Montag, 21. November 2016

Zum faustischen Geiste

Faust erwacht im zweiten Teil des Dramas frisch gestärkt in der anmutigen Gegend, nachdem er das Kind (Ist über vierzehn Jahr doch alt!) mit derselben Hybris ins Verderben gestürzt hat, deretwegen ihn der Erdgeist weiland verstieß. Der Geist, den er begreift, wird indes im Prolog vom Herrn höchstselbst benannt: 

Der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen.

Er ist es auch, der in der Hexenküche mit oben zitiertem Spott auf die Verknüpfung von Wort und Denken blickt, nachdem er bereits dem jungen Schüler in der Sprechstunde zugesetzt hat:

Denn eben, wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. 

Am Ende will der faustische Geist gar nicht denken, er will überhaupt nicht erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und so stirbt er im hohen Alter erblindet und mit Zufriedenheit, die er aus seiner Imagination schöpft, weil er die Lemuren-Totengräber für seine getreuen Arbeiter hält. Goethe präsentiert damit den umfassend gebildeten Renaissancemenschen nach seiner (Goethens) Façon. Ein geflügeltes Wort ließ die Soldaten "mit dem Faust im Tornister" in den ersten Weltkrieg ziehen, Oswald Spengler sprach von der "faustischen Kultur" im Herrenvolk, und Thomas Mann sah in der dramatischen Dynamik eine Entsprechung zur Verwicklung von deutschem Volk und Nationalsozialismus. 

Welchem Geist gleichen die Adepten dieser Diskussion, welchen Geist begreifen sie?

Dass das real Existierende nicht nur die kleine, begrenzte Menschenwelt sei, ist ja im "Faust" wunderschön einerseits durch den Erdgeist thematisiert, der nach eigener Aussage der Gottheit lebendiges Kleid wirkt, und andererseits im Kontext der Gretchenfrage, als Faust seinen Pantheismus vom Allerhalter darlegt.

Zugleich wagt sich auch der zweite Teil der Dichtung in seiner Phantasmagorie durch den ganzen Kreis des Kosmos, wenn Faust beispielsweise zu den Müttern hinabsteigt, um den glühenden Dreifuß zu holen, mit dem Homunculus (der nur in seiner Phiole leben kann: Welch ein Bild für den beschränkten menschlichen Mesokosmos!) ins antike Griechenland reist, wo sich Thales und Anaxagoras über die Herkunft des Lebens streiten, über Vulkanismus oder Neptunismus diskutieren, und wenn Faustens Seele im Nachspann durch die Kreise der neuplatonischen Ordnung hin zum Ewig-Weiblichen gezogen wird. Darauf verweist auch der Geist, der stets verneint, in seiner Selbstvorstellung im ersten Teil:

Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war, ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar.

Noch näher bei Plotin, dem letzten antiken Philosophen, der einen kosmischen Gesamtentwurf wagte, kann man kaum stehen.

Und diese Sachen sind dem Faust ja alle bewusst: Trotz aller Verachtung gegenüber der Schulweisheit will er Mephistos Namen wissen, weil eben Begriff, Wort und Denken als Wirklichkeit doch zusammenhängen, so wie er mit der rechten Übersetzung des logos ringt, und wie er den Pudel zunächst mit Undene, Sylphe, Salamander und Incubus bannen möchte. Das ist insofern alles schon "eingepreist", wie es jüngst in der US-Wahlnacht von den Moderatoren hieß. Faust steht hier nicht am Anfang irgendeines Verständnisses: Er verweigert sich schlichtweg der Einsicht, dass sein Geist keine Monade ist. So spricht ein Geist zum andern Geist gehört einfach nicht zu den Modalitäten, die er seinem eigenen Dasein zugestehen möchte.

Das ist die ganze Tragik des Dramas: Der Homunculus zerschellt an Galatees Muschelwagen, Euphorion stürzt sich zu Tode, Gretchen wird gerettet, und am Ende fährt selbst Faustens Unsterbliches zum Himmel. Zurück bleibt alleine Mephisto - der Geist, den Faust begreift, dem er gleicht. Mephisto ist recht eigentlich die tragische Figur des Schauspiels, denn er weiß nicht nur um die kosmischen Zusammenhänge seines Tuns (wohingegen Faust sich seines Triebes halb bewusst ist), sondern er verliert am Ende sogar das, was ihm eigentlich rechtmäßig zustünde. Interessant ist dabei, dass sich der Kontrast aus Formtrieb (Pflicht) und Stofftrieb (Neigung) recht eigentlich nicht wie bei Schiller im Spieltrieb löst, sondern im Grunde genommen wie im antiken Drama durch den deus ex machina - natürlich mit Ansage, denn der Prolog im Himmel verrät genau genommen schon das Ende; insofern: spoiler alert!

