfinden (letztlich stünde dies analog zum Buch Mormon, das eben so gestaltet ist, wie sich ein bibelgläubiger us-amerikanischer Händler und Schatzsucher aus dem 19. Jahrhundert ein religiöses Buch vorstellt). 

Die islamische Religion lehnt im Besonderen natürlich die christliche Vorstellung einer Beziehung von Gott-Vater zu Gott-Sohn ab zugunsten des göttlichen tauhid, also des radikalen Eins-seins. Zugleich wendet der Islam sich freilich auch gegen das jüdische Verständnis eines ethischen Grundes, der sich im Gesetz ausdrückt, zugunsten einer (bloßen) göttlich gestifteten und vom Engel Dschibril vermittelten Lesung (quran) der Norm bzw. des Wegweisers (scharia). Andererseits hat gerade der islamisch geprägte Kulturzusammenhang große und wichtige Teile der griechischen Philosophie bewahrt, adaptiert und in den lateinischen Westen weitergegeben. Und auch wenn die großen Figuren heutzutage viel mehr die Mullahs und Ajatollahs und Muftis sind, die nach dem Untergang von Kalifat und Sultanat als Gelehrte des Rechts (fiqh) bestimmte Gutachten (fatwa) erlassen, so gibt es doch auch große historische Figuren des kalām, der geniun islamischen Dialektik/Philosophie/Theologie. Bezeichnenderweise lehnen die Wahhabiten, die heute nicht nur in Saudi-Arabien regieren, sondern zu denen auch der Salafismus und der IS gehören und denen al-Qaida zumindest nahesteht, den kalām ab. 

Der kalām hat drei besonders große Gestalten aus dem Hochmittelalter hervorgeracht, namentlich Avicenna (Ibn Sina), al-Gazel (al-Ghazali, Algazelus) und Averroës (Ibn Rushd). Avicenna steht dabei für einen stringenten (Neu-)Platonismus, und Averroes für einen stringenten Aristotelismus. Beide Denker sind, ganz wie Philo und Maimonides auf jüdischer Seite, sehr viel konsequenter und gelehrsamer in ihrer Philosophie als ihre großen christlichen Gegenstücke. Während Avicenna den neuplatonischen Emanationsgedanken vom Einen hin zur Welt in ungeahnte Höhen verfeinerte und damit die radikale Transzendenz Gottes intellektuell absicherte, indem er Gott als das einzig Notwendige postulierte - dies wurde im lateinischen Westen breit und tief rezipiert, nicht zuletzt im dritten der "fünf Wege", die Thomas von Aquin in seiner Summe der Theologie zur Demonstration der Existenz Gottes präsentiert -, hat Averroës die aristotelische Intellekt-Theorie geradezu vervollkommnet: Damit löste er im lateinischen Westen eine scharfe Diskussion über die Einheit des Intellekts aus, ebenso wie über die Frage, ob Gott nur die Universalia (er)kenne (und qua Erweiterung erlöse) oder ebenso die Singularia, zu denen am Ende auch einzelne Personen gehören. 

Beiden gegenüber steht al-Gazel, der eine religiös (koranisch) begründete Skepsis vertritt, und dabei philosophische Argumente gegen "die Philosophen" vorbringt: Sein zentrales Werk heißt "Die Inkohärenz der Philosophen", auf die Averroës wiederum mit seiner Schrift "Die Inkohärenz der Inkohärenz" geantwortet hat. Kurioserweise geht auf al-Gazel - den Vertreter einer koranfixierten Skepsis gegenüber der Philosophie - die Lehre vom Dschihad als innerem Kampf gegen das eigene (niedere) Selbst zurück. Leider hat dieser Zweig in der islamischen Geistesgeschichte irgendwie ein jähes Ende gefunden, das weder einseitig auf die externe Reconquista noch einseitig auf den internen Gehalt des Islam (oder gar "der Religion") geschoben werden kann.

