Wenn ich den Rückgriff auf die Intuition (oder auch auf Autoritäten) kritisiere, dann ist der Gegenstand meiner Kritik nicht, dass überhaupt oder grundsätzlich darauf zurückgegriffen wird. Im Gegenteil: Intuition ist (genau so wie der Verweis auf Autoritäten) bisweilen ein notwendiger Wegpunkt im intellektuellen Prozess und Diskurs, insofern sie bspw. einen sinnvollen Ausgangspunkt für das Denken bilden kann. Mit Friedrich Schleiermacher kann man hier z.B. den "divinatorischen Akt" nennen: also unsere Intuition, dass sich in der Welt, der wir begegnen, eine ganz andere personale Realität äußert, was letztlich den Einstiegspunkt in den hermeneutischen Zirkel markiert.
Was ich hingegen kritisiere ist, dass die beschriebenen Platoniker und Pythagoreer bei Intuitionen (und Autoritäten) stehen bleiben, dass der Diskurs sich also auf Intuition (und Autorität) reduziert. Das sieht man z.B. sehr schön, wenn bisweilen Hausärzte gegen Immunologen oder Epidemiologen gegen Ökonomen oder Soziologen gegen Psychologen etc. wie Pokémons gegeneinander in die Arena geworfen werden, um den Kampf auszutragen, ohne dass es dann wirklich darum ginge, was dieses oder jenes Pokémon denn eigentlich von sich gibt, weil es ja ausreicht, dass sie die je eigene Ansicht desjenigen vertreten, der sie in die Arena wirft.
Hier kommt zugleich das Zuhören ins Spiel, das m.E. oftmals allzu leichtfertig nur auf andere abgewälzt wird: Ich muss dort widersprechen, wo es heißt, dass das Zuhören in erster Linie eine "Bringschuld" o.ä. "der Etablierten", "der Mächtigen" oder allgemein "der anderen" sei. Denn die Dynamik aus "Wort" und "Antwort", die einen Diskurs oder allgemeiner: Kommunikation konstituiert, setzt noch vor der Kategorisierung von "etabliert" oder "marginal", "mächtig" oder "machtlos" an. Insofern Kommunikation als Sich-Verhalten ein Beziehungsgeschehen beschreiben soll, halte ich hier auch Paul Watzlawicks Axiom, demnach man nicht nicht kommunizieren könne, für unzutreffend: Wer nicht zuhört, der kommuniziert nicht, denn er schneidet sich selbst vom Wort ab, so dass er keine Ant-Wort geben kann. Man mag vielleicht nicht aufhören können, im Sinne des Sender-Empfänger-Modells zu senden (also "Wort" zu geben oder irgendeine "Haltung" zu zeigen), doch das ist nur ein Drittel des Ganzen und umfasst in sich eben weder Ant-Wort noch Ver-Halten. Der Wert des Zuhörens bemisst sich darum nicht am Verhalten des anderen, sondern er liegt intrinsisch im Akt des Zuhörens selbst, insofern es eine Beziehung zwischen Wort und Antwort, zwischen Haltung und Verhalten etabliert. Diese Beziehung als etwas intrinsisch Gutes zu pflegen kann und sollte man m.E. von jedem erwarten, der am öffentlichen Diskurs teilnehmen möchte. Soll heißen: Auch wenn die anderen diesem Anspruch nicht, nicht vollständig oder nicht immer gerecht werden, entbindet es einen selbst nicht davon.
Demgegenüber sehe ich in der momentanen Gesamtlage seitens (eines beträchtlichen Teils) der Kritiker und Gegner der politischen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung das Missverständnis, eine innerhalb ihrer jeweils eigenen Gruppe gefühlte Ermächtigung des Eigenen und Entmachtung des Fremden auch im Sinne von realen und institutionellen Folgen im Gemeinwesen zu erwarten (Jan Böhmermann hat diese Mentalität bereits nach der Bundestagswahl 2017 im Lied "Deutschland ist wieder im Reichstag zurück" humoristisch aufs Korn genommen). Wo diese Folgen nicht existieren, da bleiben zwei Optionen, die sich gegenseitig nicht notwendig ausschließen müssen: Extremisierung und Zerfall. Beide Optionen setzen allerdings nicht auf Zuhören, sondern auf den eigenen Sprechakt, meist in Form der bloßen Tat, wodurch eine schlichte Haltung ausgedrückt wird.
