Samstag, 16. Januar 2021

Postmoderne Pirouetten: Der intuitive Barabbas-Kult

An dieser Stelle sollte eigentlich ein Ausblick zum sozialen Frieden bzgl. der Pandemie in Deutschland kommen. Jüngste Ereignisse haben allerdings konkretes Anschauungsmaterial aus den USA geliefert, wo es im Zuge des faschistischen Putschversuchs - Referenz ist hier Italien im Oktober 1922 - um die selben Momenta und Dynamiken geht:


Trumps Einlassungen zum Wahlergebnis bedienen die Intuition, insofern sie bei der unmittelbaren Einsicht verharren: "Die Anzahl meiner Stimmen war zu dem Zeitpunkt, als ich ins Bett gegangen bin, höher als die des anderen." Daraus wird dann der Anspruch auf den Wahlsieg abgeleitet. Einerseits steht hier eine Vermengung des Auszählungsprozesses mit dem Auszählungsergebnis: Die Unterscheidung zwischen beiden ist non-intuitiv, da ein Prozess immer vermittelt ist und eben nicht unmittelbar erfasst wird (ähnlich funktioniert z.B. auch die Gegenüberstellung der Todeszahlen für vergangene Grippewellen mit denen der aktuellen Pandemie). Andererseits ist es ja durchaus eine korrekte Intuition, dass die Anzahl der ausgezählten Stimmen zu einem bestimmten Zeitpunkt maßgeblich dafür ist, einen Wahlsieger zu benennen. Non-intuitiv scheint allerdings: Dieser Zeitpunkt ist nicht dann, wenn der Amtsinhaber, über den abgestimmt wurde, ins Bett geht; sondern dieser Zeitpunkt ist dann erreicht, wenn alle abgegebenen Stimmen auch ausgewertet wurden. Sichtbar wird hier die Verbindung von Platonismus und Pythagoreismus: Die Zahlen sind in Trumps Einlassungen naiver Ausdruck der Ideen und die Ideen naiver Ausdruck der Zahlen. Was am Ende nicht zugestanden wird: Die Zeit als Vermittlungsinstanz, denn die könnte ja auch die anderen ermächtigen.

Besonders perfide wird die gesamte Situation nun noch dadurch, dass das Ganze kalkuliert herbeigeführt scheint, weil die dafür notwendigen Bedingungen im Vorfeld von den Akteuren rund um Trump selbst erzeugt wurden: Die Republikaner haben im Wahlkampf gezielt von der Briefwahl abgeraten und damit die Anzahl der "roten" Briefwähler aktiv und bewusst reduziert. In manchen Staatenparlamenten haben die Republikaner zugleich darauf hingewirkt, dass die Briefwahlstimmen zeitverzögert zu den Stimmen aus den Wahllokalen ausgezählt werden; dass also das selbst erzeugte Übergewicht der "blauen" Stimmen erst nach dem ebenso selbst erzeugten Übergewicht der "roten" Stimmen gezählt wurde. So wurde die sog. Red Mirage, das "rote Trugbild", die republikanische Fatamorgana erzeugt, die im Kern von Trumps Einlassungen zum Wahlergebnis steht und so auch ganz geschickt über die Intuition die Aufmerksamkeitsökonomie hinsichtlich der Wähler und Sympathisanten kanalisieren konnte und kanalisiert hat. 

Trumps einzig erfolgreiche Klage in Bezug auf das Wahlergebnis erzeugt eine intuitive Einsicht, insofern Wahlbeobachter gerichtlich sanktioniert weniger Abstand halten müssen als ursprünglich vom Auszählungskomitee veranschlagt: Unmittelbar erfasst scheint sich daraus zu ergeben, dass mehr Beobachter auf dem selben Raum zugegen sein können, was mehr Kontrolle in Sachen Verhinderung von Wahlbetrug zu versprechen scheint. Non-intuitiv fehlt hier allerdings die Information, dass Wahlbeobachter (a) quotiert und (b) akkreditiert sind. Soll heißen: Die erfolgreiche Klage betrifft m.W. eine rein technische und nachgeordnete Modalität, keine prinzipielle Möglichkeit. Andererseits stand und steht der angebliche Wahlbetrug auch nach über 60 erfolglosen Klagen als bloßes Gerücht des Amtsinhabers, über den abgestimmt wurde, im Raum; dieses bloße Gerücht setzt wiederum auf dem vorigen Punkt auf und kanalisiert die Aufmerksamkeitsökonomie noch weiter. 

