Donnerstag, 10. Februar 2022

Lebensschutz: konservativ, liberal, sozialistisch

Weil der Lebensschutz im Sinne des whole life genuin vor-politisch ist, besteht eine inhaltliche Anschlussfähigkeit an jede der drei generischen Ideologien, die sich in der politischen Arena duellieren: Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus
Es kann bei aller Anschlussfähigkeit in dieser Sache jedoch kein do ut des geben - politische Ethik ist kein Kuhhandel. Lebensschutz ist etwas intrinsisch Gutes, keine bloße Verfügungsmasse oder gar "politisches Kapital", das im Sinne eines quid pro quo eingesetzt werden könnte. Strategisch muss deswegen ein über-parteilicher Konsens statt kompromittierender Parteinahme im Zentrum der Bemühungen stehen.

Wichtig sind vor diesem Hintergrund auch und gerade Argumentationspunkte, mit denen man der jeweiligen politischen Tradition innerhalb ihrer je eigenen Grenzen begegnen kann, um den Diskurs adäquat und gewinnbringend zu führen.

Um dazu vorweg ein Missverständnis auszuräumen: Die Einschätzung als konservativ, liberal oder sozialistisch beschreibt keine parteipolitische Einsortierung - zumindest nicht automatisch oder notwendigerweise. Tatsächlich gibt es gerade in Deutschland weder eine echte konservative noch eine echte liberale noch eine echte sozialistische Partei (zumindest keine, die oberhalb der lokalen Ebene eine Rolle spielen würde; und nein: die AfD ist keine konservative Partei), sondern das Parteienspektrum der Bundesrepublik gruppiert sich nach wie vor um die alten Sammlungsbewegungen von Christdemokratie, Freidemokratie und Sozialdemokratie, die die politische Mitte definieren und in je unterschiedlicher Ausprägung an allen generischen Ideologien Anteil haben. 

Es beschreibt den Kern des whole life-Ansatzes, sich nicht auf ein politisches Partisanentum einzulassen. Darum erscheint es lohnend, in einer Diskussion erst einmal zu prüfen, wo die Gesprächspartnerinnen realiter und inhaltlich stehen, bevor entsprechende Argumente vorgebracht werden. Überspitzt ausgedrückt: Ein Parteimitglied der Linken ist in Fragen der Lebensethik nicht automatisch sozialistisch, ebenso wie ein FDP-Mitglied hierbei nicht notwendig liberal ist. Umgekehrt muss auch ein religiös motivierter Lebensschützer nicht zwangsweise konservativ sein. Natürlich darf die organisatorische und parteipolitische Zugehörigkeit des Gegenübers nicht vollständig ausgeblendet werden. Doch zum gelingenden Austausch scheint es noch wichtiger, darauf zu achten, von welcher Tradition die konkrete Gesprächspartnerin zehrt und auf welche Grundwerte sie sich vornehmlich bezieht.

Das eine, universal überzeugende, in allen Situationen anerkannte und schlagkräftige Lebensschützer-Argument gibt es nämlich nicht.

Lebensschutz ist konservativ 

Der Begriff des Konservatismus ist mehrdeutig, und so wird er beispielsweise diesseits und jenseits des Atlantik je anders verstanden: Im amerikanischen Kontext wird er überwiegend nahezu deckungsgleich mit "traditional-marktwirtschaftlich" verwendet, in Europa bisweilen mit "Reaktionismus" gleichgesetzt. Als häufig genannter Kern erscheint eine als natürlich begriffene Ordnung, die positiv als Hierarchie und negativ als Ungleichheit konnotiert wird. Um für den hiesigen Zweck im Diskurs die Komplexität etwas zu reduzieren, scheint es ratsam, drei konservative Verdichtungen herauszustellen, vermittels derer im Gespräch mit einer konservativen Diskussionspartnerin Anschlussfähigkeit hergestellt werden kann. Diese Verdichtungen folgen grob einer Unterscheidung zwischen Humanismus, Naturalismus und Aufklärung:

Zunächst steht so der Wertkonservatismus als Strömung, die auf den spezifischen Wert des Menschlichen blickt. Dies vollzieht sich einerseits an der Linie zwischen "menschlich" und  "nicht-menschlich", womit eine Differenzierung zwischen Mensch und Tier ausgedrückt wird. Andererseits vollzieht es sich entlang der Linie zwischen "menschlich" und "un-menschlich", die analog eine Differenzierung zwischen Zivilisation und Barbarei im Blick hat.
Parallel dazu steht der Neokonservatismus als Strömung, die das aus sich heraus und organisch Gewachsene höher wertet als die vorsätzlich geschaffene und künstlich erzeugte Konvention. Einerseits stehen so die Menschenrechte vor den Bürgerrechten, was einer Abstufung zwischen Naturrecht und positivem Recht folgt. Andererseits stehen die Menschenrechte vor dem Völkerrecht, was sich an einer Abstufung zwischen Individuum und Struktur orientiert.
Schließlich steht der Konservatismus auch als generische Ideologie auf der Grundlage des Grundwerts Wahrheit: Hier vertreten Traditionalismus und Progressivismus jeweils Ordnungen auf Grundlage des Bewährten gegenüber dem Neuen bzw. des Offensichtlichen gegenüber dem Verborgenen. 

