Sonntag, 29. November 2020

Postmoderne Pirouetten: Pythagoreer und Platoniker während der Pandemie

Die historischen Anhänger des Pythagoras gründeten ihre (letzten Endes esoterische) Weltanschauung auf ein ontologisches Prinzip, das gerne als "die Welt ist Zahl" oder "alles ist Zahl" wiedergegeben wird. Der große Wurf des Pythagoreismus als philosophischer Ansatz besteht darin, die sichtbare Welt als Verhältnis von Zahlen darlegen zu wollen. Wichtig dabei allerdings: Es geht immer und ausschließlich um das Verhältnis der richtigen Zahlen, und das meint schlichtweg positive ganzzahlige Verhältnisse. Die Menge der natürlichen Zahlen steht am intuitiven Anfang einer jeden wie auch immer gearteten Mathematik (Arithmetik, Geometrie, Algebra, Astronomie, Harmonik, ...), und sie beschreibt die Menge der positiven ganzen Zahlen. Nicht-ganzzahlige Werte wurden pythagoreisch gedacht traditionell nur eingeschränkt akzeptiert, und bis heute hat sich dieser Zug in der Mathematik als die Menge der rationalen Zahlen gehalten: Deren Symbol ist ein Q, und das steht für Quotient, d.h. Bruchzahl. Rationale Zahlen sind solche Zahlen, die als Bruch zweier ganzer Zahlen beschrieben werden können. Besonders problematisch aus pythagoreischer Perspektive sind die sog. irrationalen Zahlen, also "reelle" Zahlen (das sind alle Zahlen, die auf einem Zahlenstrahl markiert werden können), die sich nicht als ganzzahliger Quotient darstellen lassen: Am berühmtesten sind hierbei die "Kreiszahl" Pi (Verhältnis von Umfang und Durchmesser eines Kreises) sowie die Wurzel von 2 (Diagonale eines Quadrats mit der Kantenlänge 1); beide waren bereits den historischen Pythagoreern bekannt und wurden von diesen mehr oder minder radikal abgelehnt. Anders formuliert: Aus pythagoreischer Perspektive ist die Menge der irrationalen Zahlen unverhältnismäßig.

Mit diesem ontologischen Prinzip ging und geht epistemologisch ein naiver Realismus einher, der sich auch heute noch zeigt: Wie die historischen Pythagoreer lehnen auch heute einige Leute bestimmte Zahlen als unverhältnismäßig ab, und das in erster Linie deswegen, weil diese unverhältnismäßigen Zahlen nicht dem intuitiven Anfang der je eigenen Zahlenphilosophie zu entsprechen scheinen und damit nicht Wirklichkeit (Welt) "sind" oder sein können. Es geht hierbei um eine "Vermessung der Welt", um eine Zählung bzw. Quantifizierung der Dinge, die nur zu den je eigenen (und das heißt: intuitiven) Be-dingungen geschehen darf. So lehnen diese (post-?)modernen Pythagoreer auf Grundlage ihrer je eigenen intuitiven Perspektive nicht die Technokratie als solche ab, sondern ihre Kritik betrifft lediglich die falsche Technokratie, also die Herrschaft des falschen (Zahlen-)Handwerks: Sie sagen "Nein" zur Technokratie bspw. der Epidemiologen, der Soziologen und/oder der Klimatologen, weil deren Zahlen (und infolge daraus sich ergebendes Handeln) unverhältnismäßig seien. Sie sagen "Ja" zur Technokratie bspw. der Ökonomen, der Juristen und/oder der Psychologen, weil deren Zahlen (und infolge daraus sich ergebendes Handeln) rational seien.