Es gibt nun einige schlagende Beispiele für fehlendes Zuhören bei den Kritikern und Gegnern, die ich allerdings auch beim größten Zugeständnis an jene Kritiker und Gegner nicht auf "die Mächtigen" oder "die Etablierten" abwälzen kann, ohne aktiv einen Sündenbock-Mechanismus zu bedienen:
Angefangen ganz zu Beginn der Pandemie: Die Symptome einer Ansteckung wurden von fachlicher Seite dergestalt beschrieben, dass sie denen einer Grippe ähnelten. Dies wurde im kritischen Diskurs irgendwie transformiert in die Einschätzung, bei Covid-19 handle es sich um eine Grippe. Als Folge wurde die Krankheit heruntergespielt, namentlich durch eine vermeidbare Verkürzung ihrer Beschreibung, die wiederum in ungenauem Zuhören gründet ("ähnliche Symptome" bedeutet schließlich nicht "gleiche Krankheit"), was sich gleichermaßen in einer fehlerhaften Risikobewertung des gesamten Komplexes niedergeschlagen hat. Besonders ärgerlich ist m.E., dass diese Verkürzung bzw. Fehleinschätzung selbst heute noch ab und an vorgebracht wird.
Anders gelagert die Diskussion um die sog. "Maskenpflicht": Der Fokus auf die bloße Frage, ob denn zum Tragen eines MNS geraten wird, und das Desinteresse an der Frage, warum davon abgeraten oder dazu geraten wird, hat ein vermeidbares Unverständnis gegenüber der MNS-Pflicht erzeugt, das in unvollständigem Zuhören gründet. Selbiges gilt dann auch für die Schutzfunktion des MNS - hier liegen vermeidbare Informationsdefizite vor, die durch bloßes Zuhören nicht entstanden wären.
Analog dazu steht schließlich die Debatte um die Sterblichkeit: Von "übertriebenen Zahlen" konnte und kann nur dort gesprochen werden, wo ein vermeidbares Versäumnis besteht, zu klären, um welche Zahlen es sich eigentlich handelt (Infektionssterblichkeit oder Fallsterblichkeit), und was diese Zahlen konkret bedeuten - wo also nicht hingehört wird, worüber man eigentlich spricht.
Diese drei inhaltlichen Punkte haben (a) mit den Reibungsverlusten in der journalistischen Darstellung der jeweiligen Äußerungen entsprechender Fachstellen (z.B. RKI) und (b) weit mehr noch mit der je individuellen Haltung gegenüber der Wissenschaftskommunikation sowie damit zusammenhängend (c) mit der jeweils selbst vorgenommenen Auswahl von Quellen zu tun - ganz grundlegend bereits in der Frage, bei welcher Autorität der eigene Auswahlprozess beginnt: bei "Mainstream"-Medien, bei "alternativen" Medien und/oder bei "sozialen" Medien?
Alle drei Punkte stehen m.E. systematisch im Zentrum der Position der Kritiker und Gegner der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung sowie inhaltlich am Anfang des organisierten "Widerstandes":
- Die Pandemie sei ein "Fehlalarm" (weil Covid "nur eine Grippe" sei);
- die Politik sei "widersprüchlich" (weil erst von Masken abgeraten und dann doch eine Maskenpflicht eingeführt wurde);
- die Zahlen seien "künstlich hochgetrieben" (weil die Infektionssterblichkeit niedriger ist als die Fallsterblichkeit).
Erst auf dieser Grundlage fußen und funktionieren dann die Erzählungen von Diktatur und Verschwörung, die mit den sog. "Covidioten" verbunden werden:
- Die Pandemie wird zur "Wahndemie",
- die Politik wird zur "Corona-Diktatur",
- die Zahlen werden zur "Lügenpresse".
Andererseits stehen ungenaues, unvollständiges und unterlassenes Zuhören nicht im luftleeren Raum, sondern hier kommt explizit auch die Intuition ins Spiel, konkret auf die aktuelle Pandemie bezogen in zwei wesentlichen Punkten, die sich vielleicht als "praktisch" und "theoretisch" charakterisieren lassen:
Praktisch zeigt sich dies in der Alternative AHA oder Triage: Es stehen sich hierbei eine konkrete Einschränkung des eigenen Lebens und das abstrakte Aussortieren anderen Lebens anhand ökonomischer Kriterien gegenüber. Beides markiert die Extrempunkte im Umgang mit der Pandemie, weil sie den Anfangs- und Endpunkt des menschenmöglichen Handelns beschreiben: primum non nocere und ultima ratio, während sich alles weitere gesellschaftliche und politische Handeln notwendig immer nur dazwischen abspielen kann. Die ideologischen "Maskenverweigerer" lehnen dabei eine zeitlich, räumlich und persönlich konkrete Einschränkung ab und nehmen somit gleichzeitig eine zeitlich, räumlich und persönlich abstrakte Selektion menschlichen Lebens freimütig in Kauf. Sie bleiben insofern bei der darunterliegenden Intuition stehen, als diese festlegt: (1) konkret wiegt schwerer als abstrakt, und (2) Nachteil für mich selbst wiegt schwerer als Nachteil für einen anderen.