In jedem Fall jedoch findet sich auch hier keine Verbindung, sondern eine bestehende und vertiefende Trennung von Religion und Philosophie, die mit einer sehr viel höheren Stringenz hinsichtlich der jeweiligen philosophischen Traditionslinie einhergeht. Und auch das lässt sich am Ende eben im Gottesbegriff verankern, der die Beziehung(en) Gottes als nicht-wesentlich ansieht und darum auch keine (echte) Beziehung zwischen beiden Wegen menschlicher Erkenntnis zulässt: Avicenna und Averroës oszillieren in ihrem Anspruch zwischen einer postulierten Eigenständigkeit der Philosophie als Weg zur letzten Wahrheit und der Inkorporation der religiösen Wahrheit als Modalität philosophischer Einsicht (Averroës z.B. sah die islamische Religion seiner Zeit, zumindest gemäß Kurt Flasch, als auslegungsbedürftiges Gemisch aus Volksritual, Dialektik und Rhetorik), während al-Gazel die Eigenständigkeit der Philosophie als einen solchen Weg bestritt und eher behauptete, die religiöse Wahrheit beinhalte immer schon das, was auch mit der Philosophie als Wahrheit erkannt werden könne (oder bekannt werden müsse). Al-Gazel hat sich letzten Endes mit seiner Kritik an der Philosophie durchgesetzt, aber doch nur in Form eines Pyrrhus-Sieges, der gleichsam seine eigene Position zunichte machte - denn die heutzutage dominanten Strömungen im Islam lehnen nicht nur den kalām ab (worin sie mit den westlichen "Islamkritikern" eifrige Verbündete haben), sondern gleichsam auch den Sufismus, dem al-Gazel zuneigte (und der teilweise überhaupt nicht als "islamisch" anerkannt wird), von einem religiös motivierten Skeptizismus ganz zu schweigen. Und al-Gazels Lehre vom Dschihad als innerem Kampf wird gemeinhin sowieso entweder als Teil der taqiyya oder als modern-westliche (v.a. kolonial-französische) Aufweichung des "eigentlichen" Islam verkauft.

So viel zu den großen Traditionen, welche auf der spezifisch griechisch-römischen (Unter-)Scheidung von religiösem Kult und philosophischem Denken aufbauen. Von diesen scheint die christliche Tradition die einzige, die das philosophische Instrumentarium als eben das verwendet: ein Instrumentarium, eine Sammlung von Werkzeugen, um bestimmte Inhalte auszudrücken, und das ebendeshalb, weil ausgehend vom Gottesbegriff sowohl Religion als auch Philosophie nicht als Inhalt des Glaubens, sondern nur als Form für sprachliche Äußerungen hergenommen werden, um eben auf einen entsprechenden Inhalt zu verweisen, was in sich wiederum in der Personalität der Gottesvorstellung fußt. Bezeichnend dafür steht der Begriff homoousios, der eine sprachliche Neu-Schöpfung der Väter von Nizäa 325 darstellt, um den Inhalt des Glaubens an die Göttlichkeit Jesu in den Kategorien einer zeitgemäßen Philosophie auszudrücken. Aber auch das Konzept der Transsubstantiation fiele darunter, die nicht nur eine begriffliche Neuschöpfung innerhalb der aristotelischen Grammatik darstellt, sondern von einem orthodox-aristotelischen Standpunkt aus schlichtweg un-sinnig ist, letztlich absurdes Geblabber, weil aristotelisch-orthodox gedacht eine Änderung der Substanz immer auch eine Änderung der Gestalt bedeutet (Thomas war eben kein Aristoteliker wie Maimonides oder Averroës).

Die dharmischen Traditionen Südasiens

Zuletzt ein kurzer Abstecher nach Asien, und konkret erst einmal in den südasiatischen Kulturzusammenhang. Dieser kennt keine (Unter-)Scheidung von religiösem Kult und philosophischem Denken, weil beide über die Jahrhunderte und Jahrtausende so eng beieinander geblieben sind, dass die portugiesischen und britischen Kolonialherren eine einzige Religion namens "Hinduismus" oder "Hindutum" zu sehen glaubten: In deren Tradition steht letzten Endes Hindutva, der Hindu-Nationalismus.

Auch hier gibt es ein absolutes und absolut erhabenes Prinzip, das als Unverfügbares vor jedwedem natürlichen Zusammenhang steht. Heinrich von Stietencron unterscheidet mehrere verschiedene darauf bezogene Religion(styp)en innerhalb des "Hinduismus", die in sich ein Spektrum beschreiben von animistisch-konkreter Volksreligiosität (i.e. reiner Kult) bis hin zu philosophisch-abstraktem Monismus (i.e. reines Denken), und in das sich alle vorhandenen Riten und Praktiken, Kulte und Wege einschwingen: vom Polytheismus des Veda bis zum Nihilismus des Buddha, vom Henotheismus des Vishnu bis zum Pan(en)theismus des Brahman. 

Gemein ist allen Ansätzen, dass sie sich in eine Art von Meta-Religiosität einfügen, die von einem Konzept gewirkt und zusammengehalten wird, das dharma heißt und dessen Bedeutungsspanne von "kosmischem Gesetz" und "Naturgesetz(e)" über "Naturrecht" bis hin zu "Religion", "Sitte" und "Moral" sehr viel und noch mehr umfassen kann. Das dharma wiederum entspringt dem letzten absoluten Grund, und vom Vorhandensein des dharma lässt sich demnach auf diesen letzten Grund schließen - so zumindest der sog. "indische Gottesbeweis": Gesetz brauche notwendig Gesetzgebung. 

