Montag, 16. Februar 2015

Zum Leben nach dem Tod

Als Christ trage ich natürlich die religiöse Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod in mir, und sie fußt zunächst auf dem Zeugnis, das die Kirche in und mit ihrer (schriftlich und mündlich tradierten) Überlieferung bewahrt und verkündet. Da ich allerdings keinem zumuten kann (und möchte), eine wie auch immer begründete Hoffnung aus Glaubensquellen nachzuvollziehen, wähle ich einen alternativen Weg.

Die Antwort auf die Frage nach einem (hypothetischen) Leben nach dem Tod wirft natürlich erstmal die Frage nach einem Leben vor dem Tod auf. Mein Punkt - unabhängig von Glaubensquellen - wäre dabei derjenige, dass das Leben vor dem Tod in seiner Essenz Er-innerung ist. Um es in drei Dimensionen kurz herunterzubrechen:

Physio-logisch, oder "materialistisch" (physisch, chemisch, biologisch) betrachtet, handelt es sich um Inwendig-Sein und Inwendig-Werdung von organisierter und sich selbst organisierender ("in-formierter und sich selbst informierender", für die Aristoteliker) Materie, kurzum: bio-chemische Masse, die im Verlauf der Naturgeschichte eine innere Autonomie erhalten hat.

Psycho-logisch, oder "mental", handelt es sich um Ver-Innerlichung eines bestimmten Konzeptes im Individuum, das In-Sich-Aufnehmen der logischen Verknüpfung einer bestimmten individuellen Idee mit einer bestimmten individuellen Instanz von zuvor genannter autonomer Biomasse.

Sozio-logisch, oder "gesellschaftlich", handelt es sich um das Hinein-Nehmen einer solchen zuvor genannten Ver-Innerlichung in das Beziehungsgeflecht zwischen bereits vorhandenen Ver-Innerlichungen wie zuvor genannt.

Das ist das, was z.B. Johann Gustav Droysen, einer der Gründerväter der modernen (d.h. wissenschaftlichen) Geschichtsschreibung ausdrückt, wenn er den einzelnen Menschen als "relativ[e] Totalität" (Historik, §12), das heißt als intrinsische Gesamtheit in Beziehung beschreibt, die deshalb in der Geschichte gefunden werden kann, weil die Geschichte als Äußerung dieser Gesamtheit begriffen wird. Hier steht zugleich das "Vico-Axiom" aus Giambattista Vicos Scienza Nuova:

"Die Prinzipien der zivilen [i.e. geschichtlichen, politischen, sozialen, kulturellen, ...] Welt können und müssen innerhalb der Modifikationen des menschlichen Denkens gefunden werden"

Mensch-Sein heißt dabei grundlegend In-der-Geschichte-stehen, da die Geschichte der spezifische Ausdruck des Mensch-Seins ist. So kann auch von dieser Seite her (das spezifisch menschliche) Leben als Ge-dächtnis ("aktives" Denken) und Er-innerung ("passives" Innen-Sein bzw. Ins-Gedächtnis-Hineinkommen) beschrieben werden.

Dies also zum Leben vor dem Tod im Hinterkopf, kann man nun die Frage stellen, was denn davon nach dem Tod noch vorhanden ist.

Meine These wäre, dass in der physiologischen Dimension ein Auflösungsprozess so weit geht, dass eine bestimmte Biomasse sich physio-logisch wie psycho-logisch nicht mehr selbst ver-innerlichen kann und damit nicht nur ihr inhärentes Selbst-Organisieren, sondern auch ihr Organisiert-Sein verliert. Für die Aristoteliker: Die Materie verliert ihre Form. Damit endet jedoch nicht grundsätzlich das In-der-Geschichte-Stehen desjenigen, der stirbt, denn psycho-logisch und sozio-logisch gibt es den Toten auch nach dem physio-logischen Auflösungsprozess noch im Gedächtnis und als Er-Innerung anderer Invididuen (psycho-logisch) sowie im Beziehungsgeflecht der auch nach dem Tod noch vorhandenen Menschen (sozio-logisch). Mit seinem Tod tritt der Mensch nicht aus der Geschichte heraus, ganz im Gegenteil: Es gehört zum spezifisch menschlichen Dasein in der Geschichte, der Toten zu gedenken, sie also in Ge-dächtnis und Er-innerung über den physio-logischen Zerfall hinaus in der Menschenwelt zu behalten.