Konservativ sind Argumentationen vornehmlich auf der Grundlage von Güter-Ordnungen, insofern diese sich vom Menschlichen, dem Natürlichen, dem Einzelnen, dem Bewährten oder dem Offensichtlichen her entfalten. Es geht dabei in der Praxis vor allem um das Abwägen (i.e. Hierarchisieren) von unterschiedlichen Rechtstiteln bzw. Rechtsgütern: In der Frage der Abtreibung z.B. steht das Lebensrecht des Kindes gegenüber dem Persönlichkeitsrecht der Mutter; bei der Todesstrafe das Lebensrecht des Einzelnen gegenüber dem Schutzrecht der Gemeinschaft; oder im Diskurs über die Sterbehilfe das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gegenüber dem Persönlichkeitsrecht der medizinischen Fachkräfte.

Themenkomplex Abtreibung:
Konservative Befürworterinnen von Abtreibung werten das Persönlichkeitsrecht der Mutter höher als das Lebensrecht des Kindes, indem sie bestreiten, dass überhaupt ein Mutter-Kind-Verhältnis existiert. Hierzu wird fast immer Bezug genommen auf eine vermeintliche oder real vorhandene Unklarheit und Unbestimmtheit in der Frage, ab wann von einem Menschen gesprochen werden kann. Wo nicht eindeutig, klar und offensichtlich von einem Menschen gesprochen werden könne, da dürfe auch kein Lebensrecht postuliert werden, weswegen exklusiv das Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frau bewahrt und geschützt werden müsse.
Dagegen lässt sich von einer konservativen Warte aus einwenden, dass diese gnostische Schlussfolgerung nicht so recht zu ihrer agnostischen Prämisse passt. Ein menschliches Lebensrecht kann nämlich nur da wirklich in Abrede gestellt werden, wo eindeutig, klar und offensichtlich kein Mensch vorhanden ist. Wenn allerdings wirklich kein Konsens darüber herrschen sollte, wann das Menschsein beginnt, dann ist das Lebensrecht zumindest potenziell vorhanden, insofern es eben nicht eindeutig ausgeschlossen ist. Und dann sollten die Regelungen eher vorsichtiger gestaltet sein, damit nicht unwissentlich und/oder unbeabsichtigt Menschen getötet werden. Das heißt in der Praxis, es sollte bereits dem konkret vorhandenen, unstrittig nachweisbaren und zumindest weltanschaulich so klassifizierten Potenzial zum Menschsein - juristisch gesprochen also dem Nasciturus (u.U. vielleicht auch schon dem Nondum conceptus) - wenigstens ein grundlegender Schutzanspruch zukommen. Das bedeutet darüber hinaus aber auch, zukünftigen Generationen das Recht zuzugestehen, es besser zu wissen als die heutige Generation - und zwar mit möglichst viel Verantwortungsbewusstsein der heutigen Generation: Besteht in Zukunft Konsens darüber, dass das Menschsein erst sehr spät beginnt (z.B. mit Viabilität ab SSW 30 p.c. oder ab Geburt), dann haben die, die vor diesem Zeitpunkt nicht abtreiben durften, gegen ihren Willen (Lebens-)Zeit und materielle Ressourcen verloren, um einen anderen Menschen zur Welt zu bringen. Besteht in Zukunft jedoch Konsens darüber, dass das Menschsein bereits sehr früh beginnt (z.B. ab Fertilisation oder ab Nidation), dann haben jene, die nach diesem Zeitpunkt abtreiben durften, willentlich an der physischen Vernichtung von anderen Menschen mitgewirkt. In beiden Szenarien trägt die heutige Generation Verantwortung: einerseits Verantwortung für den unfreiwilligen Verlust von (Lebens-)Zeit und materiellen Ressourcen, andererseits Verantwortung für die willentliche Vernichtung von Menschen. Vor dem Hintergrund, das Menschliche gegenüber dem Nicht- bzw. Un-Menschlichen abzuwägen, erscheint es besser (weil zivilisierter), die Verantwortung für den Verlust von Zeit und materiellen Ressourcen der Verantwortung für die Vernichtung von Menschen vorzuziehen.
Heißt am Ende: So lange keine offensichtliche Eindeutigkeit herrscht, erscheint in dieser Frage bewährte Vorsicht als die bessere Option, da sie den spezifischen Wert des Menschlichen schützt.