Tatsache: Kein Amtsinhaber hat im popular vote bisher so viele Stimmen erhalten wie Donald Trump. Daraus folgt jedoch nicht, wie man intuitiv schließen könnte, dass Trump die Wahl gewonnen hat ("die meisten Stimmen von allen" = "Wahlsieg"). Der amtierende Präsident stellte sich nämlich nicht gegen seine Amtsvorgänger zur Wahl, sondern er hatte einen Herausforderer, der im popular vote mehr Stimmen erhalten hat als irgendein Kandidat überhaupt bei einer Präsidentschaftswahl in den USA - einschließlich Trump. Diese Tatsache bleibt im Narrativ entweder unerwähnt (eher selten) oder sie wird (weitaus häufiger) bestritten auf Grundlage des bloßen Gerüchts vom Wahlbetrug, das wiederum im künstlich erzeugten Trugbild verankert ist. Das Narrativ kann auch hier wieder erfolgreich sein, weil die Aufmerksamkeitsökonomie entsprechend kanalisiert wird, insofern die anfängliche Tatsache auch Argumente ex concessione der diskursiven Gegenseite erlaubt ("die geben das ja selbst zu, dass Trump von allen Amtsinhabern bisher die meisten Stimmen bekommen hat") und damit die Beschuldigung verstärken kann, die anderen würden etwas Krummes drehen ("wir haben uns auf diese Tatsache einigen können, also muss es andere Gründe geben, warum unser Kandidat nun doch nicht gewonnen haben soll").

Die soziale Dynamik, die dabei genutzt wird, findet sich auch in der Mitte der Kritiker und Gegner der Corona-Maßnahmen in Deutschland, und sie besitzt zwei Ebenen:

  • sense of entitlement, d.h. die Intuition oder das Gefühl, "die Welt" schulde einem etwas (hier konkret: der Wahlsieg; etwas abstrakter: die politische Herrschaft);
  • die Intuition oder das Gefühl, dass einem dieser Anspruch streitig gemacht oder weggenommen werden soll (hier konkret: von "den Linken").

Daraus erwächst ein Gewaltpotenzial, weil man eben "für sein Recht" notfalls auch "kämpfen", zumindest aber "das Maul aufmachen" muss - denn: "ein Recht, das man nicht wahrnimmt, hat man nicht"; zumindest nach diesem intuitiven Verständnis. Der Katalysator, durch den dieses Potenzial dann umgesetzt werden kann, lässt sich unter dem Begriff "stochastischer Terrorismus" bzw. "stochastische Brandstiftung" subsumieren. Soll heißen: Je mehr Benzin man flächendeckend verschüttet, desto wahrscheinlicher brennt es auch irgendwann. Ein historisches Beispiel für diesen Katalysator wäre das Attentat auf Rudi Dutschke: Den Schüssen auf ihn ging eine stochastische Brandstiftung voraus, an der die Bildzeitung mit ihrer Kampagne speziell gegen Dutschkes Person maßgeblich mitgewirkt hat.

Die Möglichkeitsbedingung dafür, dass das am Ende auch passiert, und die übergreifende Klammer zwischen diesen einzelnen Elementen, liegt letztlich darin, dass die angesprochenen und erreichten Leute in einer Art von virtueller Welt leben, also in einer bloß technischen Nachbildung der materiellen Wirklichkeit, die den Teilnehmern zwar echt erscheinen mag, aber keine realen Effekte hervorbringt. Anders ausgedrückt: Es bedarf einer Art von in sich geschlossener Parallelgesellschaft, wie man sie beispielhaft rhetorisch sichtbar in der bewussten Abgrenzung zu einem "Mainstream" finden kann (und Dutschkes Attentäter, um das Beispiel nochmal aufzugreifen, war Teil einer Nazi-Subkultur). Von Trump und seiner Entourage wurde die Konstruktion so einer virtuellen Welt schon seit längerem betrieben, auch und gerade in höchstwahrscheinlich bewusster Einmütigkeit mit "Q" und dem dazugehörigen QAnon-Qult, der wortwörtlich aus "der" virtuellen Welt kommt. Und vor allem im Laufe der Pandemie wie dann mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen wurde hier gezielt an dieser virtuellen Welt gebastelt und am entsprechenden Narrativ gestrickt. So wurde das gefestigt und ermächtigt, was Hannah Arendt als Bündnis zwischen Mob und Elite beschrieben und Trump in der ersten Wahl-Debatte dann ganz deutlich und beispielhaft ausgesprochen hat: Auf die Bitte, die "Proud Boys" aufzufordern to stand down reagierte er mit stand back and stand by. Auch seine Handlanger in Politik und Medien von Conway über Jones, Limbaugh, Cruz und Hawley bis Giuliani und noch weiter, z.B. tief in die Sphäre der us-katholischen Publizistik, haben an diesem Bündnis zwischen Mob und Elite gewerkelt. 

