Donnerstag, 13. Dezember 2012

Re: Lessings "Nathan der Weise"

Ich halte den Bezug auf die Ringparabel für äußerst problematisch: Wenn alle drei Religionen gleich wahr sein sollen, dann kann das - vernünftig gesehen - nur dann der Fall sein, wenn sie alle drei un-wahr sind. Nur in diesem Fall können die drei "Ringe" nicht voneinander unterschieden werden. Dass sich dieser Gedanke auch bei Lessing finden lässt, zeigt sich in zwei Dingen: Einmal darin, dass der Vater jedem der drei Söhne dasselbe über die Echtheit des jeweiligen Ringes sagt und damit als Lügner dargestellt wird. Zum anderen auch das Urteil des Richters: Jeder soll so tun, als habe er den echten Ring, denn der Vater habe alle drei gleich geliebt. Wenn er sie wirklich alle gleich geliebt hat, dann hat er alle drei angelogen - denn einem die Wahrheit zu erzählen, würde diesen ja bevorzugen.

Interessant auch die Umstände der Erzählung: Nathan wird vom Sultan nach der wahren Religion gefragt und erzählt dann diese Parabel. Würde er seine Religion als die einzig wahre darstellen, dann verlöre er ob dieser Majestätsbeleidigung seine Reichtümer (und vielleicht sein Leben); würde er die Religion des Sultans als die wahre bezeichnen, dann käme die Frage auf den Tisch, warum er sich gegen die Wahrheit entscheidet. Entweder ist er also kein gläubiger Jude (d.h. er sieht seine Religion nicht als wahr an) - dann muss er sich nach wie vor fragen lassen, warum er noch Jude ist. Oder aber sein Glaube, und damit die Wahrheit, ist ihm weniger wichtig als seine Reichtümer (und sein Leben), weswegen er sich hier aus dieser Falle des Sultans (dem es ja ganz offen um Nathans Vermögen geht) herauszuwinden versucht. Nachdem er dem Sultan sein Geld weder leihen (da Geldverleih ja Abhängigkeit schafft) noch einfach so aus Großzügigkeit spenden wollte (was keine Abhängigkeit schaffen und es dem Sultan ermöglichen täte, Wohltaten zu begehen, für die er ja so bekannt sei) - zumindest letzteres holt er allerdings nach, nachdem der Sultan durch diese List sein "Freund" geworden ist.

Und das pikante Häubchen: Christen und Moslems sind am Ende blutsverwandt - nur der Jude steht abseits und ist einzig als Adoptivvater und "Freund" des Sultans dabei.

Die Figuren aus dem "Nathan" sind dabei keine Charaktere aus Fleisch und Blut, sondern Idealtypen: Durch Saladin soll die politische Macht sprechen, durch den Patriarchen die religiöse Macht, in Recha und dem Tempelherrn zeigt sich die Jugend als naiv respektive hitzköpfig. Wir haben den Typus des bösen Christen (der Patriarch, der den Juden umbringen will), den Typus des listigen Juden (Nathan, der Saladin nicht finanziell, sondern durch seine List emotional abhängig macht) und den Typus des schwachsinnigen Muselmanen (Saladin, der weder mit Geld noch mit seinen Mitmenschen umgehen kann) - so findet hier jeder religiöse Eiferer ein passendes Feindbild.

Gerade wie nun aber Nathan portätiert wird, ist mehr als nur deutlich eine Antwort auf das ecce homo der Bibel. Durch Nathan will Lessing den Menschen schlechthin sprechen lassen. Und was macht Nathan? Er zeigt, dass ihm seine Reichtümer und sein Leben wichtiger sind als die Wahrheit. Die Moral seiner Ringparabel lautet, dass die Wahrheit so lange egal ist wie man von anderen Applaus erhält, weil der Ring ja "vor den Menschen angenehm" macht - dass er ursprünglich auch mal vor Gott angenehm gemacht hat (also wohl eine Art "Rechtfertigung" war), fällt ganz gerne unter den Tisch; zumal der Vater - der in der Parabel für Gott stehen soll - bereits vor Jahren gestorben sei.

Während Jesus mit seinen Gleichnissen durchaus angeeckt ist, bei seinem Verhör vor dem Sanhedrin das, was er als Wahrheit präsentiert hatte, auch noch verteidigt hat, und sich dann von Pilatus fragen lassen musste "Was ist Wahrheit?", da wird Nathan von allen ob seiner "Weisheit" gepriesen und erhält umfassenden Applaus, erzählt bei seinem "Verhör" vor dem Sultan ein Märchen (nicht Kinder nur speist man mit Märchen ab), und stellt diesem die Frage "Was ist Wahrheit?"
Während Jesus sich so verhalten hat, obwohl er wusste, dass solcherlei Dinge das sichere Todesurteil bedeuten, hat Nathan sich so verhalten, weil er wusste, dass er sonst sein Geld (und nur eventuell sein Leben - denn Saladin sei ja wegen seiner Gnade gepriesen) verlieren würde.
Jesus starb für die Wahrheit; Nathan erklärt die Wahrheit um seines Wohlergehens Willen für bedeutungslos.
Das macht Nathans Narrativ zum echten Gegen-Christ.

Und am Ende sind alle Figuren des Dramas in ihrer Verlogenheit vereint: in ihrer Gefolgschaft gegenüber dem "Weisen", für den die Wahrheit nichts bedeutet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen