Mittwoch, 13. Dezember 2017

Zur naiven Bibelexegese

Man sollte zunächst einmal unterscheiden zwischen der wörtlichen Lesart, wie sie am Beispiel der christlichen Tradition bereits vor dem Aufkommen des Fundamentalismus praktiziert wurde (z.B. im Rahmen des vierfachen Schriftsinns), und der ... ich nenne sie mal "wortwörtlichen" Lesart, wie sie im Fahrwasser des Fundamentalismus ab dem 19. Jahrhundert heutzutage auch ganz gerne von Glaubens-, Kirchen- und Religionskritikern praktiziert wird. Da gibt es durchaus erhebliche Unterschiede, nicht zuletzt weil letztere Lesart eben schlicht naiv ist. So hat z.B. Augustinus von Hippo eine Schrift über das wörtliche Lesen des Buches Genesis verfasst (De Genesi ad litteram) - dies kann mit der Brille des Fundamentalismus aber nur schwer als "wortwörtliche" Lesart verstanden werden. Eben weil es keine naive Lesart beschreibt.

Hier liegt also ein erstes Missverständnis: Wörtliche Lesart und fundamentalistisch-naive Lesart sind nicht dasselbe. Zur Verdeutlichung vielleicht ein Beispiel:

Lk 4,6-7:
All die Macht und Herrlichkeit dieser Reiche will ich dir geben; denn sie sind mir überlassen und ich gebe sie, wem ich will. Wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest, wird dir alles gehören.

Mt 10,34:
Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen! Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.

"Wortwörtlich" - also naiv - gelesen scheint der Fall klar: Zum einen haben wir eine Aussage, die lediglich Anbetung fordert und dafür Herrschaft verspricht. Also ziemlich genau das, was man so spontan im Kopf hat, wenn man an Gläubige denkt. Zum anderen haben wir eine problematischere Aussage, denn hier geht es ja um Gewalt: Nicht Friede, sondern das Schwert werde gebracht. Also ziemlich genau das, was man im Kopf hat, wenn es um Kritik an Glauben, Kirche und Religion geht.

Naiv gelesen sollte man erwarten, dass die Stelle aus Lk von Gläubigen in vielerlei Hinsicht zur Inspiration zitiert wird, um gerade in glaubensschwachen Zeiten die Besinnung auf das Wesentliche zu propagieren. Andererseits sollte man erwarten, dass die Stelle aus Mt eher unter den Tisch fällt - gerade wenn man alles eins zu eins nimmt. Tatsächlich verhält es sich jedoch anders herum: Die Lk-Passage wird recht selten bis überhaupt nicht zur Inspiration zitiert, während einem die Aussage aus Mt sehr viel öfter begegnet.

Warum das so ist, kann uns die wörtliche Lesart verraten - ganz einfach, indem gefragt wird: Wer sagt was zu wem? Und so erfährt man dann, dass in Lk 4,6-7 der Versucher zu Jesus spricht, dass der Autor dieses Zitat also dem Teufel in den Mund gelegt hat, während in Mt 10,34 Jesus selbst spricht.

Naiv gelesen mag man nun einwenden, dass das ja gar nicht in den zitierten Passagen steht, sondern (wenn überhaupt, dann) in anderen Teilen des Textes. Und weil es hier um den unmittelbaren Kontext geht, erscheint das Problem dieses Einwandes sehr viel deutlicher als in Situationen, in denen es um den mittelbaren Kontext geht, der sich u.U. auf den ganzen Schriftkanon erstrecken kann. Letztlich liest die naive Herangehensweise äußerst unvollständig.

