Samstag, 2. Februar 2013

Rainer Brüderle und das Himmelreich

Eines finde ich bei aller Empörung und allem Aufschreien ganz geschickt: So wie Guido Westerwelle 2009 als polarisierende Figur den Wahlkampf angeführt hat, so ist jetzt Rainer Brüderle als Spitzenkandidat an die Front getreten. War es bei Westerwelle noch die soziale Kälte und das Image als sozialdemokratischer Albtraum und Kinderschreck, so ist Brüderle der Ladykiller-Schrägstrich-Gockel. Der Wahlkampf wird so wieder personalisiert, und das bringt der FDP mehr Sympathien als irgendwelche abstrakten Programmdiskussionen. Zumal Brüderle ohnehin der Kopf hinter den "Brot und Butter"-Themen im freidemokratischen Wahlkampf war bzw. ist, der die Wähler "ganz persönlich im Blick" hat. Denn mal ehrlich: Wer hat denn noch nicht geflirtet? Soll das denn plötzlich verboten werden? Komplimente machen?! Und am Ende nehmen die uns noch die ganze Freiheit!

Während Angela Merkel farblos wie eh und je als ohnehin schon sicherer Wahlsieger gehandelt wird, ihr ... "Konkurrent" ... Peer Steinbrück nur durch die peinliche Berührtheit seiner Genossen aufgefallen ist, die Grünen nicht wissen, ob sie nun mit oder ohne Schwarz machen sollen, und die Piraten ihren Hype längst hinter sich haben (von der PDSEDLinken ganz zu schweigen), hat Brüderle nicht nur seinen eigenen Fanblog, sondern gleichzeitig noch einen eigenen Twitter-Hashtag, der gleichzeitig jungen Frauen dabei hilft, gegen sexuelle Übergr-- Diskrimi-- Anmachen aufzustehen. Am Ende muss Frollein Himmelreich nur noch bei ihm als Praktikantin anfangen, und Brüderle kann sich als deutscher Bill Clinton gerieren.

Scherz beiseite: Als Katholik finde ich ein bisschen mehr Himmelreich-Denken gar nicht so verkehrt. Ich glaube allerdings nicht, dass Frau Himmelreich irgendwelche Grundwerte diktiert - soll heißen: "unserer Gesellschaft" überhaupt diktieren kann. Wenn doch, dann nur den konkreten Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung und natürlich ihren Kindern (so sie denn welche hat/haben wird). Ich halte sie, ganz im Gegenteil, ebenfalls für eine Getriebene ganz bestimmter "Grundwerte" und Überzeugungen, die sich in den letzten Jahrzehnten im veröffentlichten Diskurs durchgesetzt haben.

Das Grundproblem der Debatte um Brüderles Äußerungen scheint mir nämlich exakt dasselbe zu sein, das auch in den zig anderen Sexismus-Diskussionen auftritt: Jeder weiß, dass Sexismus schlecht ist, jeder weiß, dass sexistische Diskriminierung schlecht ist, jeder weiß, dass es eine Grenze gibt, die nicht überschritten werden darf (und das, wohlgemerkt, entgegen dem Ruf der sexuellen Revolution nach Grenzenlosigkeit). Das halte ich für grundlegenden Konsens zwischen denen, die dem #aufschrei folgen, und denen, die den #aufschrei ablehnen.

Nur: Was genau denn nun Sexismus ist, was genau man unter sexistischer Diskriminierung verstehen soll, und wo genau diese Grenze verläuft - das kann (oder will?) keiner sagen. Ist es in den Sexismus-Diskussionen sonst bisweilen die Empörung, die eine tragfähige Definition unnötig werden lässt, so findet sich hier nun die Flucht in den Einzelfall, der da jeweils eine eigene individuelle Entscheidung braucht. Das (oder: mein?) Problem dabei ist, dass auf diese Weise ebenfalls keine Definition (von lat. de-finitio - Aus-grenzung) geleistet werden kann. Soll heißen: Auf diesem Wege gibt es also recht eigentlich gar keine Grenze. Es kommt dann nämlich nicht darauf an, was jemand macht, sondern es kommt nur mehr darauf an, wer eine bestimmte Handlung vollzieht. Und da sind wir dann bei George Clooney, der mit der selben Äußerung bestimmt nicht sexistisch gewesen wäre, sondern besagte Frau Himmelreich sicherlich geadelt hätte. Es zeigt sich deutlich, dass der Bro Code eben kein "Brüderle-Kodex" ist und Barney ("Sohn des Trostes") auf deutsch halt nicht mit "Rainer" übersetzt wird.

Hier fehlt also, wenn man so will, ein Gespür für das Grundsätzliche, das Wissen um ganz Elementares. Das ist aber nicht erst seit "68 und Alice Schwarzer" so, sondern für meine Begriffe eine allgemeine Erscheinung des vergangenen Jahrhunderts. Wer hier klar definieren will, gilt als prüde und sexualfeindlich (siehe das beliebte Papst-Bashing), aber ganz ohne geht es halt auch nicht. Eine solche Unsicherheit - einerseits will man nicht als Spaßbremse dastehen, andererseits fühlt man sich aber doch viel wohler, wenn man nicht wie ein Stück Fleisch betrachtet wird - führt dann eben zum #aufschrei. Und weil man sich ja durch den #aufschrei empört, braucht man auch keine Definition mehr zu leisten, sondern hat die Debatte schon gewonnen, ehe sie begonnen hat.

Auf der anderen Seite, speziell im Falle Brüderles, halte ich noch ein anderes Element für maßgebend, und der Verweis auf den Gegensatz zwischen der Beliebtheit von Bill Clinton und George Bush hat mich darauf gestoßen. Über Clinton sagt(e) man, dass er einen anlächelt, während er einen anlügt. Und während seiner Präsidentschaft hat er gezeigt, dass er nicht nur der kompetente(re) Amtsinhaber ("It's the economy, stupid"), sondern danach, daneben oder dahinter gleichzeitig noch ein echter Mensch ist (Saxophon bei Jay Leno, netter Nachbar bei J.A.G., ...) - getroffen haben sich die beiden Seiten des Politikers dann in der Lewinsky-Affäre. Dagegen stand beispielhaft ein George Bush jun., bei dem eine solche Unterscheidung in "Fassade" (seriöser Politiker) und "Privatmann" ("Dabbelju") nicht gepasst hat (vgl. auch seinen Spruch über the guy who tried to kill my dad).

In Deutschland haben wir das auch so ähnlich. Da haben wir z.B. Guido Westerwelle als Vorgänger von Brüderle im Amt des Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl. Westerwelles Fassade war die des neoliberalen Scharfmachers, des kapitalistischen Populisten, über den die "Sozialromantiker" ihren Kindern Gruselgeschichten erzählt haben (Dieter Nuhr hat das einmal wunderbar dargestellt). Der Privatmann hingegen war bzw. ist immernoch homosexuell und damit recht eigentlich ja "progressiv", d.h. recht eigentlich als Person unangreifbar. 2002 hat Westerwelle den Fehler gemacht, mit seinem Guidomobil den hippen Privatmann zur Fassade machen zu wollen - das hat nicht gezogen, weil so das Private zur Fassade wurde. 2005 und 2009 hat er das behoben und beides strikt getrennt. Und selbst Angela Merkel ist als Frau ja recht eigentlich gegen Angriffe auf ihre private Seite gefeit (sonst wäre das ja Sexismus) - daher muss sie ent-weiblicht werden ("das Merkel"), ehe sie persönlich angegriffen werden kann; de facto wird da eine neue Fassade konstruiert.

Benjamin von Stuckrad-Barre hat sich in seiner Talkshow darauf spezialisiert, gerade die Fassade der Politiker in Deutschland auf Herz und Nieren zu prüfen. Und im Gegensatz zu beispielsweise Martin Lindner oder Peter Altmaier, deren Fassade gnadenlos versagt und den Spießer dahinter gezeigt hat, war Rainer Brüderle in dieser Sendung ein grandioser Sieger. Warum? Weil er als einer der wenigen Kandidaten dort absolut souverän geblieben ist (weitere positive Beispiele: Katja Kipping, Julia Klöckner). Und wieso das? Weil er entweder seine Fassade zur Perfektion getrieben hat (halte ich für unwahrscheinlich) oder aber weil es so etwas wie eine Fassade bei Brüderle gar nicht gibt.

Was ich sagen will: Rainer Brüderle ist Rainer Brüderle, ob nun hinter dem Rednerpult im Bundestag oder in der Bütte bei der Fastnacht, ob nun beim Abgeordnetenbuffet im Parlament oder an der Hotelbar. Anders: Der Mann lebt, was er darstellt, und er stellt dar, was er lebt. Das lässt ihn notwendigerweise anecken in einer Umgebung, die schon so sehr an die Fassade gewöhnt ist, dass sie das Vorheucheln einer solchen einfach erwartet. Vermeintlich betrunkene Auftritte und merkwürdige Kommentare über Behinderte sind da ebenso natürlich wie nur die Spitze des Eisbergs. Und so wie der vermeintlich puritanische Bush (immerhin trockener Alkoholiker) unbeliebt war, so ist auch Rainer Brüderle unbeliebt.

Und, um zum Ende zu kommen, genau das macht ihn auch zu einem Menschen, von dem man sich - im Einzelfall - eben nicht das sagen lassen will, was man einem George Clooney durchgehen ließe und bei einem Barney Stinson frenetisch bejubelt.

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