Montag, 28. November 2016

Hermeneutik des Gebets

Es erscheint notwendig, sich klarzumachen, was das Gebet bedeutet. Und das ist eben kein Münzwurf in den Wunschbrunnen, kein Reiben der magischen Hasenpfote, kein Zerstäuben von Feenstaub etc. Es geht darum, im direkten Dialog mit Gott, mit den Engeln, mit den Heiligen, eine konkrete Situation, ein konkretes Ereignis, eine konkrete Sache in den ontologischen Gesamtzusammenhang zu stellen, das Unvollkommene - um mit Boethius zu sprechen - im Licht des Vollkommenen zu betrachten. Modulationen dieser Betrachtung liegen z.B. im klagenden, im lobenden, im beschreibenden, im bittenden Ton.

Die im Gebet vollzogene Kontextualisierung der konkreten Situation in den ontologischen Gesamtzusammenhang hinein eröffnet der Hoffnung die (bzw. eine) Möglichkeit, im Leben Fuß zu fassen, um so wiederum der Veränderung (d.h. dem ganz anderen) Raum zu geben. Denn, ja, an der Veränderung im eigenen Leben ist der Mensch auf die eine oder andere Weise auch immer selbst beteiligt. Katholisch-orthodox spricht man da von der synergeia - "Synergie", d.h. Mitwirkung, und das steht durchaus in starkem Kontrast v.a. zu einer naiven Auslegung des reformatorischen sola gratia ("allein durch Gnade"), die heutzutage von einigen protestantischen, reformierten, evangelikalen etc. Gruppen vertreten wird. Auch der Anspruch, man müsse die Folgen des Betens messbar und experimentell auf Erfüllung oder Nicht-Erfüllung untersuchen können, vertritt die letztgenannte naive Auslegung, und er überführt sie in ein quasimechanistisches Verständnis.

Das kann dazu führen, dass einige Gebetsformen wenig Sinn ergeben, klar. Es gibt eben keinen Erfüllungs-Automatismus durch magische Worte, und insofern muss man das Beten erlernen - vielleicht sogar immer wieder, in jedem Gebet aufs Neue.

Diese Bewandtnis lässt sich z.B. im biblischen Aufruf metanoete erkennen. Der wird für gewöhnlich mit "Kehrt um" oder "Bekehrt euch" wiedergegeben, setzt sich aber aus zwei Elementen zusammen: einmal das Präfix meta, das "nach", "hinterher" oder (im übertragenen Sinne) "darüber hinaus" bedeutet; und dann der Stamm nous, der für "Geist, Denken, Vernunft" steht. Als Aufruf heißt es so viel wie, über das jetzige Denken oder den aktuellen Geist hinaus, oder hinter die Vernunft zu gehen - also, im übertragenen Sinne, zu hinterfragen. Aufschlussreicher wird es aber noch, wenn wir in aristotelischen Bahnen wandern: Dort bezeichnet der oder die nous eine bestimmte Modalität von "Geist, Denken, Vernunft" - oder wie Aristoteles sagt: "Zustand der Seele" -, namentlich die intuitive Vernunft. Metanoete - "bekehrt euch" - ist demgemäß der Aufruf, über die Intuition hinaus, in die Vernunft und das Denken hinter das intuitiv Einsichtige zu gehen. Und was wäre intuitiver als das Gebet als Wunscherfüllungsmaschine zu begreifen? Hier sind wir auch beim Prinzip des do ut des - "ich gebe, damit du gibst", das die typische Opfermechanik der religiösen Kulte beschreibt. Über dieses Verständnis muss man also hinaus gehen, die Wunscherfüllungsmaschine hinter sich lassen.

Das bedeutet andererseits natürlich nicht, dass man nicht mehr bitten darf. Ganz im Gegenteil: Erst so wird die eigene Bitte wirklich in den Zusammenhang der gesamten Wirklichkeit gestellt. Wenn das Gebet kein Wunschbrunnen ist, dann heißt das nun nicht, dass man im Gebet keine Wünsche ausdrücken oder thematisieren darf. Sondern: Erst hier erhalten die eigenen Wünsche ihren ureigenen Platz, und erst hier können sie sich vollends entfalten.