Der Mob hat sich seinerseits allerdings auch nicht unfreiwillig zum Werkzeug dieser Elite gemacht, sondern die vorgesetzte virtuelle Welt weitgehend kritiklos akzeptiert - weil diese Welt strikt intuitiv ist, insofern es gegen die anderen geht, um die Ermächtigung des Eigenen und die Entmachtung des Fremden. Es geht dabei nicht nur um den transaktionalen Kern des Trumpismus, sondern auch um einen ultimativ selbst-gerechten Manichäismus. Diese Häresie wiederum hat absurde Spitzen hervorgebracht wie z.B. die Stilisierung und vor allem Sakralisierung von Trump als "(neuer) Kyros" - und vom ursprünglichen WASP-Spektrum ist diese Stilisierung dann leider auch in die Kirche eingesickert. In Wahrheit handelt es sich bei MAGA und Trumpismus jedoch um einen Barabbas-Kult, dem die Christen hier bereitwillig folgen - und in diesem Kontext ist es dann für die Teilnehmer gleichwohl egal, wer da jetzt konkret in die Rolle des Barabbas schlüpft ("Trumpismus ohne Trump"), solange die Leute sich nur entscheiden können und ihre Wahloptionen zwischen der Wahrheit (reale Welt des Fremden) und dem Straßenräuber (virtuelle Welt des Eigenen) nicht künstlich reduziert werden.

An jener Stelle, an der diese virtuelle Welt für die Teilnehmer nun spürbar von der realen Welt abweicht - weil z.B. der Präsident nicht über der Verfassung steht und darum seine Rhetorik und sein Handeln auseinanderfallen -, da tut sich ein Problem auf: Hier entsteht ein Riss, eine Art von kognitiver Dissonanz, die dem einzelnen Teilnehmer letztlich zwei Optionen lässt und der Bewegung insgesamt Zerfall und Extremisierung beschert: Abwendung derer, die sich für die reale Welt entscheiden, und Fanatisierung derer, die an der virtuellen Welt festhalten. Empirische Beispiele dafür wären die Stadtguerilla ("operiert im Riss zwischen Staat und Masse") mit ihrem Terrorismus; die Querdenker ("die da oben hören uns nicht zu"), die nach einigem Erfolg nun zunehmend Zerfallserscheinungen haben und aktuell wohl im Hiatus sind bzw. Absetzbewegungen der führenden Köpfe erleben; schließlich auch MAGA ("sadly, the American Dream is dead"), das sich extremisiert hat bis hin zum faschistischen Putschversuch, d.h. zum gewalttätigen Angriff auf die politischen Institutionen als solche. 

Es geht dabei letztlich um eine identitätspolitische Umkehr der Verhältnisse, geradezu um eine "Umwertung der Werte": Das demokratische Experiment, der logos der polis, die Ordnung der res publica, sollte recht eigentlich eine Art "Sandkasten" zur gezähmten Emulation des Kampfes um Macht und Herrschaft in der Welt bereitstellen, indem dieser Kampf formalisiert, das heißt: zivilisiert, kanalisiert und reglementiert, damit eben auch befriedet wird. Als solche wird Politik offensichtlich nicht mehr allgemein begriffen: Der Charakter als "Spiel" und der zugehörige "Sportsgeist", der es erlaubt, eigene Niederlagen innerhalb der politischen Institutionen anzuerkennen und daraus keine Feindschaften zu züchten, scheint abhanden gekommen. Stattdessen wird wohl der Erfolgsdruck des Eigenen so ernst genommen, dass die politischen Institutionen selbst zum Angriffsziel werden und man aus voller Überzeugung ruft: non serviam!

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