Dienstag, 3. Februar 2015

Antijudaismus und Antisemitismus

Der vormoderne Antijudaismus gründete in christlichen Vorstellungen von Heilsgeschichte, und die Feindschaft zu den Juden zog ihre Selbstlegitimation aus explizit religiösen Argumenten (Töten des Messias, Hostienschändung, Ritualmord, generelle Ungläubigkeit, ...). Gegen diesen religiösen "Obskurantismus" trat der moderne Antisemitismus ins Feld (z.B. durch Gründung der Antisemitenliga 1879 in Berlin) - und er begründete seine Feindschaft dem eigenen Anspruch nach rational, d.h. wissenschaftlich. Deshalb wurde das religiöse "Judaismus/Jude" durch das (vermeintlich?) wissenschaftlich (kulturwissenschaftlich, ethnologisch, biologisch) greifbare "Semitismus/Semit" ersetzt, das aus der Philologie stammt.

Der gewaltigste Unterschied zwischen dem vormodernen Antijudaismus und dem modernen Antisemitismus kommt auch aus dieser Ecke: Der vormoderne Antijudaismus war - bei aller Feindschaft und aller Grausamkeit, die er hervorgebracht hat - nicht annihilatorisch. "Die Juden" hatten einen festen Platz im heilsgeschichtlichen Paradigma als lebendige Zeugen für die Wahrheit des alten Bundes: So lange es Juden gibt, lebt nach dem heilsgeschichtlichen Paradigma auch dieses Zeugnis. Gewiss, "die Juden" werden mit diesem Zeugnis als rückständig angesehen, und sie leb(t)en am Rande der Gesellschaft bzw. wurden dorthin gedrängt. Aber sie haben doch unbestreitbar zu jeder Zeit einen festen Platz in der Heilsordnung.\\

Mit dem weiträumigen Wegbrechen dieses heilsgeschichtlichen Paradigmas im Zuge der Epoche der Aufklärung verschwand dieser feste Platz in der Geschichte. Vom Träger eines rückständigen Zeugnisses entwickelten sich "die Juden" auch und gerade in der aufgeklärten Literatur zum Inbegriff der Rückständigkeit überhaupt, z.B. bei Kant: Juden als "Vampyre der Gesellschaft", oder in Christian Wilhelm Dohms Schrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden von 1781, sowie dann freilich bei Fichte und Hegel. Und hier setzt der annhihilatorische Antisemitismus an: Der Zustand des Jude-Seins habe aufzuhören, um die Modernität der Welt zu verwirklichen.

Der moderne Antisemitismus richtet sich mit seinem wissenschaftlichen und annihilatorischen Anspruch letztlich auch gegen den vormodernen Antijudaismus mit seiner religiösen Grundlage, denn er vollzieht die Rationalisierung des Diskurses, wie sie in der Epoche der Aufklärung verfochten wurde, auf seine ganz eigene Weise nach - hier schlägt sich die Brücke zur Kritischen Theorie mit ihrer "Dialektik der Aufklärung". Nicht zuletzt existiert im Antisemitismus nämlich auch der Anspruch, über die Vernichtung des Judentums die Substanz des Christentums zu treffen - siehe "die Juden als lebendige Zeugen des alten Bundes" -, und damit selbiges ebenfalls zu liquidieren (cf. Theodor Fritsch und sein "Beweis-Material gegen Jahwe"), womit eine generell antireligiöse Stoßrichtung aufgetan ist, die schlichtweg nicht zu einem religiös fundierten Antijudaismus passt.

Das ist nun keine "akademisch theoretische Trennung", die "angesichts der tatsächlichen Geschehnisse hinten und vorne nicht" funktionieren würde, sondern es ist ein Paradigma, die tatsächlichen Geschehnisse überhaupt erst einmal zu betrachten. Als solches ist es auch ein Argument, das die Aussage, der Antijudaismus ließe sich nicht vollständig vom Antisemitismus trennen, stützt: Der moderne Antisemitismus ist nicht ohne den vormodernen Antijudaismus denkbar, denn ersterer will letzteren vom religiösen Obskurantismus "befreien", um ihm eine "gescheite" (und damit in der eigenen Perspektive berechtigte) Grundlage zu verleihen.

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