Diese Betrachtung würde nun einerseits der religiösen Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod einen Grund geben, sie also gänzlich jenseits von Glaubensquellen zur begründeten Hoffnung machen, und diese Hoffnung andererseits aber auch darauf verpflichten, diesem Gedankengang nicht zu widersprechen. Also: Nur diejenige religiöse Hoffnung, die diese Betrachtung in sich aufnimmt oder irgendwie berücksichtigt, kann außerhalb der notwendigerweise dogmatisch gesetzten Glaubensquellen als begründete religiöse Hoffnung gelten.

Das Postulat, mit dem Tod käme das Nicht-sein, muss die genannte sozio-logische Dimension gänzlich ausblenden, und die psycho-logische Dimension ausklammern, insoweit sie andere Menschen als solche anerkennt. Es bleibt somit die Reduktion auf die Physis und Psyche desjenigen, der stirbt. Wenn wir noch berücksichtigen, dass die Weitergabe von Erbgut im biologischen Akt der Fortpflanzung ebenfalls eine Form von Er-innerung konstituiert, müssten wir es streng genommen sogar gänzlich auf die Psyche des Einzelnen reduzieren. Das kann man freilich tun, und es sei demjenigen unbenommen, der sich dafür entscheidet. Allein - es scheint mir doch recht irrational, da es zum Preis der Ignoranz gegenüber wesentlichen Teilen des Menschseins geschieht.

Möglicherweise liegt ja darin die Todesangst: Die Fülle der Sinn-Gebung schwindet, und manifest gegebener Sinn entzieht sich fürderhin der eigenen Verfügungsgewalt. Die eigene Psyche wird zur ereignishaften Kontingenzerfahrung, eben weil sie nicht Anfang noch Ende ist, sondern einerseits physio-logische Ent-ladung und andererseits sozio-logische Ver-mittlung - die ganze Fragilität der eigenen Existenz als bloße Er-innerung wird offenbar. Dann doch lieber gar nicht?

Der Osterglaube vertieft nun diese materielle, sterbliche - kurzum: diese oben ausgebreitete weltliche Sichtweise, er nimmt sie hinein in etwas Größeres, in dem jene Perspektive ihre Voll-endung erfährt. Das ist der Punkt, bei dem ich das Gefühl habe, dass er konsequent nicht registriert oder beachtet wird, sei es nun durch die explizite Suche nach einem amorphen "Zusatzsinn", sei es durch die verwunderte Feststellung, dass es sich dabei ja im Grunde (vorerst) um eine säkulare Diskussion handelt: Ja, es ist eine säkulare Diskussion, da sie das Zeitliche betrifft, denn immerhin lebt der Mensch in einer zeitlichen Welt.

Der Glaube, zumindest insoweit er den fleischgewordenen Logos, den Deus incarnatus bekennt, leugnet diese zeitliche Welt nicht, er steht ihr nicht entgegen - wohl aber gegenüber -, er schafft sie nicht ab, sondern führt sie zu ihrem logischen Ende. Vielleicht ist das ja ein ganz grundlegendes Missverständnis in dieser Debatte: Denn auch wenn Kirchenväter und -lehrer sich der (neu-)platonischen Sprache und Ausdrucksweise bedient haben mögen - Christen sind so wenig (Neo-)Platoniker wie sie Manichäer sind.

Es steht nach alledem also die säkulare These im Raum, dass der Tod nicht das Ende des menschlichen Daseins ist, da der Mensch seinem Dasein nach als Er-innerung besteht, und der Tod gerade das nicht beendet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen