Donnerstag, 4. September 2014

Jesus mit Humboldt verstehen

In Jesus können wir die mechanischen, physiologischen und psychologischen Kräfte wirken sehen.

Soll heißen: In Jesus finden wir ganz grundlegend die physikalischen, chemischen und biologischen Prozesse, die man im Menschen physikalisch, chemisch und biologisch erforschen und nachvollziehen kann; und das sind ebenjene mechanischen und physiologischen Kräfte, von denen Humboldt in seiner Abhandlung "Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers" spricht. Jesus aß, er trank, er hatte Stoffwechsel, ging zur Toilette, seine Haare und Fingernägel wuchsen, er blutete bei entsprechender Verletzung, usw. In Jesus finden wir auch all diejenigen geistigen, denkerischen, "seelischen", eben psychologischen Prozesse, die sich geistes-, sozial- oder kulturwissenschaftlich erforschen und nachvollziehen lassen. Er hatte Bedürfnisse, wollte essen und trinken, traf Entscheidungen, hatte Angst, hat sich gefreut, war wütend, hat willentlich und wissentlich mit anderen Menschen interagiert, geredet und gepredigt, diskutiert und verkündet usw.

Diese mechanischen, physiologischen und psychologischen Kräfte sind jedoch für sich genommen nicht befriedigend, sie können für sich genommen nichts erklären und wir können sie für sich genommen nicht begreifen. Es nutzt uns in Bezug auf Jesus nichts, wenn wir wissen, dass er aß und trank, es nutzt uns auch nichts, wenn wir wissen, wie oft er aufs Klo ging oder wie schnell seine Haare im Monat gewachsen sind.

Was wir, v.a. wenn wir es mit anderen Menschen zu tun haben, wissen wollen, ist ein gewisses "Warum":

  • Warum hat er so und so oft gegessen?-- Mögliche Antworten: Weil die Nahrungsmittelversorgung in diesem Teil des römischen Reiches so und so war; weil das jüdische Speisegesetz das so und so vorschreibt; weil in der Esskultur zu dieser Zeit und in dieser Region nur soundsoviele Mahlzeiten am Tag üblich waren.
  • Warum sind seine Haare und Fingernägel nur so und so schnell gewachsen?-- Mögliche Antworten: Weil diese und jene Nahrung üblich war, und da wird das Wachstum der Haare/Fingernägel um den und den Faktor beschleunigt/verlangsamt; weil er aus dem und dem Stamm oder dieser und dieser Region kam und Menschen von dieser Herkunft aus dem und dem Grund ein von anderen so und so verschiedenes Haar-/Fingernagelwachstum haben.
  • Warum hat er sich so und so entschieden?--

Mit dieser letzten Frage kommen wir wohl am deutlichsten zu den Ideen, die Humboldt in seinem Traktat benennt: Römisches Reich, Speisegesetze, Esskultur, ethnischer/regionaler Hintergrund - das alles sind Ideen, die das Leben und Wirken eines anderen Menschen verständlich werden lassen; auch andere Menschen und deren Verhalten können solche Ideen sein. Es sind Begriffe, Kategorien, Typisierungen, unter denen die zuvor genannten materiellen Kräfte (die mechanischen, physiologischen und psychologischen Kräfte) zusammengefügt und sinnvoll aufeinander bezogen werden.

Die biblischen Evangelisten haben nun die mechanischen, physiologischen und psychologischen Kräfte, die zusammen im Menschen Jesus gewirkt haben, ebenfalls unter einer solchen Idee zusammengefasst, unter einer solchen Idee sinnvoll aufeinander bezogen. Und diese eine Idee, die in den mechanischen, physiologischen und psychologischen Kräften, in dem Menschen Jesus gewirkt hat, haben die Evangelisten als den Gott identifiziert, von dem dieser Jesus die ganze Zeit geredet haben soll.

Konstruktivistisch betrachtet kommt diese gerade genannte Idee von dem entsprechenden Evangelisten, der dadurch die/eine Geschichte als Erzählung formuliert (= in Form bringt).

Objektivistisch betrachtet im Sinne platonischer Interpretation besteht diese gerade genannte Idee immer schon außerhalb der Welt (und damit außerhalb der Zeit, weswegen sie ewig ist), und sie schafft damit durch Zusammenfügung und sinnvolles Aufeinanderbeziehen der materiellen Kräfte in diesem Jesus die Geschichte als objektive Begebenheit.

Objektivistisch betrachtet im Sinne aristotelischer Interpretation ist diese gerade genannte Idee aktiv handelnd in dieser Welt und gestaltet damit durch Zusammenfügung und sinnvolles Aufeinanderbeziehen der materiellen Kräfte in diesem Jesus die Geschichte als objektive Begebenheit.

Diese drei Betrachtungen (man könnte natürlich auch sagen: Spekulationen, da das hier ein Paradebeispiel für die spekulative Methode nach Droysen darstellt) müssen sich nicht zwangsläufig widersprechen, sondern können durchaus zusammenpassen, so dass alle drei Betrachtungen in ihrer jeweiligen Perspektive zutreffen.

Welche Kriterien müssten dazu gegeben sein? Diese Idee "Gott" müsste ...

  • ... im einzelnen Menschen vorhanden sein,
  • ... außerhalb der Welt existieren und somit erschaffen,
  • ... aktiv in der Welt handeln und somit gestalten.

Gibt es so eine Idee als Wirklichkeit? Wer weiß. Zumindest im konstruktivistischen Sinne wohl schon, immerhin lässt sich ja nachvollziehen, dass die Evangelisten von so einer Idee geschrieben haben - selbst wenn sie sie nur erfunden haben sollten, so ist diese Idee zumindest als Erfindung real. Was darüber hinausgeht, muss geglaubt werden.

Und da glauben Christen z.B. an den Gott in uns, den man im einzelnen Menschen finden kann, an den Gott mit uns, der aktiv in der Welt handelt und sie gestaltet, und an den Gott als ganz Anderen, der außerhalb der Welt existiert und eben ganz anders ist als die Welt.

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