Der Behauptung, Goethe sei kein religiöser Guru, wird jemand vom Schlage eines Rudolf Steiner freilich widersprechen, aber das braucht uns recht eigentlich nicht zu interessieren. Denn gerade weil und wenn wir Goethe nicht als Guru sehen, können wir uns über die Themen und Motive seines Dramas sine ira et studio austauschen: Gerne auch darüber, wie er als Naturforscher geradezu einen Gegenentwurf zur newtonschen Naturwissenschaft konzipiert hat, der nicht so sehr auf die geometrische Beherrschung der Umwelt per allgemeiner und universaler Gesetze, sondern viel mehr auf die ästhetische und schöpferische Kraft im Einzelding abzielt. Freilich, so eine Wissenschaft ist heutzutage, da sich der Szientismus im 19. Jahrhundert durchgesetzt hat, nicht mehr möglich. Was Goethe noch als echte Naturforschung betreiben konnte, hat heute allenthalben einen Platz in der Hermeneutik.

"Was in der Bibel steht" und was nicht, wäre indes eine separate Diskussion. Wer im Angesicht der reichen Auslegungstradition der Heiligen Schrift mit ihren verschiedenen Sinn-Ebenen wider den empirischen Befund immer und ausschließlich auf einen naiven Literalismus oder einfältigen Textpositivismus abhebt, dem entgeht zwar die eigene vorsintflutliche Ideologie. Er zeigt uns andererseits aber den faustischen Geist in praktischer Anwendung, der weder den Erdgeist noch das Gretchen begreifen kann, weil er beides nicht begreifen will.

Welch Schauspiel - aber, ach! ein Schauspiel nur!

Besonders schön hinsichtlich der Frage, ob die Begrifflichkeit "Gott" im pantheistischen oder auch panentheistischen Konzept Sinn macht, ist natürlich die Antwort, die Goethe seinem Faust auf die Gretchenfrage in den Mund legt: Das lässt sich durchaus als spiritualistischer Naturalismus bezeichnen, und die Einheitserfahrung der Phänomene in sich und für sich steht sehr stark im Mittelpunkt. Aber ein Atheismus ist es doch gerade nicht, ganz im Gegenteil, denn die Gottheit im "Faust" ist (über-)seiend, sie existiert, sie gibt den Geistern ihr Dasein, erhält sie, bewegt sie, während diese wiederum an ihrem lebendigen Kleid wirken. Das ist durchaus verwandt, zu einem Teil bestimmt auch inspiriert, aber doch nicht deckungsgleich mit dem spinozischen Materialismus; es ist wohl eher ein komplementäres Gegenstück dazu, denn Spinozas Substanzphilosophie kann mit der goetheschen Empfindung/Empfindsamkeit recht wenig anfangen, da diese sich der geometrischen Methode entzieht, aus der bei Spinoza alles mit Notwendigkeit kommt. Und es könnte vom humeschen Rationalismus, dem nietzscheanischen Nihilismus oder dem sartreschen Existenzialismus nichts weiter entfernt sein (vom Gerumpel des "Neuen Atheismus" ganz zu schweigen). Es entspricht doch eher dem Kosmos, den Plotin aufzieht und rund um das Eine gruppiert.

Wenn dabei die Begrifflichkeit "Gott" einen Sinn ergibt, dann als das unbedingte und "über-substanzielle" Einfache, aus dem alles kommt, durch das alles erhalten wird und in das alles zurückkehrt. Das ist nun am Ende auch etwas ganz anderes als der sterile zureichende Grund, den der leibnizsche Deismus postuliert.

Fausts Antwort zur Gretchenfrage als reines Geschwafel abzutun, tut so einerseits dem Faust in gewisser Weise zutiefst Unrecht - denn er versucht hier wohl tatsächlich, das in Worte zu fassen, was nicht in Worte gefasst werden kann. Es blitzt hier im Angesicht der naiven Unschuld Gretchens durchaus so etwas wie Ehrlichkeit auf. Dies wird zuvor auch thematisiert, wenn Faust sich noch einmal an den Erdgeist wendet (Erhabner Geist ...), während Mephisto rügt: 

Nichts Abgeschmackters find ich auf der Welt als einen Teufel, der verzweifelt.

Wenn es im Drama einen Punkt gibt, an dem Faust die Wendung zum Guten selbst in der Hand hat, dann zwischen Wald und Höhle und Mephistos Auftritt in Marthens Garten.

Andererseits, ja, da lässt sich das alles auch als Geschwätz des faustischen Geistes auslegen, durch das sich gerade der Zuschauer (oder Leser) dem naiven Kindlein so richtig überlegen fühlen kann: Während die jungfräuliche Unschuld sich besorgt zeigt -

Du ehrst auch nicht die heilgen Sakramente ... Doch ohne Verlangen ... Denn du hast kein Christentum ...

-, da kann der faustische Geist sich in Selbsterhöhung baden und zufrieden über dem Mädchen stehen. Und so nimmt er der unschuldigen Jungfrau auch noch das letzte, was ihr übrig geblieben ist.

Heinrich, mir graut vor dir!

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