Ich sehe keinen Widerspruch zwischen a) dem Bezug zu Leuten, die sich schon vor mir Gedanken über Fragen gemacht haben, die auch ich mir stelle, und b) einem persönlichen Statement, das ich abgebe. Ich muss ja nicht zwanghaft das Rad neu erfinden - weder in der Wissenschaft noch in der Musik noch im Glauben. Und wenn mich ein fremder Gedankengang überzeugt, dann wäre es a) unsinnig, ihn abzulehnen bloß weil er nicht auf meinem eigenen Mist gewachsen ist, und b) unredlich, ihn gegenüber Dritten als meine eigene Erfindung auszugeben. Ich weiß, dass man das auch anders sehen kann: Anderen zu unterstellen, sie hätten das Potenzial, einen selbst zu überzeugen, versteht sich nicht von selbst.
Was die Theodizee angeht, bin ich nun in einer Zwickmühle zwischen dem, was ich denke, und dem, was gemeinhin von mir verlangt wird: Was ich denke, steht - genau wie die übliche theologische Fragestellung - unleugbar in der Tradition der abendländischen Geistesgeschichte vom antiken Griechenland bis heute. Verlangt wird meist hingegen eine Antwort, die diesen Bezug nicht erkennen lassen darf - im Gegensatz zur Frage selbst, die mit der Bezeichnung als Theodizee natürlich einen klaren Bezug formuliert.
Versuch einer Antwort, aufgrund der Aufgabenstellung notwendig verkürzt:
Gott schaut mitnichten seelenruhig zu; sein Wirken ist jedoch anders als mensch es gemeinhin erwartet, denn Gott akzeptiert ...
- ... die Geschichte als vom Menschen in eigener Verantwortung und Regie gestalteten Willenszusammenhang, sowie
- ... die Natur als nach eigenen Prinzipien und Abläufen sich verwirklichenden Ereigniszusammenhang.
Dies als "selbst Schuld" zu subsumieren, ist genau genommen eine nochmalige Verkürzung der geforderten Verkürzung, denn:
- Der Mensch - als Archetypus - ist freilich Schuld an dem Übel, das er - der Mensch als Archetypus - produziert.
- Die Menschen - als konkrete Personen - sind beim menschengemachten Übel sowohl Täter als auch Opfer. Wer wie wo warum konkret Schuld trägt oder Opfer ist, muss im konkreten Fall jeweils individuell eruiert werden.
In der Zusammenschau beider Aspekte - Archetypus und konkrete Personen - werden nun, und das ist die Ungerechtigkeit des menschengemachten Übels, die Opfer gewissermaßen in die Geiselhaft der Täter genommen. Denn dass sie Opfer des menschengemachten Übels sind, ändert ja nichts daran, dass das Übel menschengemacht ist.
Gott akzeptiert nun die Geschichte als Ausfluss des menschlichen Willens, und damit akzeptiert er eben auch a) das menschengemachte Übel sowie b) die Geiselhaft, in der sich die Opfer befinden. Mehr noch: Gemäß christlichem Glauben begibt sich Gott in Jesus Christus höchstselbst (oder: persönlich - da wären wir dann bei der Trinitätstheologie) in diese Geiselhaft hinein: Gott wird selbst Opfer, wird zur Geisel der Täter.
Das kann man nun glauben oder auch nicht. Doch selbst wenn man das nicht glauben mag, so kann man nachvollziehen, was dieser Glaube bedeutet: Dass nämlich im menschengemachten Übel der Urgrund allen Seins selbst zum Opfer wird. Dass die Täter nicht nur physisches, sondern eben meta-physisches Übel, nicht nur akzidentielles, sondern essentielles Übel anrichten. Dass im menschengemachten Übel das Gute selbst angegangen wird und nicht nur etwas, das man halt zufällig als gut empfindet. Dass das menschengemachte Übel sprichwörtlich himmel-schreiend ist - sowohl im Sinne von "in den Himmel hinein schreiend" als auch im Sinne von "aus dem Himmel heraus schreiend".
Der Glaube an die Auferstehung drückt in Folge eine Hoffnung aus, die sich im Angesicht dieses Übels nicht tilgen lässt: Dass dieses Übel nämlich nicht das Ende der Geschichte ist; dass die Geiselnehmer eben nicht das letzte Wort haben.
Nimmt dieser Glaube dem Menschen - als Archetypus - seine Verantwortung für die Geschichte? Ganz im Gegenteil. Er nimmt die Menschen - als konkrete Personen - viel mehr in die Pflicht, das himmelschreiende Übel wenn nicht gänzlich zu beseitigen (was passiert ist, lässt sich nicht mehr rückgängig machen, das ist als Übel also fortan immer vorhanden), so doch zu bekämpfen und zu lindern.
Was die Frage nach einer Ergebnisoffenheit anbelangt: Zur menschlichen Natur gehört es zunächst einmal, in der Geschichte zu leben und sich darum immer schon in einer moralischen Welt zu bewegen. Zynisch wäre es wohl, den Mörder mit einem "So ist er halt, töten gehört zu seiner Natur" freizusprechen. Tatsächlich gibt sich der Mensch - als Ausfluss seiner Natur - eigene Ordnungskonfigurationen auf, um genau solche Dinge zu vermeiden.
Das führt zur Natur als Ereigniszusammenhang mit eigenen Prinzipien und Abläufen: Gemeint ist damit dasjenige, was vom Menschen zwar als Übel angesehen wird, jedoch nicht menschengemacht ist - also Dinge wie z.B. Überflutungen, Naturkatastrophen etc.
Was hieße es denn schließlich, wenn oder dass "Gott das Leiden der Menschen aktiv beendet"? Nach o.a. Überlegungen müsste die gesamte Schöpfung widerrufen werden, die ja bedeutet, dass Gott etwas anderem als sich selbst ein Dasein gibt: eben einem Ereignis- und Willenszusammenhang in eigenem Recht.
Insofern empfinde ich den genannten Widerspruch nicht nur als Widerspruch, sondern ich kann diesen Widerspruch auch intellektuell als Widerspruch nachvollziehen und darstellen. Mir ist darum allerdings auch bewusst, dass dieser Widerspruch nur dann formuliert werden kann, wenn man bereits in diejenige Theologie eingestiegen ist, die eine Formulierung des Widerspruchs überhaupt erst möglich macht.
Ein Widerspruch wäre nun kein Widerspruch, wenn er sich (auf-)lösen ließe. Das ist m.E. das große Missverständnis in der Debatte um die Theodizee: Der Widerspruch besteht - nach christlichem Glauben - real, er ist nicht bloß scheinbar vorhanden, denn menschengemachtes Übel ist nicht bloß eine Frage der Perspektive, sondern eben real gegeben. Die Frage der Theodizee ist also viel mehr: Glaube ich, dass es diesen Widerspruch wirklich gibt, oder ist das himmelschreiende Übel nichts weiter als eine Fiktion, die sich mit etwas gutem Willen (weg-)rationalisieren ließe?
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