Ich würde Heribert Illig nicht als "Historiker" bezeichnen. Nur weil ich erkennen kann, wenn jemand anderes Schnupfen hat, bin ich ja auch kein Mediziner. Wenn man sich ein wenig mit dem Mittelalter und vor allem der mediävistischen Forschung sowie deren Methodik auseinandersetzt, dann erkennt man sehr schnell, wie unwissenschaftlich Illig arbeitet. Als Student der Mittleren und Neueren Geschichte habe ich schon von der These des erfundenen Mittelalters gehört, und mir danach auch mal das Buch von Illig aus der Bibliothek besorgt, um die allgemeinen Kritikpunkte daran nachzuprüfen. Soweit ich erkennen konnte, stimmt die Kritik.
Zunächst hat das Wort "Fälschung" im Mittelalter eine andere Bedeutung als heutzutage: Eine Fälschung ist meist eine Urkunde, die eine gewisse Person selbst erstellt, um ein vom König (oder Papst, Kaiser, ...) in der Vergangenheit gegebenes Recht, Privileg o.ä. geltend zu machen, das meist nur mündlich zugesichert wurde. Die wenigsten Könige im Mittelalter konnten selbst schreiben; und allgemein geschah vieles auf der Grundlage des Gewohnheitsrechtes, ohne die heute üblichen juristischen Anforderungen/Kriterien für rechtlich bindende Sachverhalte. Ein kurzes Beispiel: Heinrich I. hat ein Militärbündnis mit den ostfränkischen Großen gegen die Ungarn im Rahmen eines Abendessens/Gelages geschmiedet und dies war, auch ohne Urkunde und schriftliche Fixierung, für die Teilnehmer bindend. In anderen Fällen von Fälschung gingen z.B. Originalurkunden bei einem Unglück o.ä. (Brand, Schlamperei, Krieg) verloren. Eine Fälschung war im Mittelalter also keineswegs ein solch moralisch verwerflicher Akt wie er es heute ist, sondern ein u.U. zulässiges Mittel, um eigene Rechte einzufordern.
In diesem Zusammenhang ist auch die "Konstantinische Schenkung", eine gefälschte Urkunde, in der der römische Kaiser Konstantin dem Papst das weströmische Reich als Herrschaftsbereich zugeteilt haben soll, äußerst interessant, da alleine die Tatsache, dass die Urkunde gefälscht ist, keine Rückschlüsse darauf erlaubt, Konstantin habe dem Papst das weströmische Reich nicht übertragen. Das aber nur nebenbei.
Weiterhin ist es erstaunlich, dass Illig keinerlei Probleme dabei hat, andere Kulturkreise in diese Hypothese einzubauen und es so hinzubiegen, dass es passt. Was er voraussetzt, sind tatsächlich gewisse Vernetzungen und Absprachen zwischen einzelnen (meist mehr oder weniger abgeschlossenen) kulturellen Räumen, die es so in der damaligen Zeit einfach nicht gab, da es an der dafür notwendigen Infrastruktur mangelte. Warum sollten die arabisch-islamischen, warum die oströmisch-byzantinischen Herrscher bei dieser Fälschungsaktion mitspielen? Wie hat man das so koordiniert, dass es keine auffälligen Lücken gibt? Wie sieht es mit Indien und China aus? Was Illig hier postuliert, ist eine weltweit angelegte Fälschung der Geschichte, die eben von Britannien bis nach China reicht, vom Atlantik bis zum Pazifik. Das alles nur, um einigen wenigen ihren Willen zu geben? Das alles nur, um christlichen Chronisten bei einer Fälschung der Geschichte zu helfen? Was er hier verlangt, ist der Glaube an eine weltweite Verschwörung. Warum sollten die Chinesen, warum die Inder bei so etwas mitmachen?
Einzig und allein seine Theorie vom Islam als Sekte innerhalb des Christentums (Arianismus) ist interessant, lässt aber eben den gesamten Hergang der Islamisierung Nordafrikas außer Acht.
Ebenfalls stellt Sachsen ein gewaltiges Problem für Illigs These dar. Vor 614 war das Stammesgebiet nämlich noch vollkommen unabhängig vom fränkischen Reich und heidnisch. Erst Karl der Große hat Sachsen in einem 30 Jahre währenden Eroberungsfeldzug in sein Reich integriert und christianisiert. Bei Illig ist Sachsen über Nacht einfach da. Plopp, und schon sind die Sachsen (nach Illig im Jahr 615) christlich. Und als wäre das nicht schon genug, wird der Sachse Heinrich im Jahr 918 (622 nach Illig) ostfränkisch-deutscher König. Das ganze zieht sich ellenlang weiter: Otto der Große wird 962 (666 nach Illig) urplötzlich römischer Kaiser und wird als solcher sofort - ohne Probleme, wie sie beispielsweise Karl der Große zu Beginn hatte - auch von den anderen (Kalif von Cordoba, byzantinischer Kaiser) anerkannt.
