Mittwoch, 20. Dezember 2017

Zum Unterschied der Wissenschaften

Der Unterschied zwischen den Naturwissenschaften (NW) und den Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften (GGKW) ergibt sich nicht aus dem Erkenntnis-objekt, sondern aus dem jeweiligen Erkenntnis-interesse. Der Übergang vom Subjektiven ins Objektive und/oder umgekehrt ist bei den einen nicht früher oder später als bei den anderen. Es verhält sich lediglich so, dass in den NW bestimmte Dinge als selbstverständlich vorausgesetzt und als gegeben angenommen werden, die man in den GGKW gerade hinterfragt.

Auch der Naturwissenschaftler beschäftigt sich mit Bedeutung, welche in die phänomenale Welt hineingelegt wurde: Rein aus der sinnlichen Erfahrung ergibt sich nämlich keine (und gerade keine wissenschaftliche) Erkenntnis; auch in den NW heißt "beobachten" immer schon "beobachten wollen". Je mehr als gegeben bzw. selbstverständlich vorausgesetzt wird, desto schärfer lassen sich Aussagen ziehen, desto mehr vermitteln sie einen objektiven Eindruck. Doch letztlich ist die Natur nur dann und darum dem menschlichen Erkenntnisapparat zugänglich, wenn und weil sie in den Bereich menschlicher Hervorbringung hineintritt: Essentiell bewegen wir uns hier nach wie vor im Geltungsbreich des sog. "Vico-Axioms", demnach die Prinzipien der Menschenwelt in den Modalitäten des menschlichen Geistes zu suchen sind, eben weil ihr Ursprung im Menschen liegt.

Diese Bewandtnis geht oft unter, wenn es um das Erkenntnispotenzial der NW geht, doch auch hier steht am Anfang zunächst einmal ein konstruktivistisches Element, ein nominalistisches Moment, das sich nicht eliminieren lässt: Wirkungszusammenhänge lassen sich nur als Sinn-zusammenhänge denken und erkennen. Darin liegt einerseits eine ständige Grenze der Erkenntnis, andererseits aber auch der Ursprung für Erkenntnis-Änderung, denn auf diese Weise lassen sich eben keine finalen ("objektiven") Wahrheiten ermitteln, sondern nur vorübergehende Wahrheit, die notwendig immer hinterfragbar bleibt.

Eine "`richtige"' Interpretation ist darum auch immer nur relativ betrachtet "richtig", nämlich im Rahmen des Horizontes, innerhalb dessen sie vollzogen wird. Das trifft auf geisteswissenschaftliche Interpretationen ebenso zu wie auf naturwissenschaftliche Interpretationen. Ein schlagendes Beispiel für letzteres fände sich in der Gegenüberstellung von aristotelischer und newtonscher Bewegungslehre.

"Die eine" Interpretation wird und kann es nicht geben, das wird gerade aus der Perspektive der klassischen Theologie deutlich: Im Gegensatz zur fundamentalistischen Lesart, die durchaus final interpretierte Bibelpassagen kennt (bestes Beispiel der Kreationismus mit seinem naiven Literalismus), findet sich das so in den altkirchlichen Traditionen nicht. Die vierfache Exegese schlüsselt den Text nach vier Leitfragen auf,[1] und eine "objektiv" richtige Auslegung ist dies ebenfalls nur auf jeweilige Aspekte hin bezogen.[2]

Zugleich wird oftmals zweierlei verwechselt:

Erstens ist Interpretation Methode, nicht Ergebnis. Sie ist ein Weg, den derjenige geht, der ein Erkenntnisinteresse hat. Über diesen Weg wird ihm ein Ergebnis vermittelt.

Zweitens geht es hier nicht um einerseits "Erkenntnis aus Naturwissenschaft" und andererseits um "Erkenntnis aus Religion". Da wird freilich schon in der Prämisse eine Schlussfolgerung selbst aufgebaut, denn so ist ja a priori klar, dass Religion zuerst "verwissenschaftlicht" werden muss. Es geht entweder um die Erkenntnisse a) aus den Naturwissenschaften und b) aus den Geisteswissenschaften. Oder es geht um die Erkenntnis a) der Naturphänomene und b) der Kulturprodukte. Und hierbei greifen die Naturwissenschaften, ob man das nun will oder nicht, auf Grundlagen zurück, die sie in den Geisteswissenschaften finden, weil ein Naturphänomen nur dann erkannt werden kann, wenn es durch ein Kulturprodukt vermittelt wird.


[1] wörtlich: Was wird erzählt? typologisch: Was kann ich glauben? tropologisch: Was soll ich tun? anagogisch: Was darf ich hoffen?

[2] Nämlich historisch stimmig, metaphorisch schlüssig, dogmatisch korrekt.

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