Zweitens wäre zu unterscheiden zwischen der Art und Weise, auf die in der ernsthaft betriebenen Bibellektüre ethische Aussagen abgeleitet werden, und derjenigen Art und Weise, wie in der naiven Lesart ethische Aussagen aus dem Text abgeleitet werden. Auch hier zur Verdeutlichung ein Beispiel:

Num 31,17-18:
So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die schon einen Mann erkannt und bei ihm gelegen haben; aber alle Mädchen, die noch nicht bei einem Mann gelegen haben, die lasst für euch leben.
Naiv gelesen haben wir hier einen Tötungsbefehl. Wörtlich gelesen können wir zunächst natürlich einwenden, dass da gar nicht Gott selbst zu irgendwem spricht, sondern dass das ein Teil der wörtlichen Rede ist, die Moses an das Volk richtet. Gott spricht zu Moses nämlich in 

Num 31,2:
Nimm für die Israeliten Rache an den Midianitern! Danach wirst du mit deinen Vorfahren vereint werden.

Wir sehen also, wenn wir wörtlich lesen, dass Num 31,17-18 eine von Moses durchgeführte Interpretation dessen ist, was Gott ihm sagt. Aber lassen wir das mal beiseite (diese Stelle haben wir ja schon anderweitig einmal angesprochen) und gehen davon aus, dass Moses als Prophet von Gott beauftragt wurde und damit seine Interpretation natürlich auch normative Kraft besitzt: Können wir daraus für uns einen Tötungsbefehl ablesen?

Naiv gelesen können wir das natürlich, denn naiv lesen wir nur diese Aufforderung. Wörtlich hingegen ergeht die Aufforderung von Gott an Moses bzw. von Moses an das Volk Israel. Sofern wir also weder Moses noch das Volk Israel bzw. dem Volk Israel zugehörig sind, geht diese naive Aufforderung wörtlich an uns vorbei. Damit die Stelle für uns überhaupt eine Relevanz in ethischer oder allgemein praktischer Hinsicht besitzen kann, müssen wir im Text immer schon notwendig eine übertragene Bedeutung - eine metaphorische bzw. typologische Ebene - annehmen.

Wörtlich spricht lediglich Figur A zu Figur B. Um praktisch bedeutsam zu werden, müssen die Figuren und Sachverhalte als Zeichen für andere Sachverhalte stehen. Wo aber in einem Text etwas als Zeichen für etwas anderes steht, da geht es über die wörtliche Ebene hinaus. Somit ist jede moralische Lesart immer auch eine typologische bzw. tropologische Lesart. Eine naive Lesart, die das bestreitet, drückt darum mit Bezug auf den Text einen unzutreffenden Sachverhalt aus. Stärker formuliert: Insofern eine naive Lesart den nicht-wörtlichen Charakter ihrer praktischen oder ethischen Ableitung unter den Tisch fallen lässt, spricht sie die Unwahrheit. Damit geht auch ein atheistischer Leser, insofern er eine naive Lesart propagiert, unzutreffend mit dem Text um.

Auf den Punkt gebracht: Wer nur wörtlich liest, der kann keine praktischen oder ethischen Maximen ableiten. Wer praktische oder ethische Maximen ableitet, der liest nicht mehr nur wörtlich. Was wir zuvor in Bezug auf einen horizontalen Kontext gesehen haben, das sehen wir hier nun in Bezug auf einen vertikalen Kontext: So wie die naive Lesart horizontal den Text nur unvollständig liest, so erfasst sie vertikal die Bedeutung nicht.

Das führt uns zur dritten Unterscheidung, namentlich derjenigen zwischen Methode und Glaubensinhalt. Es ist ein großes Missverständnis anzunehmen, das zuvor gesagte würde die spezifischen Glaubensinhalte bestimmter Glaubensgemeinschaften als zwingend voraussetzen. Diese Annahme träfe nur dann zu, wenn man die Grundsätze des (geistes-)wissenschaftlichen (Text-)Verstehens als Glaubensinhalte deklarieren möchte. Die vorgenannten Dinge sind jedoch historisch bzw. methodisch und damit auch weltanschauungsübergreifend nachvollziehbar. Das sollte sie vor allem für diejenigen Atheisten interessant machen, die Wert auf eine rationale Herangehensweise legen.

Um einen naheliegenden Einwand gleich vorweg zu nehmen: Dass eine fundamentalistische (wörtliche, wortwörtliche, buchstabbuchstäbliche, ...) Interpretation - oder Nichtinterpretation - zum Einen ganz real in diversen Glaubensrichtungen praktiziert wird, ist unstrittig bzw. mehr noch: Es ist dies gerade der Punkt meiner Kritik, denn vom Standpunkt (geistes-)wissenschaftlicher Erkenntnistheorie aus verhält es sich wie dargelegt eben so, dass gerade diese Art des Umgangs mit dem Text weniger legitim ist als eine methodisch reflektierte Herangehensweise. Denn ob allerlei Fundamentalisten die Grundsätze des methodisch reflektierten Textverstehens egal sind, tut dem Anspruch des methodisch reflektierten Textverstehens ja keinen Abbruch. Nur weil wissenschaftliche Analphabeten u.U. aus Überzeugung wissenschaftliche Analphabeten sind, legitimiert das ja nicht den wissenschaftlichen Analphabetismus.

Hierzu gehört letztlich auch die Behauptung, der methodisch reflektierte Umgang mit dem Text würde lediglich a priori gefasste Standpunkte im Nachhinein zu rechtfertigen versuchen. So spricht letztlich der sog. Presuppositionalismus, und dieser nimmt die zuvor genannte hermeneutische Bewegung nur bruchstückhaft wahr, indem er nämlich bei den Vor-Urteilen stehen bleibt. Wenn also ein unsachgemäßer Umgang mit dem Text vermieden werden soll, dann kann eine fundamentalistisch-naive Lesart nicht legitim sein. Dessen unbeschadet kann diese Lesart rein technisch betrachtet freilich im Diskurs durchgesetzt, dem Diskurs aufgedrückt werden.

Natürlich verlangt die Einstufung als "besser" oder "schlechter" nach einem Kriterium, in welcher Hinsicht eine Sache "besser" oder "schlechter" sei. Darum der Hinweis auf einen sachgemäßen Umgang mit dem Text: Hier wäre also z.B. ein Umgang "besser", je sachgemäßer er wäre. Das ist im Grunde keine andere Frage, sondern es löst die Chiffre "besser"-"schlechter" in einen konkreten Kontext hin auf - es  ist also in sich immer schon reflektiert, und umschifft dadurch auch die Vermischung von "gut" in einem beschreibenden Sinne, wie hier vorliegend, mit "gut" in einem moralisch-ethischen Sinne. Letzteres setzt ja gerne mal auf die reine Diskurs-Autorität desjenigen, der es vorbringt.

Insofern "Sachgemäßheit" nun das Kriterium ist, nach dem unterschieden wird, bedeutet "sachgemäß" so viel wie "besser", während "unsachgemäß" so viel wie "schlechter" bedeutet. Sachgemäßheit muss freilich nicht das Kriterium sein:

"Durchsetzung der eigenen Werturteile" kann z.B. auch das Kriterium sein, nach dem unterschieden wird. Demnach wäre "setzt die eigenen Werturteile durch" gleichbedeutend mit "besser", und "setzt die eigenen Werturteile nicht durch" gleichbedeutend mit "schlechter". Ebenso kann freilich "Sinn" das Kriterium sein, und zwar sowohl im Sinne von "Bedeutung" als auch im Sinne von "Zweckhaftigkeit". Oder etwas anderes, je nachdem.

Wenn Sachgemäßheit also das Kriterium ist, welches wir anlegen, dann ist die methodisch reflektierte Lesart besser (weil sachgemäß) als die fundamentalistisch-naive Lesart (weil unsachgemäß).

Wenn aber nun nicht Sachgemäßheit das Kriterium ist, sondern z.B. die Durchsetzung der eigenen Werturteile, dann kann die fundamentalistisch-naive Lesart durchaus besser sein (weil sie die eigenen Werturteile durchsetzt) als die methodisch reflektierte Lesart (weil sie die eigenen Werturteile hinterfragt).

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