In theoretischer Hinsicht zeigt sich dies vor allem in der Diskussion um das IfSG und den darin verwendeten Begriff "vermehrungsfähiges Agens", der ganz gerne (und eigentlich unzutreffend) als "vermehrungsfähiges Virus" wiedergegeben wird: Es stehen sich dabei ein non-intuitives juristisches Verstehen und ein intuitives Alltagsverstehen des Gesetzestextes gegenüber, insofern seitens der Kritiker und Gegner auf die konkrete Infektiosität des individuellen Einzelfalls abgezielt wird und nicht auf die abstrakte Kategorisierung von Viren unter den o.g. Begriff. Die Intuition, bei der stehengeblieben wird, lautet: unmittelbares Erfassen wiegt schwerer als methodisch vermitteltes Begreifen - und das markiert sozusagen die intuitive Operation schlechthin, die ich auch im Herzen der o.g. drei vermeidbaren Dingen sehe, da ungenaues, unvollständiges und/oder unterlassenes Zuhören grundlegend die Wege bereiten, um methodisch vermitteltes Begreifen umgehen, oder besser ausgedrückt: um bei unmittelbarem Erfassen verharren zu können.
Darüber hinaus zeigt sich dieser theoretische Aspekt allerdings auch in einem sehr interessanten anderen Kontext: Es betrifft die Einschätzung des Virus und der Risikosituation, indem nämlich 2019-nCoV entweder generell unter der Rubrik "Coronaviren" ("es gibt soundsoviele Coronaviren beim Menschen, das ist nichts Neues") oder individuell unter der Rubrik "Vermehrungsfähigkeit" ("nicht jede Infektion bedeutet Krankheit") betrachtet wird. Beides ist intuitiv, denn beides erschließt das Virus im Sinne des unmittelbaren Erfassens als Allgemeines (Genus "Coronaviren") und/oder als Besonderes ("vermehrungsfähiges" Individuum). Das ermöglicht es, die Gefahr im öffentlichen Diskurs herunterzuspielen ("Coronaviren sind nichts Neues" und "nicht jede Infektion macht krank", darum: "alles in Ordnung, kein Grund für Einschränkungen"). Was hierbei fehlt, ist jedoch ein Verständnis für speziell SARS-CoV-2: Das ist nicht mehr intuitiv, weil es eine Vermittlung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen vornimmt, im weitesten Sinne also diskursiv ist, und so eine präzisere Risikobewertung erlaubt.
Dieses spezielle Verständnis steht analog zum gemäßigten Universalienrealismus, während die politischen Maßnahmen von der Grundlage entweder des generellen oder des individuellen Verständnisses aus als nominalistisch verkauft und kritisiert werden ("Hysterie", "künstlich in die Höhe getrieben", ...), weil sie nicht dem naiven Realismus entsprechen, der sich intuitiv aus dem Allgemeinen bzw. Besonderen ableitet, d.h. unmittelbar daraus erfassen lässt. Um beim konkreten Beispiel zu bleiben: Die Ableitung aus dem Genus "Coronaviren" ist hierbei das platonische Extrem, die Ableitung aus der individuellen "Vermehrungsfähigkeit" das pythagoreische Extrem - beim einen ist die Gefahrlosigkeit eine naive Emanation der (generellen) Idee, beim anderen ist sie eine naive Emanation der (individuellen) Zahl.
Die politische Entsprechung hierzu bestünde darin, entweder auf der generellen Ebene des Verfassungsrechts zu operieren oder auf der individuellen Ebene von Verordnungen und Anweisungen - die spezielle Ebene der parlamentarischen Gesetzgebung, die zwischen beidem vermittelt, bleibt dabei außen vor, und das kann den Hang identitätstheoretischer Demokratievorstellungen (wie bei weiten Teilen der Bewegung von Kritikern und Gegnern zu finden) zu autoritären bzw. ochlokratischen, d.h. populistischen Strukturen sowie die Nähe der Kritiker und Gegner zur Reichsbürgerbewegung, deren Gruppen auf eine je eigenmächtige Setzung der Verfassungsordnung pochen, etwas erhellen: Rhetorisch wird zwar gerne der Verweis auf die Parlamentshoheit verwendet, doch inhaltlich fungiert dieser Verweis mehr als bloßes Instrument, um die Verordnungen und Regelungen der anderen unverdächtig angreifen zu können. Cases in point: Der "Sturm auf den Reichstag" im August 2020 sowie das Einschleusen von rechtsextremen Agitatoren in den Bundestag durch die AfD-Fraktion im November 2020.
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