Themenkomplex Todesstrafe:
Konservative Befürworterinnen der Todesstrafe werten das Schutzrecht der Gemeinschaft höher als das Lebensrecht des Einzelnen, indem sie auf Sinn und Zweck von Vergeltung und Prävention (darunter fällt auch Abschreckung) zum Schutz des spezifisch Menschlichen verweisen: Die Todesstrafe komme demnach im Sinne der Proportionalität als Höchststrafe für besonders schwere, d.h. unmenschliche bzw. barbarische Verbrechen in Frage. Dies gilt zunächst mit Bezug auf die aktuelle Täterin, so dass diese nicht zur Wiederholungstäterin wird. Zusätzlich gilt das jedoch auch mit Bezug auf potenzielle Täterinnen, so dass diese von ihrem Vorhaben abgebracht bzw. von vorn herein nicht zu Ersttäterinnen werden.
Dagegen lässt sich von einer konservativen Warte aus einwenden, dass die Todesstrafe selbst als Höchststrafe genau dann nicht bzw. nicht mehr als proportional angesehen werden kann, wenn es Möglichkeiten gibt, die die beiden Güter "Leben des Einzelnen" und "Schutz der Gemeinschaft" gleichermaßen bewahren können; zum Beispiel vermittels Sicherungsverwahrung. Hinzu kommt, dass Justizirrtümer durchaus vorkommen und sich nie ausschließen lassen: Diese können bei Inhaftierung revidiert werden, bei Todesstrafe jedoch nicht. Auch hier muss ein Zugeständnis an zukünftige Generationen erfolgen, es besser zu wissen als das Urteil der Gegenwart: Stellt sich im Nachhinein heraus, dass der Verurteilte doch unschuldig ist, dann sind ihm nicht nur (Lebens-)Zeit, materielle Ressourcen und Handlungsoptionen entwendet worden, sondern es wurde ihm das Leben an sich genommen. In der Abwägung der Verantwortung gegenüber der Zukunft ist dies folgerichtig die schlechtere Option, insofern es um den spezifischen Wert des Menschlichen geht. Zuletzt erscheint auch der Verweis auf die Abschreckungsfunktion in sich nicht konsistent, da eine Verbrecherin i.d.R. nicht irgendein Strafmaß rationalisiert, sondern unabhängig von den konkreten gesellschaftlichen Regeln beabsichtigt, gänzlich ohne Strafe davonzukommen. Der Zweck der Abschreckung ist somit recht eigentlich irrelevant für den Sachverhalt.
Heißt am Ende: Die Todesstrafe kann nicht als zulässiges Strafmaß gerechtfertigt werden, ohne wesentliche konservative Grundannahmen zu verneinen.

Themenkomplex Sterbehilfe:
Konservative Befürworterinnen der Sterbehilfe werten das Selbstbestimmungsrecht des Patienten höher als das Persönlichkeitsrecht der medizinischen Fachkraft, indem sie auf die Menschenwürde als unantastbares Gut verweisen: Die Achtung dieser Würde falle mit der Achtung der Autonomie und Selbstbestimmung des Einzelnen zusammen. Diese Autonomie und Selbstbestimmung verwirkliche sich letzten Endes darin, nicht nur bestimmte Daseinsmodalitäten innerhalb gegebener Umstände umzusetzen, sondern auch die Umstände und Bedingungen des Daseins selbst zu gestalten. Folglich erstrecke sich die Selbstbestimmung bis hin zum Sterbenswunsch der betreffenden Person. Soll heißen: Würdevolles Sterben bedeute Sterben nach den Bedingungen und Umständen, welche die sterbende Person in Bezug auf die Grenzen ihres Daseins selbst bestimmt. 
Dagegen lässt sich von einer konservativen Warte aus einwenden: Wenn die Menschenwürde wirklich als unantastbares Gut gelten soll, dann muss sie auch der Selbstbestimmung radikal entzogen sein; denn sonst wäre Antastbarkeit in zumindest dieser einen Hinsicht gegeben. Dies bedeutet, dass die Gestaltung der Umstände und Bedingungen des eigenen Daseins niemals darauf gerichtet sein dürfen, das eigene Dasein in sich und an sich aufzuheben. Weiterhin ist zu bedenken: Die Grenzen des Daseins sind nicht nur subjektiv, sondern sie sind auch objektiv auffindbar. So ist der Beginn des je eigenen Daseins nicht selbst hervorgebracht, sondern von anderen erzeugt bzw. gezeugt, und damit eben auch nie selbst-, sondern immer fremd-bestimmt. Das bedeutet, dass die wesentlichen Grenzen des je eigenen Person-Seins immer auch von anderen Personen bestimmt werden; dies jedoch auf eine konstitutive Art und Weise und nicht destruktiv. Die Herbeiführung des Todes steht somit im Widerspruch zur natürlichen Fremdbestimmtheit des Mensch-Seins, und sie darf darum von der Grundlage der je eigenen Selbstbestimmung aus nicht von anderen verlangt werden.
Heißt am Ende: Auch wenn sich eigenmächtige Handlungen, die den je eigenen Tod herbeiführen, niemals verhindern lassen, würde es doch wesentliche konservative Grundannahmen über Bord werfen, die Tötung eines Menschen als Anspruch oder gar Recht durchsetzen zu wollen.