Dem dharma als Ausdruck des letzten Grundes steht dabei karma als Ausdruck des menschlichen Wirkens und Handelns gegenüber. Das Ziel des Menschen liegt am Ende darin, die völlige Übereinstimmung von karma und dharma herzustellen, und das ohne "positive" oder "negative" Abweichung, als "neutrale Karma-Bilanz": das heißt dann nibbana (Verwehen) oder moksha (Befreiung), eben Er-lösung aus dem samsara, dem "beständigen Wandern", das sich wiederum in der Kette der Wiedergeburten bzw. Seelenwanderungen - als Weitergabe einer spezifischen und konkreten Abweichung von der völligen Übereinstimmung zwischen dharma und karma - ausdrückt.

Was dieser letzte Grund des dharma nun spezifisch ist und wie er konkret aussieht, erscheint dabei letzten Endes irrelevant, da bloß theoretisch und nicht praktisch: Theoretisch betrachtet ist der formlose, gestaltlose und unerkennbare Brahman gar nicht so weit weg vom nichtigen Grund des Buddhismus, denn wenn es nur das Eine wirklich gibt, dann gibt es nichts Wirkliches bzw. wirklich Nichts. Das macht den Gegensatz zwischen Atman und Anatta zur rein praktischen Wortspielerei - eine Wortspielerei, die beide Seiten als solche von innen heraus mit-tragen können. Dieser letzte Grund ist damit aber auch nicht wesentlich bei dem, was in der westlichen Tradition unter dem Begriff "Person" oder "Hypostase" benannt wird:

  • Es gibt zwar die Beschreibung des Brahman als Satchidananda, das heißt als Sein-Bewusstsein-Glück, aber das beschreibt eben auch nur eine mögliche Ableitung aus einer wiederum bloß möglichen theoretischen Einsicht in den Brahman.
  • Ebenso wie die Trimurti, die aspekthafte Einheit aus Brahma-Schöpfer, Vishnu-Erhalter und Shiva-Zerstörer nur nach außen hin, gegenüber einem externen Beobachter, Unterscheidung besitzt, aber nicht in sich unterschieden ist bzw. keine Verhältnisbestimmung als inneres Bewegungsprinzip hat. Es handelt sich eher um das, was man im Westen als Modalismus kennt, demnach das Eine bloße Masken trägt und in bestimmte Rollen schlüpft, insofern es mit Menschen in Kontakt kommt.
  • In dieselbe Kerbe schlägt auch das Konzept des Avatara, der Hinabstieg des Göttlichen in die Welt hinein, die weniger der christlichen Inkarnation, der Fleischwerdung des Logos entspricht, als viel mehr einer Manifestwerdung oder Gestaltwerdung von eigentlich formlosem Geist, was mehr in der Nähe des Doketismus stünde (freilich ohne die darin enthaltene manichäische Abwertung des Materiellen), als eine Art von Phänomenologisierung des Geistes

Und so ist auch der Bhakti, die liebende Zuwendung zu einer personalen, eigentlich: persönlichen Gottheit (ishtadevata) nur ein Teil eines Teils, den sich der einzelne Mensch aus dem ganzen Kultusleben des Hindutums selbst auswählt, um dharma und karma in Übereinstimmung zu bringen: Namentlich gehört Bhakti als einer von vier Yogas zu den vedisch ausgerichteten "orthodoxen" (astika) Betrachtungen, Philosophien, "Theorien", Sichtweisen (darshana), die neben den nicht-vedisch ausgerichteten "heterodoxen" (nastika) Darshanas (Buddhismus, Charvaka, Jainismus) stehen. Und darin steht Bhakti als Yoga ("Zusammenbinden", Meditation) neben Mimamsa ("Erörterung", Ritualforschung), Vedanta ("Ende des Veda", höheres Wissen, Metaphysik), Samkhya ("Aufzählung", Ontologie), Nyaya ("Untersuchung", Dialektik, Erkenntnistheorie) und Vaisheshika ("Elementenlehre"', Naturphilosophie). Alle diese Darshanas sind letztlich in gleichem Maße gültig, und keiner kann allgemeinen Vorrang vor einem anderen für sich beanspruchen, denn sie alle werden nur dadurch legitimiert, dass sie dem Menschen dabei helfen, dharma und karma in Übereinstimmung zu bringen.

Die eklektizistischen Traditionen Ostasiens

Ähnlich, aber doch anders akzentuiert als in Südasien sieht es in Ostasien aus: In China ist das eklektizistische Element noch stärker ausgeprägt bei gleichzeitiger Fokussierung auf den letzten Grund als nichtige Wirklichkeit bzw. wirkliche Nichtigkeit, insofern die "drei Lehren" Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus als "eins" betrachtet werden, aus denen man sich je nach konkreter Situation und vorliegendem Bedarf bedient. Analog dazu steht auch der Shintoismus in Japan neben dem Buddhismus, auch wenn dort seit der Meiji-Restauration Wert gelegt wird auf die Unterscheidung zwischen dem buddhistischen Tempel und dem shintoistischen Schrein, so dass ein Synkretismus eher nicht praktiziert werden soll. 

Der Zweck der "drei Lehren", und ihr daraus abgeleiteter Wert, besteht letztlich in der Stütze, Legitimation und Stabilisierung des Staatswesens, der kultischen und philosophischen Verankerung des Reiches der Mitte, worüber die Stabilität des Weltganzen gewährleistet werde. Der letzte Grund, von dem sie sprechen, ist dabei entweder die nichtige Realität bzw. das reale Nichts selbst (Buddhismus), oder ein Prinzip (dao), das nicht ausgedrückt und in Worte gefasst werden kann, oder ein letzter Grund, der außerhalb der Strukturen des Reiches nicht von Bedeutung ist (Konfuzianismus). Und auch wenn vor allem der Konfuzianismus seine Lehre auf der Grundlage von "elementaren Beziehungen" des Menschen aufbaut, so sind diese Beziehungen weder wesentlich für den (letztlich unbedeutenden) letzten Grund, noch sind sie wesentlich für den Menschen in sich selbst, sondern es sind Strukturelemente, die den Einzelnen von außen her immer schon bestimmen und mit denen er sein individuelles Dasein von innen heraus in Übereinstimmung zu bringen hat (was auch für die Spitze der staatlichen Hierarchie, den über alles erhabenen Kaiser, gilt).

Alle diese Ansätze sind durchaus kompatibel mit dem Anspruch einer Gottes- und Nächstenliebe, das heißt: sie widersprechen diesem Anspruch nicht oder zumindest nicht notwendig. Sie können damit alle den Zweck von Religion erfüllen. Aber an den inneren Wesenskern des Doppelgebotes kommen sie doch nicht gänzlich heran - das Judentum dabei noch am ehesten. 

Praktisch kennen alle Traditionen Eintracht und Friede miteinander, mit Gott und dem Nächsten, und pragmatisch können alle Traditionen auch einträchtig und friedlich ko-existieren. Aber das ist nicht der wesentliche Punkt des Doppelgebots. Der liegt theoretisch im letzten Grund der Wirklichkeit verankert, namentlich in einem letzten Grund, der selbst Beziehung ist, und er äußert sich theologisch im Person-Sein Gottes. Alle diese Traditionen kennen auf die eine oder andere Weise einen "guten" Gott, einen "lieben" oder "liebenden" Gott, der sich gnädig zu seinen Untergebenen wendet.

Aber das konsequente Bekenntnis zu Gott als Person resultiert nicht nur im Bekenntnis zu einem lieben Gott, oder zu einem liebenden Gott, oder gar zu einem Gott der Liebe oder zu einem Liebes-Gott. Das konsequente Bekenntnis zu Gott als Person führt letztlich sehr viel weiter und tiefer und höher, namentlich zum Bekenntnis von 1 Joh 4,16b: Gott ist die Liebe, und zum unmittelbar daraus folgenden Anspruch: wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm

Gerade weil Gott Person ist, ist die Liebe zu Gott vollkommen eins mit und absolut unteilbar von der Liebe zum Nächsten, denn insofern Gott sich Gott selbst zuwendet, wendet er sich dem Nächsten zu, und insofern Gott sich seinem Nächsten zuwendet, wendet er sich Gott selbst zu. Und damit kann an dieser Stelle das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe nur dann ausgehebelt oder eingeschränkt oder abgeschafft werden, wenn der Glaube an Gott per se ausgehebelt oder eingeschränkt oder abgeschafft wird. Wo in anderen Zusammenhängen und Traditionen das eine vom anderen, unter diesen oder jenen Umständen, abgekoppelt oder getrennt werden kann - sprich: wo Othering funktioniert und als legitim gilt -, da klappt das dort nicht, wo das Doppelgebot ipso facto im Bekenntnis zu Gott als Person besteht.

Als Kehrseite der Medaille hinterlässt diese Perspektive natürlich gerade dort ein vernichtendes Zeugnis, wo speziell im Christentum Othering besteht, theoretisch wie praktisch.

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