Was passiert beim Wunschbrunnen? Man vollzieht eine Handlung, und mit dieser Handlung definiert man gleichzeitig und höchstselbst ihren Referenzrahmen: Münze ins Becken, badabum, und schon wird eine quasi-mechanische Wunscherfüllung in Gang gesetzt; wie bei einem Kaugummiautomaten. Letztendlich erfüllt man sich den Wunsch selbst, indem man nämlich die Erfüllung des Wunsches geradezu erzwingt, d.h. der magischen Instanz o.ä. über diesen Mechanismus den eigenen Willen aufdrückt.

Beim Gebet ist es umgekehrt: Man stellt sich zuerst in den Referenzrahmen, und dadurch wird auch die eigene Handlung (Klagen, Loben, Bitten, ...) in diesen Rahmen hineingenommen. Erst hierdurch werden eigene Wünsche überhaupt als Wünsche (und nicht bloß als Befehle, Aufträge o.ä.) möglich, denn sie müssen nicht schon selbst ihren eigenen Referenzrahmen definieren. Und weil der Referenzrahmen ontologisch und nicht bloß chronologisch, soziologisch oder psychologisch ist, kann sich der so geäußerte Wunsch einerseits auf alles richten (man kann sich also alles wünschen), während andererseits Gott gerade nicht "entmachtet" wird, sondern ganz im Gegenteil anerkannt wird als dasjenige Gegenüber, das dem Wunsch Wirklichkeit verleihen kann - hier wird der Wunsch nämlich dem anderen als anderem wirklich übergeben, ohne irgendeinen Mechanismus o.ä.

Die naheliegende Frage, "ob die positive Wirkung eines Gebetes im Sinne eines Möglichkeitsraumes zwingend einen existierenden Gott voraussetzt", hängt natürlich vom Gottesbegriff ab: Den alten Mann mit Rauschebart braucht man dazu nicht, ebenso wenig wie den großen Manitu oder den Göttervater hoch droben im Olymp. Wenn wir jedoch das Gebet als Öffnen eines Möglichkeitsraumes begreifen - gerne auch als Variante der Meditation (wörtl. "Ermittlung") -, und wenn dieser Raum eben nicht nur ein systemisches Gespräch zwischen Elementen (i.e. die "faktologische" oder soziologische Dimension) und nicht nur eine Meditation des natürlichen Rahmens (i.e. die chronologische Dimension) und nicht nur eine Imagination des individuellen Geistes (i.e. die psychologische Dimension) betrifft, sondern den ontologischen Kontext reflektiert, dann steht zumindest das als notwendig da, was Sokrates ho Theos ("der Gott"), was Plato to Agathon ("das Gute"), was Aristoteles proton kinoun akineton ("erstes unbewegtes Bewegendes"), was Plotin to Hen ("das Eine") genannt hat, und was Gläubige von Jerusalem über Mekka bis nach Kerala als eins und dasselbe annehmen.

Damit kein Missverständnis entsteht: Die anderen Varianten werden dadurch nicht per se abgewertet, ganz im Gegenteil - im Gebet können die anderen Varianten sogar berücksichtigt und ihrerseits reflektiert werden. Doch sie treffen in ihrer Ausrichtung nicht ganz das, worauf das Gebet zielt. Andererseits handelt es sich bei soziologischem Gespräch, chronologischer Meditation oder psychologischer Imagination eben nicht um Gebet, sondern sie sind in erster Linie Tätigkeiten in eigenem Recht. Insofern sollen sie in erster Linie auch gar nicht auf das zielen, mit dem sich das Gebet beschäftigt.

Dass dies dem einen oder anderen zu kompliziert und theoretisch scheint, glaube ich durchaus: theoría bedeutet schließlich "Gottes-Schau", und "kompliziert" ist mit "`Komplize" verwandt. Dass viele eine Komplizenschaft in Sachen Gottes-Schau ablehnen, wird ja mehr als nur oft deutlich gemacht.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen