"Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus." Auch nach über 160 Jahren hat dieses geflügelte Wort, mit dem Marx und Engels seinerzeit ihr "Manifest der Kommunistischen Partei" einleiteten, nichts an Aktualität eingebüßt. Einzig die geographische Eingrenzung gilt so heute nicht mehr: Der Kommunismus ist längst ein weltweit gefürchtetes Gespenst geworden.
Hierin zeigt sich jedoch auch die traurige Realität, die mit diesem Satz beschrieben wird: Der Kommunismus ist lediglich "Gespenst", d.h. unkörperliches und übernatürliches Geistwesen, das rational nicht zu fassen ist, dem menschlichen Verständnis also verborgen bleibt, und deshalb Angst und Schrecken verbreitet. So ist es ganz natürlich, dass die Meinungen darüber, was genau nun als "Kommunismus" zu gelten habe, im politischen Diskurs meilenweit auseinanderliegen und der Kommunismus faktisch wie ideell recht eigentlich gar nicht existiert: Wo die einen in der ehemaligen Sowjetunion, in China oder Choson-Korea seine Verwirklichung sehen wollen, da sehen die anderen nur Stalinismus, Maoismus und Juche-Ideologie. Wo die einen ihn in Vietnam, Kambodscha oder Osteuropa ausgemacht haben wollen, da gibt es für die anderen nur Nationalbolschewismus, Agrarianismus und Militärdiktaturen. Und wo die einen hoffnungsvoll nach Afrika oder Südamerika blicken, um wenigstens hier einen Funken Kommunismus zu erhaschen, da dekonstruieren die anderen diese Hoffnung als Produkte und Spätausläufer bourgeoiser Kolonialmacht, als Nachkommen des kriegerischen Imperialismus, der kapitalistischen Landnahme. Kurzum: Die Geisterjäger wissen selbst nicht, was sie wo suchen sollen oder gar wollen.
Und dennoch gibt es eine Gemeinsamkeit all derjenigen, die den Kommunismus suchen. Denn jenseits all der Zersplitterung und Zerstückelung, jenseits von Fraktionierung und Frakturierung, jenseits von Zwiespalt und Zwietracht gibt es einen Punkt, in dem echter Konsens herrscht. Dies paradoxerweise gerade in der Frage, die zugleich am einfachsten und doch am schwierigsten zu beantworten ist: Was ist der Kommunismus? Die Antwort: Die klassenlose Gesellschaft. Doch schon die logische Folgefrage - "Was darf ich mir darunter vorstellen?" - birgt den Samen der Spaltung in sich. Wo beispielsweise Lenin durch seine Marx-Exegese zum Schluss kam, dass dies die flächendeckende Kombination aus Rätedemokratie und Stromnetz sei (demnach war die Sowjetunion nie kommunistisch), da treten ihm die Ikonoklasten der Kritischen Theorie entgegen und negieren die Möglichkeit, mit Marx irgendeine positive Aussage zu dieser Gesellschaft tätigen zu können.
Der Sozialrevolutionär nun, obgleich auch er den Kommunismus als die klassenlose Gesellschaft begreift und anstrebt, widerspricht beiden Seiten. Es ist nicht damit getan, irgendwelche formalen oder materiellen Geschenke zu verteilen - der Kommunismus kennt keine eigene Staatsform. Und wenn der Kommunismus als Wirklichkeit in die Geschichte treten soll, dann muss ein vernünftiger Austausch über ihn möglich werden - damit gerade auch positive Aussagen über ihn. Das heißt nun nicht, dass man ihn in jedem einzelnen Detail beschreiben und darstellen können muss; doch die Essenz, seine Substanz muss verständlich sein. Anderenfalls ist kein Diskurs möglich und der Kommunismus wird bedeutungslos.
Was bedeutet es also, von der "klassenlosen Gesellschaft" zu sprechen? Es bedeutet zunächst, zwei eigentlich gegensätzliche Dinge unter einem gemeinsamen Dach zu vereinigen. "Klassenlos" heißt, den Menschen jenseits kollektiver Notwendigkeit - sei diese nun materiell, juristisch oder biologisch konstruiert - anzusehen: Ihn also als Einzelwesen, als Individuum zu begreifen. "Gesellschaft" wiederum bedeutet, den Menschen in der Gruppe seiner Mit-Menschen zu verorten: Ihn also in einen Zusammenhang zu stellen, als Teil eines Kontinuums zu begreifen. Es ist dies die uralte Spannung, die uns in der abendländischen Philosophie als Gegensatz zwischen Parmenides und Heraklit, zwischen Atomismus und Pneumatismus begegnet, und die mittlerweile ebenso in den politischen Diskurs wie auch in die moderne Physik - vermittels der Spannung zwischen Quantenmechanik und Relativitätstheorie - Eingang gefunden hat. Im 19. Jahrhundert trat dieser Gegensatz durch die Bildung von Parteien (von lat. pars - der Teil) deutlich in den Vordergrund. Gemeinhin wird seitdem grob zwischen dem Sozialismus und dem Liberalismus getrennt, die beide je zu einem Pol in dieser Spannung tendieren: der Sozialismus zum Kontinuum, der somit das Etikett des Kollektivismus trägt; der Liberalismus zum Einzelwesen, der somit das Etikett des Individualismus trägt. Freilich ergeben sich in der Praxis erhebliche Grauzonen, und in einem unumkehrbaren Widerspruch stehen beide Zweige mitnichten. So lässt sich aus der libertären Ecke durchaus konstatieren, dass sich Sozialismus und Liberalismus hinsichtlich des angestrebten Ziels nicht unterscheiden würden, während der anarchistische Zweig innerhalb des Sozialismus das Individuum von aller eingrenzender Notwendigkeit befreien möchte.
Es ist Karl Marx und seinen Erben zu verdanken, dass die Konnotationen im zeitgenössischen Diskurs so sind wie sie sind: der Sozialismus und das Kollektiv, der Liberalismus und das Individuum. Die Kategorie der sozio-ökonomischen Klasse, die er mit dem "wissenschaftlichen Sozialismus" einführte, mag zwar ein praktikables Instrument der Kritik der herrschenden Verhältnisse gewesen sein. Doch als Grundlage eines politischen Faciendum kann sie nur eine Schieflage herbeiführen: Im Zentrum des Strebens steht nicht der Mensch, sondern ein Kollektiv.
Die "Diktatur des Proletariats" ist unfähig, die klassenlose Gesellschaft hervorzubringen; sie kann nur dazu führen, eine bestimmte Klasse als Norm zu definieren, die sämtliche Menschen absorbiert und folglich eine Zwingherrschaft über sie etabliert. Der vermeintlichen Herrschaft des Individuums - namentlich des kapitalistischen Unternehmers - stellt sie die Herrschaft eines zum Individuum erhobenen Kollektivs entgegen, in welchem der Einzelne nurmehr ein Zahnrad in der großen Maschine, ein Atom im sinn-los umherwabernden Molekül darstellt. Doch auch die Kehrseite führt in die Leere: Prominent vor allem durch die Anhänger des Hedonismus betrieben, soll das Individuum unumschränkt verwirklicht werden. Alles, was dieser Verwirklichung im Wege steht, jegliches Ding, das dem Individuum irgendeine Beschränkung auferlegen könnte, wird negiert und bekämpft. So wird der Einzelne zu seinem eigenen Kosmos, er bleibt infolge jedoch all-eine und isoliert, unfähig zur Beziehung mit einem anderen, damit auch entfremdet von seinen Mitmenschen. Im Zentrum des Strebens steht nicht der Mensch, sondern eine Emanzipation als Selbstzweck, welche den Menschen letztendlich von sich selbst emanzipiert (ihn also
aus der Verfügung über sich selbst "befreit").