Die historischen Pythagoreer kannten noch ein zweites Prinzip, das neben (und manchmal auch über) dem o.g. ontologischen Prinzip stand. Dies zeigt sich im Spruch autos epha - "er selbst hat es gesagt", und dieser Satz drückt eine radikale Autoritätsgläubigkeit aus: Pythagoras, als Stifter (s)einer (esoterischen) Weltanschauung, brachte seinen Anhängern die frohe Kunde von der Rationalität der Welt durch die Verhältnismäßigkeit der Zahlen. Entsprechend nehmen die (post-?)modernen Pythagoreer auch die frohe Kunde der (post-?)modernen pythagoreischen Autoritäten auf, insofern diese ihnen die Rationalität der Welt durch verhältnismäßige Zahlen erschließen und gleichzeitig unverhältnismäßige Zahlen (und daraus sich ergebendes Handeln) als falsch entlarven. Entsprechend werden Diskurse nicht auf Argumente, sondern auf Autoritäten heruntergebrochen, denen dann geglaubt wird oder nicht: Recht hat, wer die Harmonie der Welt, die "Sphärenmusik" richtig orchestriert und dabei ultimativ die eigene Intuition bestätigt.

Die Philosophie Platons gründet auf einem anderen ontologischen Prinzip: "Wirklich sind nur die Ideen". Der große Wurf der platonischen Tradition besteht darin, der diffusen Einsicht, dass die sichtbare Welt auf unsichtbaren Grundlagen fußt, mit der Lehre von den Ideen hinter bzw. über der Materie eine konkrete Gestalt verliehen zu haben. Historisch hat sich zugleich - und quasi-natürlich - auch eine gewisse Nähe zum Pythagoreismus entwickelt, insofern das Konzept der Zahl theoretisch unter die Kategorie der Idee subsumiert werden kann, womit Zahlen einen Teil der Ideen beschreiben können, die über bzw. hinter der materiellen Welt stehen. Die historisch deutlichste Symbiose von Platonismus und Pythagoreismus markiert der römische Neupythagoreismus rund um die Zeitenwende, und etwas abgeschwächt findet sie sich auch im spätantiken Neuplatonismus. Doch auch hierbei ist wichtig: Es geht immer und ausschließlich um die richtigen Ideen, und das meint diejenigen Ideen, welche einfach, rein und unvermischt, vor allem aber: universal sind. Der Platonismus ist bis heute (im "Westen"?) die einflussreichste und nachhaltigste philosophische Tradition.

In gewisser Weise kontra-intuitiv geht mit dem Prinzip, demnach nur die Ideen wirklich seien, ein starker Nominalismus einher, insofern es um Zahlen geht, die aus der (Beobachtung der) materiellen Welt abgeleitet werden sollen. Zum Verständnis notwendig ist hierfür die Unterscheidung verschiedener Kategorien von Universalien aus dem mittelalterlichen Universalienstreit, wonach es Universalien ante rem (real vor allen Einzeldingen; platonische Ideen im eigentlichen Sinne), Universalien in re (realisiert in den und durch die Einzeldinge; Ideen im Sinne der aristotelischen Form) und Universalien post rem (Abstraktionen des menschlichen Verstandes, Vorstellungen; Ideen im alltagssprachlichen Sinne) gibt. Der starke bzw. naive Realismus setzt einseitig auf Universalien ante rem, der starke bzw. naive Nominalismus setzt einseitig auf Universalien post rem. Zahlen, die empirisch gewonnen werden, sind immer Ideen, die aus der materiellen Welt ab- bzw. aufgeleitet werden, und sie können darum per se keine platonischen Ideen, d.h. Universalien ante rem sein, damit auch nicht dem starken Realismus entsprechen. Sie sind bestenfalls in re, doch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Sache (res), in der und durch die sie sich realisieren, bereits selbst von Menschenhand gemacht ist (empirische Forschung), können sie notwendig nur Universalien post rem sein, d.h. menschengemachte Vorstellungen ohne wirklichen Bezug zur eigentlichen Realität. So kann hinter den empirischen Zahlen nie die echte Wirklichkeit stehen, sondern bloß menschliches Tun und Wirken, offene oder verdeckte Motive und Absichten, der schiere Wille bzw. die reine Willkür derjenigen, die diese Zahlen präsentieren.

Entsprechend lehnen auch (post-?)moderne Platoniker solche Zahlen als unverhältnismäßig ab: Diesmal nicht, weil sie unter "falschen" Bedingungen zustande kommen, sondern weil sie überhaupt bedingt, d.h. nicht universal sind, und somit kein Verhältnis beschreiben zur eigentlichen Wirklichkeit, die sich nur aus der anamnesis (Wieder-Erinnerung) von letztlich intuitiven Universalien ante rem rekonstruieren lässt. Folglich werden Diskurse nicht auf Argumente, sondern auf Akteure heruntergebrochen, die Motive und Absichten besitzen, welche entweder den eigenen intuitiven Ideen entsprechen oder nicht: Recht hat, wer die ideale Welt konstruiert und damit ultimativ die Universalität der je eigenen intuitiven Ideenwelt zu beglaubigen hilft.

Sowohl der (post-?)moderne Pythagoreismus als auch der (post-?)moderne Platonismus sind ihrem Wesen nach un- bzw. anti-politisch, und in der Praxis bestenfalls partei-politisch: Die "richtige" Partei ist pythagoreisch gedacht diejenige mit der intuitiv an-gemessenen Techno-logie, und platonisch gedacht diejenige mit der intuitiv glaub-haften Ideo-logie. Beide können fließend ineinander übergehen, und beide sehen Politik nicht als Raum für Wahrheit im Sinne einer Übereinstimmung zwischen Dasein und Denken (i.e. als Entfaltung des Logos), damit auch nicht als Verarbeitung der menschlichen Kontingenzerfahrung qua Beantwortung gemeinschaftlicher Fragen, sondern sie sehen Politik ausschließlich als (einseitige) Ausübung von Macht, Herrschaft und letzten Endes Gewalt. Insofern sie sich partei-politisch betätigen, sind sie dabei nicht gänzlich gegen die Ausübung von Macht, Herrschaft und Gewalt, sondern lediglich gegen die Macht, Herrschaft und Gewalt der anderen

Demgegenüber lässt sich eine Position vorbringen, die als Aufgreifen der aristotelisch-scholastischen Tradition charakterisiert werden kann. Diese Gegenposition ist keine radikale Verneinung von Pythagoreismus und Platonismus, sondern viel mehr eine Korrektur beider Ansätze: Was an ihnen wahr ist, wird behalten, das Falsche ausgesondert. Die Welt ist nicht Zahl, aber Zahlen können bestimmte Sachverhalte (in) der Welt vermitteln. Nicht nur die Ideen sind wirklich, aber sie sind notwendig dafür, dass die Wirklichkeit im menschlichen Intellekt erschlossen werden kann. Bestimmte Sachverhalte (in) der Welt können nicht vermittels ihrer Materie vernünftig erkannt werden, darin ist sowohl dem Pythagoreismus als auch dem Platonismus zuzustimmen; wohl aber sind sie dem Intellekt über ihre Form zugänglich, die sich anhand der Materie verwirklicht. Zahlen wiederum können unter bestimmten Umständen mit dieser Form korrespondieren. Die Welt ist weder reine Idee noch reine Materie, und sie ist auch kein Konflikt zwischen ideeller und materieller Wirklichkeit, sondern die Welt ist ein Aggregat aus Form und Materie, eine Beziehung zwischen beiden. Im Sinne einer Beziehung sind darum auch die Zahlen zu verstehen, die empirisch aus der Welt gewonnen werden, um die Welt zu beschreiben. Sie sind nicht die Welt, sondern ein Werkzeug zur Beschreibung der Welt. Sie sind nicht Er-fundenes, sondern Ge-fundenes. Sie sind damit in erster Linie kein onto-logischer Wert, sondern eine epistemo-logische Größe. Diese Zahlen brauchen darum immer schon eine im Intellekt verankerte Verhältnisbestimmung, nicht nur zwischen der Welt und ihrer Beschreibung durch Zahlen, sondern auch zwischen mehreren verschiedenen Beschreibungen der Welt anhand von Zahlen.

Damit ist diese Position auch genuin politisch im Sinne nicht nur eines Raumes für Wahrheit als Übereinstimmung zwischen Dasein und Denken, sondern auch als Verarbeitung der Kontingenzerfahrung qua Beantwortung gemeinschaftlicher Fragen: Im Unterschied zum (post-?)modernen Pythagoreismus und Platonismus ist die Welt hierbei wirklich kontingent, und das je politisch angestoßene Handeln wird von der gemeinschaftlichen Frage her bestimmt, deren Antwort die Rolle einer aristotelischen Zielursache übernimmt.

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