Lebensschutz ist liberal

Mehr noch als beim Konservatismus unterscheidet sich der Begriffsinhalt des Ausdrucks "Liberalismus" je nach politischer Kultur bzw. geographischem Raum: In Großbritannien und den USA kann das Adjektiv liberal so z.B. geradezu Gegenteiliges bedeuten, insofern es zum einen im Sinne von "klassisch-liberal" (GB), zum anderem im Sinne von "sozialliberal" bzw. "sozialdemokratisch" (GB & USA) oder bisweilen gar "sozialistisch" bzw. "kommunistisch" (USA) verwendet wird. Als häufig genannter Kern lässt sich dennoch eine wie auch immer geartete Nutzenmaximierung bei Fragen der Güter-Allokation destillieren. Dies markiert eine primär ökonomische Logik, die dann in anderen Bereichen des mondo civile adaptiert wird. Zur Komplexitätsreduktion auch hier drei Verdichtungen, die grob einer Unterscheidung zwischen Vormoderne, Postmoderne und Moderne folgen:

Zum einen steht der Ordoliberalismus als Strömung, die den gemeinen Nutzen verwirklichen möchte. Dies vollzieht sich einerseits durch die Einhegung von Macht, und andererseits durch die Beschränkung von Monopolstrukturen. Auf diese Weise wird der Einbettung eines Akteurs in einen strukturellen Zusammenhang Rechnung getragen.
Zum anderen steht der Neoliberalismus als Strömung, die den individuellen Nutzen verwirklichen möchte. Dies vollzieht sich einerseits durch die Beseitigung von kollektiven Zwängen, und andererseits durch die ungestörte Entfaltung des Einzelwesens. Auf diese Weise wird der Akteur als eigener und vor allem eigenständiger Faktor in die Überlegungen eingepreist.
Schließlich steht der Liberalismus auch als generische Ideologie auf der Grundlage des Grundwerts Freiheit: Hier vertreten Kapitalismus und Reformismus jeweils Erwägungen auf Basis der Freiheit der Indifferenz, die auf Zweck-Mittel-Rationalität setzt, bzw. der Freiheit zur Exzellenz, die sich mit Ziel-Ausrichtung beschäftigt.

Liberal sind Argumentationen vornehmlich auf der Grundlage von Vertragstheorien, insofern sie in der Praxis vor allem die Evaluation gemeinschaftlicher Regelungen betreffen: Wenn zum Beispiel anhand von Nützlichkeit aussortiert werden darf - insbesondere Schwache und Kranke, aber auch allgemein freiwillig oder unfreiwillig "unproduktive" Mitglieder eines Gemeinwesens -, dann kann sich prinzipiell niemand sicher sein, nicht auch selbst aussortiert zu werden. Die Ökonomisierung des mondo civile muss darum gerade aus liberaler Sicht ihre eindeutige Grenze in den ökonomischen Akteuren selbst haben, damit die Kategorie "Nutzen" überhaupt eine Bedeutung tragen, d.h. von einer Sache auf eine andere Sache verweisen kann.

Themenkomplex Abtreibung:
Liberale Befürworterinnen von Abtreibung beziehen sich vornehmlich auf die persönliche Freiheit und Selbstbestimmung der schwangeren Frau, auf die kein Zwang ausgeübt werden dürfe. Als vollumfänglicher Eigentümer des eigenen Körpers sei der Einzelmensch für den eigenen Lebensentwurf in letzter Instanz verantwortlich, und dieser Entwurf könne, dürfe und müsse frei gestaltet werden - darunter falle auch die Entscheidung, ob man ein Kind haben möchte oder nicht. Darüber hinaus müsse der Staat sich selbst in dem Falle, dass Abtreibung als unmoralisch gesehen werde, eines solchen moralischen Urteils enthalten und den Sachverhalt der persönlichen Entscheidung des betroffenen Individuums überlassen: Recht und Gesetz hätten schließlich nicht die Aufgabe, irgendeine Moral durchzusetzen (die ohnehin nur subjektiv sein könne), sondern ihre Aufgabe läge darin, gemeinsame Regeln im öffentlichen Leben zu setzen, die die größtmögliche Freiheit für die größte Anzahl an Menschen verwirklichen.
Dagegen lässt sich von einer liberalen Warte aus einwenden: Existenzielle Freiheit (dass man lebt) ist grundlegend für essentielle Freiheit (was & wie man lebt), weil erst die eigenständige Teilhabe am Daseinsakt zum autonomen Handeln befähigt. Die Exzellenz des bloßen Daseins muss darum in den Regeln eines Gemeinwesens gezielt verwirklicht werden, ehe die Indifferenz der verschiedenen Daseinsentwürfe vermittelt werden kann. Insofern Recht und Gesetz die größtmögliche Freiheit für die größtmögliche Anzahl an Menschen verwirklichen sollen, können sie darum logisch niemals komplett von einer moralischen Grundlage entkoppelt werden, weil sie immer die existenzielle Freiheit als normativ verbindlich priorisieren müssen. Die Kernaufgabe des Staates ist es dabei, den Zwang eines Menschen gegenüber seinem Mitmenschen einzuhegen, und dies umso mehr dann, wenn sich beide in einer univoken Konzeption des Seins gegenüberstehen, bei der der autonome Daseinsentwurf des einen die Existenz eines anderen bedroht. Die Frage der Abtreibung steht hierfür als Paradebeispiel, insofern die reine Selbstbestimmung des einen die existenzielle Vernichtung eines anderen bedeuten kann. Der Staat kann das nicht zulassen, weil sonst die Stärkeren den Schwächeren sämtliche inhärenten Möglichkeiten rauben, was einen gemeinen Nutzen gänzlich unmöglich macht: Die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf besitzt dort eine Grenze, wo die Existenz eines anderen Menschen beginnt.
Heißt am Ende: Gerade aus liberaler Perspektive muss das Gemeinwesen die Freiheit des Menschen auch vor der Geburt schützen.