Solche Kleinigkeiten wie z.B. Unstimmigkeiten in der bayerischen Landesgeschichte (auf die Herrschersippe der Agilolfinger folgt, plopp, über Nacht auf einmal der Luitpoldinger Arnulf, der in seinem Herrschaftsinstrumentarium Dinge hat, die zu Zeiten der Agilolfinger noch komplett unbekannt waren und dessen Herrschaftspraxis im sog. "jüngeren Stammesherzogtum" sich fundamental von dem der Agilolfinger im sog. "älteren Stammesherzogtum" unterscheidet; die ethnologischen Erwägungen beim Thema "Stammesherzogtum" mal außer Acht gelassen, da die Bayern von 614 nicht die Bayern von 911 waren) oder die variierende Größe des Frankenreiches zu Zeiten der Merowinger und im 10. Jahrhundert: Illig nennt als Beleg beispielsweise die Auseinandersetzungen um "Burgund", lässt aber völlig außer Acht, dass Burgund im 7. Jahrhundert ein völlig anderes Gebiet war als (das Königreich) Burgund im 10. Jahrhundert (es gab da zwar auch ein Gebiet namens Burgund im westfränkischen Reich, aber um das hat man sich nicht gestritten).
Von daher: Nette Trivialliteratur für kurzweilige Stunden in den Ferien, aber nichts, das man ernst nehmen könnte.
Eine weitere Bemerkung: Das (europäische) Mittelalter kommt uns heutzutage so christlich vor, weil eben nur in Klöstern oder allgemein christlichen Einrichtungen eine schriftliche Kultur gepflegt wurde. Es gibt einen Teilbereich der Mittelalterforschung, der sich mit der Sozialgeschichte befasst - und wenn man sich da mal umsieht, dann wird man stellenweise echt verwundert sein über die teils blasphemischen, teils frivolen Quellen, die man bis heute gefunden und aufbereitet hat.
Illigs These ist alles in allem durchaus interessant. So wie auch Dan Browns Verschwörungstheorien vom Vatikan interessant sind oder sein können. Oder die Mythen rund um Area 51.
Warum Illig diese ganzen Bücher schreibt? Ganz einfach: Wie viele Leute studieren Geschichte? Wie viele Leute studieren mittelalterliche Geschichte (das ist oftmals ein separates Fach und wenn jemand Geschichte studiert, nimmt er meist neuzeitliche Geschichte)? Wie viele Leute studieren zwar nicht, kennen sich aber aus persönlichem Interesse heraus mit dem Thema aus? Und zuletzt: Wie vielen Leuten springt eine solche These ins Auge, wenn sie sich a) weder für mittelalterliche Geschichte interessieren und b) kaum etwas darüber wissen? Die meiste echte Fachliteratur findet man als "Normalo" nicht, weil die Mediävisten (leider, muss ich sagen) ein ziemlich abgeschottetes Dasein fristen, unter sich sind und kaum mit der "Außenwelt" kommunizieren. Das, was man in den Bibliotheken und Büchereien an Literatur über das Mittelalter findet, sind meist populärhistorische Darstellungen, Bildbände und ähnliches, die unwissenschaftlich und mitunter auch von den Fakten her falsch geschrieben sind (im Zuge der Literaturrecherche bin ich über so einige dieser Sachen gestolpert). Und im Vergleich dazu erscheint Illig schon ein wenig wissenschaftlicher. Er ist also nicht blöde, sondern ganz schlau, indem er die Schwachstellen der Mediävistik (nämlich die Außenwirkung) geschickt nutzt, um selbst Profit zu schlagen.
Außerdem spielt er mit etwas, spricht etwas an, das wohl jedem nahe geht: Wieviel wissen wir überhaupt über die Vergangenheit? Das ist ein interessantes Feld, keine Frage. Und die Forschung beschäftigt sich auch damit, beäugt die gefundenen Quellen kritisch, ja, selbst unter Historikern gibt es Kontroversen über manche Sachverhalte, weil die Quellenlage keine eindeutigen Schlüsse erlaubt. Und weil man sich besonders gerne um die Zeit des 8. / 9. / 10. Jahrhunderts kloppt, da hier eben relativ gesehen (und nur relativ gesehen!) wenige Quellen überliefert sind, ist er in die Bresche gesprungen und hat schlicht und ergreifend behauptet, das ganze wäre nie passiert. Die von ihm postulierte "Quellenarmut" bezieht sich tatsächlich nämlich nur auf den Vergleich mit anderen Epochen.
Was Illig letzten Endes offenbart, ist (s)ein Geschichtsbild, das aus dem 19. Jahrhundert stammt: Die Historiographie sei demnach vollkommen objektiv und neutral. Dass die Geschichtsschreibung selbst aber mehr über die Zeit, in der sie betrieben wird, als über die, die sie behandelt, zum Besten gibt, ist ihm fremd.
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