Num 31,17-18:
Nun bringt alle männlichen Kinder um und ebenso alle Frauen, die schon einen Mann erkannt und mit einem Mann geschlafen haben. Aber alle weiblichen Kinder und die Frauen, die noch nicht mit einem Mann geschlafen haben, laßt für euch am Leben!
Viele Kirchen-, Glaubens- und Religionskritiker meinen, dass neben ihrer eigenen koranistischen Interpretation dieser Passage keine andere Interpretation einen Platz habe, weil ihre eigene Interpretation den Text dadurch erschöpfend auslege, dass sie ganz naiv "Beweistexte" zitiert (sog. prooftexting). So eine naive Auslegung setzt jedoch voraus, diese Stelle a) für sich und ohne den unmittelbaren sowie dann auch ohne den größeren Zusammenhang zu lesen (so spricht in Num 31,17-18 nicht Gott in wörtlicher Rede, sondern Mose), sowie b) diese Stelle wörtlich in dem Sinne zu nehmen, als ob sie einen journalistischen Tatsachenbericht darstelle. Denn anders ergeben Aussagen wie jene, dass diese Passage "so widerlich und menschenverachtend [sei], wie sie da nun einmal steht und für was sie historisch leider steht", keinen Sinn. Ich gehe an dieser Stelle nicht darauf ein, wofür es "historisch leider steht", dass das Volk der Juden ein anderes Volk bekämpfe und ausbeute, sondern schlicht auf das Attribut "historisch": Darin liegt nämlich der springende Punkt. Den Text wörtlich zu lesen, heißt, ihn historisch zu lesen - denn der Literalsinn vermittelt die historia, die im Text liegt. Und das meint eben nicht irgendeine Tatsachenaufzählung (im weitesten Sinne gibt es dafür die Bezeichnung res gestae), sondern in erster Linie eine Ereigniserzählung - das ist ein subtil wirkender, aber sehr bedeutender Unterschied, der seit dem 18. Jahrhundert (seit der "Sattelzeit", wie man begriffs- und ideengeschichtlich gerne sagt) kaum mehr sprachlich wahrgenommen wird und so für Verwirrung sorgt. Kurzum: Diese naive Interpretation der Bibel ist eine moderne Interpretation, die den Text eben gerade nicht historisch, d.h. auch: nicht wörtlich (ad litteram) liest, sondern die wörtliche Sinnebene a-historisch zu etwas erhebt, das sie nicht ist.