Themenkomplex Todesstrafe:
Liberale Befürworterinnen der Todesstrafe verweisen auf Wesen und Nutzen des Staates: Wenn staatliche Jurisdiktion per se als legitim gilt, dann seien es notwendig auch die zugehörigen Strafbestimmungen, da staatliche Legitimität in letzter Konsequenz immer und exklusiv aus dem Gewaltmonopol fließe, also aus der Fähigkeit des Staates, seine Bürger im Extremfall zu töten. Stärker noch: Wenn der Staat den Bürgern (Grund-)Rechte verleihen kann, dann könne er sie ihnen auch wieder entziehen; die einzige Einschränkung möge hierbei sein, dass das Einkassieren der Rechte anhand gemeinhin bekannter Regeln erfolgen müsse (Rechtsstaatsprinzip). Die Todesstrafe offenbare insofern Wesen und Nutzen des Staates auf sehr ehrliche Art und Weise, und eine Abschaffung der Todesstrafe könne letztlich nur durch die Abschaffung des staatlichen Gewaltmonopols bzw. des Staates an sich erreicht werden. Die Existenz bzw. Beibehaltung der Todesstrafe fungiere damit immer auch als Mahnmal des Etatismus und helfe zu verhindern, dass der einzelne Mensch es sich als Staatsbürger allzu bequem macht.
Dagegen lässt sich einwenden, dass diese formale Argumentation nicht ganz zum inhaltlichen Profil des Liberalismus passt. Die Einschätzung als Konditional-Verknüpfung zwischen der staatlichen Jurisdiktion und ihren Strafbestimmungen verrät einerseits noch nichts darüber, ob wirklich Legitimität vorherrscht, suggeriert aber auch andererseits, dass es einen Automatismus zwischen staatlicher Existenz und staatlicher Gewalt gibt. Letzteres muss jedoch nicht notwendig so sein: So ist z.B. der moderne, auf dem Gewaltmonopol basierende Staat nur eine von mehreren historisch auffindbaren Erscheinungen von Staatlichkeit und bedeutet nicht Staatlichkeit per se. Darum kann die Todesstrafe auch dann abgeschafft werden, wenn es den Staat noch gibt, was sich ganz simpel im empirischen Befund sogar unter modernen Staaten zeigt. Weiterhin: Eine Freiheitsstrafe ist letztlich nicht nur Konventional-, sondern Kapitalstrafe, da sie etwas betrifft, das der Staat nicht verleihen, sondern nur anerkennen kann und ipso facto schützen muss; namentlich das Zusammenkommen von existenzieller und essentieller Freiheit im einzelnen Menschen. Die Todesstrafe ist zwar ebenfalls Kapitalstrafe, aber im Vergleich betrachtet doch eher die Tat einer letztlich unfreien Gemeinschaft, insofern und weil sie als Reaktion auf Gewalt die existenzielle Freiheit und damit auch die Möglichkeit für eine adäquat verstandene und verwirklichte essentielle Freiheit einseitig kappt. Der Nutzen staatlicher Bestrafung muss stets in der Verwirklichung von Freiheit liegen, und dies geschieht nur dort, wo selbst ein Straftäter wieder an die Freiheit herangeführt, d.h. rehabilitiert wird. Selbst wenn dieses Vorhaben nicht in jedem Einzelfall Erfolg hat - wie es lebenslange Inhaftierung und Sicherungsverwahrung empirisch zeigen -, so ist doch prinzipiell diese pädagogische Herangehensweise an die Funktion von Strafe einer staatlich sanktionierten Bestrafung mit dem Tod zu vorzuziehen, da so die größtmögliche Freiheit für die größte Anzahl an Menschen zumindest als Ziel des Gemeinwesens vorhanden und gewahrt bleibt.
Heißt am Ende: Gerade aus liberaler Perspektive muss das Gemeinwesen eine Bestrafung mit dem Tod ablehnen.

Themenkomplex Sterbehilfe:
Liberale Befürworterinnen der Sterbehilfe betonen, dass der Einzelmensch alleiniger Eigentümer seines Körpers sei und folglich darüber das exklusive Nutzungsrecht besitze, d.h. das Vermögen, nach eigenem Ermessen darüber zu verfügen. Zu diesem exklusiven Nutzungsrecht gehöre auch die Entscheidung darüber, ob, wann und wie diesem Körper das Leben genommen wird. Dieses Nutzungsrecht nicht anzuerkennen und eine entsprechende Entscheidung des Einzelnen zu unterlaufen oder gar aktiv zu unterbinden bedeute Aggression bzw. Gewalt und schränke damit die Freiheit des Einzelmenschen auf unzulässige Art und Weise ein. Ein Gemeinwesen, das die größtmögliche Freiheit für die größte Anzahl an Menschen zum Ziel hat, müsse jenes Nutzungsrecht daher bis in diesen Extremfall hinein schützen und gewährleisten.
Dagegen lässt sich aus liberaler Perspektive einwenden: Selbsttötung - als selbsttätige Praxis wie auch vermittels Anweisung gegenüber Dritten - ist ein performativer Widerspruch, in dessen Zentrum Autoaggression bzw. Gewalt gegenüber sich selbst steht. In der Selbsttötung werden Akteur und Handlung voneinander entkoppelt: Das bedeutet zum einen, dass dem Akteur nicht nur sämtliche Möglichkeiten zum Handeln, sondern alle inhärenten Daseinsmöglichkeiten entzogen werden. Zum anderen werden sowohl Akteur als auch Handlung auf diese Weise bedeutungslos, d.h. sie können nicht mehr auf etwas anderes außerhalb ihrer selbst verweisen; damit können sie auch keinen Nutzen mehr besitzen. Folglich kann Selbsttötung per se nicht unter ein wie auch immer verstandenes Nutzungsrecht am eigenen Körper fallen, denn die Nutzung eines Gegenstandes setzt voraus, dass dieser Gegenstand überhaupt erst einmal einen Nutzen haben kann. Es gilt darum eher das Gegenteil: Das Nutzungsrecht wird dort verteidigt, wo jener Akt der Autoaggression unterbunden wird.
Heißt am Ende: Gerade aus liberaler Perspektive kann die Selbsttötung nicht als Teil der individuellen Freiheit gesehen werden.