Der Sozialrevolutionär nun - obgleich er sowohl das Einzelwesen wie auch das Kontinuum, in welchem es sich befindet, als Realität anerkennt - stellt nicht irgendein Abstraktum - sei dies die Geschichte, die Klasse, die Nation, der Staat oder gar die Emanzipaton selbst - in den Mittelpunkt seines Strebens, sondern den konkreten Menschen. Dieser ist es, der einen Zweck an sich und für sich, also einen Selbst-Zweck darstellt. Der Sozialrevolutionär begreift den konkreten Menschen als ein Einzelwesen, das dennoch ohne ein Kontinuum nicht existieren, mehr noch: als ein Einzelwesen, das ausschließlich in einem Kontinuum ein Einzelwesen sein kann. Die Frage, die im politischen Diskurs nur allzu gerne gestellt wird - "Welcher Weg ist der richtige: Zuerst Freiheit, dann Gleichheit (Liberalismus), oder zuerst Gleichheit, dann Freiheit (Sozialismus)?" -, stellt sich für den Sozialrevolutionären als Tautologie dar, weil dem konkreten Menschen, diesem Selbst-Zweck also, die Freiheit Gleichheit und die Gleichheit Freiheit ist. Das ist allerdings nur der Fall, weil der Sozialrevolutionär ein Menschenbild teilt, welches einzigartig aus der Philosophiegeschichte heraussticht: er sieht den konkreten Menschen als Person.
Was bedeutet das? Es heißt: Der Mensch ist nicht nur Individuum als kleinste unteilbare Einheit in einem großen Ganzen, sondern hier, durch dieses Individuum, tönt etwas Einzigartiges hindurch (lat. per-sonare). Etwas, das diesem Individuum die Fähigkeit zur Urheberschaft verleiht, es also zum handelnden Subjekt macht. Etwas, das ihm Verantwortung ermöglicht, ihm also die Fähigkeit zur Vereinigung verleiht, da es gleichsam Teilhaber der Fähigkeit zu Verzicht und Hingabe ist. Nur ein handelndes Subjekt kann antworten. Nur wer auch auf das Reden verzichten kann, ist fähig zur Antwort. Und nur wer seine Antwort hingibt, der kann kommunizieren, d.h. Vereinigung praktizieren.
Freilich ist dieses Menschenbild nicht zwingend in dem Sinne, dass es sich aus dieser oder jener Untersuchung oder empirischen Erhebung ableiten ließe. Im Gegenteil: Es ist vielmehr Voraussetzung für solcherlei Untersuchungen, denn nur wo der Mensch als Person gedacht wird, da kann er nach Verständnis streben, da kann er tatsächlich Verstehen, d.h. "etwas mit Stand versehen"; denn dieses funktioniert nur dort, wo man - als handelndes Subjekt - die Fähigkeit besitzt, auf einen eigenen Standpunkt auch zu verzichten.
Zwingend wird dieses Menschenbild gleichwohl, wenn es wirklich um die klassenlose Gesellschaft geht. Es ist der Person vorbehalten, als Einzelwesen in eine Beziehung zu treten und somit als Individuum innerhalb eines Kontinuums zu existieren, also die beiden Gegensätze neben- und bei-einander zu leben, sie letztlich realiter in einer einzigen Wirklichkeit zu vereinen. Alle Bemühungen, die klassenlose Gesellschaft auf der Basis eines Abstraktums zu verwirklichen, sind in dieser Hinsicht defizitär, da sie den Menschen nur bruchstückhaft, nicht aber in seiner Gesamtheit wahrnehmen und ihm letztlich kein Ansehen als Person, d.h. keine Würde zusprechen.
Nur die Person kann die klassenlose Gesellschaft hervorbringen. Und die Person zu verwirklichen heißt, die klassenlose Gesellschaft zu verwirklichen.
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