Lebensschutz ist sozialistisch

Wenig überraschend ist auch der Begriff des Sozialismus mehrdeutig: Die Bandbreite reicht historisch-systematisch vom vor-marxistischen ("utopischer Sozialismus", z.B. Proudhonismus) über den marxistischen ("wissenschaftlicher Sozialismus") bis zum nicht-marxistischen Sozialismus ("Phantasie-Sozialismus", z.B. Bakuninismus), und sie umfasst Sozialdemokraten, Kommunisten und Anarchisten, obschon in der (partei-)politischen Arena zumeist kritisch auf spezifische totalitäre Zweige der marxistischen Tradition abgezielt wird (z.B. Leninismus, Stalinismus, Maoismus, Juche). Ein häufig genannter Kern besteht jedoch in der Aufhebung von spezifischen Differenzen, d.h. im Begriff der Gleichheit. Der Sozialismus stellt insofern so etwas wie ein Gegengewicht (das ist nicht notwendig auch ein Gegenentwurf) zum Hierarchiegedanken des Konservatismus bereit. Andererseits besteht jedoch zwischen den verschiedenen weltanschaulichen und politischen Traditionen Uneinigkeit darüber, welche Art von Gleichheit gemeint ist: arithmetische oder geometrische Gleichheit, formelle oder materielle Gleichheit, soziale, ökonomische oder politische Gleichheit? Zur Komplexitätsreduktion daher auch hier drei Verdichtungen, die grob einer Unterscheidung zwischen equality, equity und justice folgen:

Zunächst steht der Distributismus als Strömung, die die Produktionsmittel vergemeinschaften möchte. Hier geht es um den Grundsatz "jeder nach seinen Fähigkeiten", insofern individuelles Leistungsvermögen keine spezifische Differenz begründen soll.
Dann steht der Kommunitarismus als Strömung, die die Produktionsgüter vergemeinschaften möchte. Hier geht es um den Grundsatz "jedem nach seinen Bedürfnissen", insofern individueller Mangel keine spezifische Differenz begründen soll.
Schließlich steht der Sozialismus als generische Ideologie auf der Grundlage des Grundwerts Gerechtigkeit: Hier vertreten Demokratismus und Anarchismus jeweils Regelgerechtigkeit nach dem Grundsatz "jedem das Seine"  bzw. Ergebnisgerechtigkeit nach dem Grundsatz "jedem das Gleiche".

Sozialistisch sind Argumentationen vornehmlich auf Grundlage der Analyse von ungleich verteilter Macht, d.h. von spezifischen Machtgefällen. Es geht dabei in der Praxis vor allem um die Verteidigung der Einzigartigkeit und Gleichwertigkeit des menschlichen Daseins: Deren größtmögliche Verneinung ist der vorsätzlich, absichtlich oder gezielt herbeigeführte Tod eines Menschen. Beispielhaft für diese spezifischen Machtgefälle stehen schwangere Frauen, die in einer Konfliktsituation von Leuten beraten werden, welche durch Abtreibung Geld verdienen; strafrechtlich angeklagte Personen, die einem formell oder informell nach ethnischen Kriterien operierenden Justizsystem gegenüberstehen, welches Todesurteile ausspricht; oder ältere Personen, die jüngeren Menschen gegenüberstehen, welche gesellschaftlichen Druck mit Blick auf ein "sozialverträgliches Frühableben" ausüben.

Themenkomplex Abtreibung:
Sozialistische Befürworterinnen von Abtreibung kritisieren Schwangerschaft als Machtgefälle, bei dem der Körper einer Frau gegen ihren Willen von einem anderen zu dessen eigenem Vorteil benutzt werde. Es handle sich dabei allgemein um Sklaverei bzw. spezifisch um eine Versklavung der Schwangeren durch den Embryo bzw. Fötus, welche wiederum vom Staat legitimiert und durchgesetzt werde, sofern dieser eine Pflicht zur Austragung der Schwangerschaft vorschreibt: Die Frau werde durch diese Versklavung letztlich sowohl vom Embryo bzw. Fötus als auch vom Staat als Brutkasten missbraucht. Da Sklaverei der Gleichwertigkeit des menschlichen Daseins zuwiderläuft, sei ein Anspruch auf Beseitigung dieser Sklavenhalterschaft notwendig, um die darunter liegende spezifische Differenz innerhalb des zwischenmenschlichen Machtgefüges aufzuheben.
Dagegen lässt sich aus sozialistischer Perspektive einwenden: Was hier als unrechtmäßige Nutzung des Körpers der Schwangeren kritisiert wird, ist eine normale biologische Funktion der menschlichen Physiologie, die aufgrund inhärenter natürlicher Prinzipien abläuft bzw. als Modalität des menschlichen Daseins physisch sogar notwendig ist. Es handelt sich folglich nicht um eine vorsätzliche oder gar willkürliche Aneignung des Körpers der Schwangeren durch den Embryo bzw. Fötus, und damit greift der gesamte Bezug zur Sklaverei ins Leere. Im Gegenteil ließe sich gar mit größerer Berechtigung sagen: Wo der Bezug zur Sklaverei hergestellt wird, da tritt die Körperlichkeit der Schwangeren nur in einem technisch-mechanistischen Sinne in Erscheinung, was den Frauenkörper ideologisch überhaupt erst auf eine bloße Gerätschaft reduziert, über deren Verwendung dann Verteilungskämpfe herrschen. Es muss in dieser Frage viel mehr die Gleichwertigkeit jedweden menschlichen Daseins als Teilhaber an der physiologischen Wirklichkeit des Mensch-Seins verteidigt werden: Das bedeutet, es muss  Einsicht in die physische Notwendigkeit hergestellt werden, demnach das Dasein als Embryo bzw. Fötus spezifische Bedürfnisse nach sich zieht, die zu erfüllen sind. Weiterhin: Gerade die Kleinsten, Jüngsten und Schwächsten sind aufgrund ihrer besonderen Situation Schutzbedürftige, keine Unterdrücker, und in diesem Sinne muss auch die Einzigartigkeit des menschlichen Daseins als Teilhaber an der soziologischen Wirklichkeit verteidigt werden, demnach der Staat die Umstände und Bedingungen so zu gestalten hat, dass die Erfüllung ihrer spezifischen Bedürfnisse gelingt.
Heißt am Ende: Aktuiertes sozialistisches Bewusstsein kann nicht auf Abtreibung zielen.

Themenkomplex Todesstrafe:
Sozialistische Befürworterinnen der Todesstrafe weisen darauf hin, dass sich diese Art der Bestrafung reziprok zu Delikten gegen die Gleichwertigkeit des menschlichen Daseins verhalte: In einem engeren Sinne bezieht sich das auf Kapitalverbrechen gegenüber Individuen, d.h. Straftaten gegenüber Leben und Eigentum von einzelnen Menschen (z.B. Mord, Raub mit Todesfolge, Menschenhandel); in einem weiteren Sinne bezieht es sich auf Kapitalverbrechen gegenüber Strukturen, d.h. Straftaten gegenüber Institutionen des gemeinschaftlichen Lebens (z.B. Genozid, Terror, Landesverrat). In der Anwendung der Todesstrafe verwirkliche sich die ausgleichende Gerechtigkeit, insofern die spezifische Differenz, welche die Kapitalverbrecherin zu ihren Gunsten gegenüber anderen Menschen erzeugt hat, dadurch wieder eingeebnet werde, dass es in Bezug auf sie selbst überhaupt keine spezifische Differenz mehr geben könne. Es würden auf diese Weise zwar keine Tatfolgen revidiert, aber doch das Nichtvorhandensein potenzieller spezifischer Differenzen zugunsten der Täterin als weitere Tatfolge hinzugefügt.
Dagegen lässt sich aus sozialistischer Perspektive einwenden: Die Todesstrafe vollzieht im Strafmaß zwar auf eine bestimmte Art und Weise die ausgleichende Gerechtigkeit in vollem Maße, insofern Täterinnen mögliche aus ihrer Tat entspringende Vorteile vollständig verlieren. Es handelt sich jedoch um eine nur unvollständige Verwirklichung von Strafe an sich und damit um ein letztlich ungerechtes Machtgefälle zwischen dem Staat und seinen Teilhabern. Zum einen werden nicht alle Aspekte der Gerechtigkeit umgesetzt: Die kommutative oder ausgleichende Gerechtigkeit verlangt zwar nach Einebnung ungerechter spezifischer Differenzen; die distributive oder verteilende Gerechtigkeit verlangt hingegen nach Anerkennung des individuellen Daseins, ebenso wie die legale oder gesetzliche Gerechtigkeit den Schutz des Gemeinwesens verlangt. Der Schutz des Gemeinwesens nimmt dann Schaden, wenn hierfür ein Mittel eingesetzt wird, welches das individuelle Dasein seiner Teilhaber nicht anerkennt. Die Todesstrafe setzt als solche zwar die kommutative Gerechtigkeit voll um; die legale Gerechtigkeit jedoch nur defizitär und die distributive Gerechtigkeit überhaupt nicht. Sofern es Möglichkeiten gibt, durch welche ungerechte spezifische Differenzen eingeebnet, individuelles Dasein anerkannt und das Gemeinwesen geschützt werden können - z.B. in Form von Sicherungsverwahrung -, müssen diese in jedem Falle bevorzugt werden. Zum anderen (und analog) werden mit der Todesstrafe auch nicht alle Strafzwecke berücksichtigt: Vergeltung wird voll umgesetzt, insofern ein Kapitalverbrechen mit Kapitalstrafe vergolten wird. Auch Vorbeugung oder Prävention findet insofern statt, als die Täterin in objektiver Hinsicht keine Möglichkeit mehr hat, ihre Tat zu wiederholen; sie fehlt jedoch in subjektiver Hinsicht, da der Täterin keine Möglichkeit mehr zu Reue und Änderung ihres Verhaltens zugestanden wird. Wiedergutmachung bzw. gesellschaftliche Wiedereingliederung ist bei Todesstrafe indes gänzlich ausgeschlossen. So steht auch hier eine voll umgesetzte Vergeltung einer defizitären Vorbeugung und fehlender Wiedergutmachung gegenüber. Sofern es Möglichkeiten gibt, die alle drei Strafzwecke umsetzen können - z.B. in Form von Sicherungsverwahrung -, müssen diese bevorzugt werden.
Heißt am Ende: Aktuiertes sozialistisches Bewusstsein kann nicht auf die Todesstrafe zielen.

Themenkomplex Sterbehilfe:
Sozialistische Befürworterinnen der Sterbehilfe postulieren, dass ab einem bestimmen Punkt die Gleichwertigkeit des menschlichen Daseins als prinzipielle Möglichkeit schlichtweg hinfällig werde, da keine Grundlage für eine Wertbeziehung gegeben scheine. Dies zum einen in objektiver Hinsicht, wenn ein Mensch seine Wertbeziehungen nicht effektiv gegenüber anderen Menschen kommunizieren könne; und zum anderen in subjektiver Hinsicht, wenn ein Mensch sein eigenes Dasein als bedeutungslos und/oder wertlos begreife. In solchen Fällen müsse es die Möglichkeit für Dritte geben, den Tod eines bestimmten Menschen herbeizuführen und dessen Dasein zu beenden, um diese spezifische Differenz zwischen dem betroffenen Menschen und seinen Mitmenschen aufzuheben. Wo diese Möglichkeit nicht zugestanden oder gar aktiv unterdrückt werde, handle es sich um ein unterdrückerisches Machtgefälle zwischen dem Staat und seinen Teilhabern, in dem die Einzigartigkeit der jeweils Betroffenen nicht anerkannt sei.
Dagegen lässt sich aus sozialistischer Perspektive einwenden: Die Einzigartigkeit und Gleichwertigkeit des menschlichen Daseins sind nur dann vollends verwirklicht und anerkannt, wenn sie das Dasein in all seinen Facetten durchdringen. Zu diesen Facetten gehören Situationen sowohl am zeitlichen Anfang als auch unmittelbar vor dem zeitlichen Ende, sowie Situationen sowohl auf der Höhe individueller Leistungskraft als auch im Extrem individuellen Unvermögens. Die Einzigartigkeit und Gleichwertigkeit des menschlichen Daseins verwirklichen sich sowohl unabhängig von der Fähigkeit, eigene Wertbeziehungen effektiv zu kommunizieren, als auch unabhängig vom Inhalt der je konkreten eigenen Wertbeziehung: Im Gegenteil ist das Vorhandensein von Wertbeziehungen immer schon notwendige Grundlage dafür, diese selbst wie auch ihre Inhalte zu kommunizieren. Und selbst im Falle, dass jemand sein eigenes Dasein als bedeutungslos begreift, geht diese Bedeutungslosigkeit dem Anspruch nach doch nicht so weit, dass der daraus abgeleitete Sterbenswunsch ebenfalls bedeutungslos sei: Ganz im Gegenteil wird an genau dem Punkt, an dem das eigene Dasein als so bedeutungslos begriffen wird, dass es zu beenden sei, eine Bedeutung des eigenen Wunsches gerade gegenüber anderen behauptet. Genau genommen drückt sich damit in diesem Wunsch eine Selbst-Bewertung aus, die so hoch ausfällt, dass sie den Wert der anderen insofern übertrumpft, als diese an das eigene Wert-Urteil gebunden werden sollen; damit erzeugt nachgerade dieser Anspruch eine spezifische Differenz zwischen dem Sterbewilligen und seinen Mitmenschen. Wenn die Einzigartigkeit und Gleichwertigkeit des menschlichen Daseins jedoch wirklich verteidigt werden sollen und es darum geht, spezifische Differenzen zwischen den Menschen aufzuheben, dann darf beides nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dies gilt im gleichen Maße für betroffene wie für außenstehende Menschen: Die Einzigartigkeit des menschlichen Daseins kann nicht die Gleichwertigkeit aufheben, ebenso wie die Gleichwertigkeit die Einzigartigkeit nicht aufheben kann - das menschliche Dasein muss in all seinen physiologischen Modalitäten als echter Teilhaber an der soziologischen Wirklichkeit anerkannt werden.
Heißt am Ende: Aktuiertes sozialistisches Bewusstsein kann nicht auf Sterbehilfe zielen.

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