Dienstag, 19. Mai 2015

"Völkermord in der Bibel": Numeri 31

Num 31,17-18:
Nun bringt alle männlichen Kinder um und ebenso alle Frauen, die schon einen Mann erkannt und mit einem Mann geschlafen haben. Aber alle weiblichen Kinder und die Frauen, die noch nicht mit einem Mann geschlafen haben, laßt für euch am Leben!



Viele Kirchen-, Glaubens- und Religionskritiker meinen, dass neben ihrer eigenen koranistischen Interpretation dieser Passage keine andere Interpretation einen Platz habe, weil ihre eigene Interpretation den Text dadurch erschöpfend auslege, dass sie ganz naiv "Beweistexte" zitiert (sog. prooftexting). So eine naive Auslegung setzt jedoch voraus, diese Stelle a) für sich und ohne den unmittelbaren sowie dann auch ohne den größeren Zusammenhang zu lesen (so spricht in Num 31,17-18 nicht Gott in wörtlicher Rede, sondern Mose), sowie b) diese Stelle wörtlich in dem Sinne zu nehmen, als ob sie einen journalistischen Tatsachenbericht darstelle. Denn anders ergeben Aussagen wie jene, dass diese Passage "so widerlich und menschenverachtend [sei], wie sie da nun einmal steht und für was sie historisch leider steht", keinen Sinn. Ich gehe an dieser Stelle nicht darauf ein, wofür es "historisch leider steht", dass das Volk der Juden ein anderes Volk bekämpfe und ausbeute, sondern schlicht auf das Attribut "historisch": Darin liegt nämlich der springende Punkt. Den Text wörtlich zu lesen, heißt, ihn historisch zu lesen - denn der Literalsinn vermittelt die historia, die im Text liegt. Und das meint eben nicht irgendeine Tatsachenaufzählung (im weitesten Sinne gibt es dafür die Bezeichnung res gestae), sondern in erster Linie eine Ereigniserzählung - das ist ein subtil wirkender, aber sehr bedeutender Unterschied, der seit dem 18. Jahrhundert (seit der "Sattelzeit", wie man begriffs- und ideengeschichtlich gerne sagt) kaum mehr sprachlich wahrgenommen wird und so für Verwirrung sorgt. Kurzum: Diese naive Interpretation der Bibel ist eine moderne Interpretation, die den Text eben gerade nicht historisch, d.h. auch: nicht wörtlich (ad litteram) liest, sondern die wörtliche Sinnebene a-historisch zu etwas erhebt, das sie nicht ist.

Wenn die Lösung für einen gläubigen Menschen hier nur darin liegen können sollte, den Bibeltext gerade nicht auf Gott sondern lediglich auf einen fehlgeleiteten Glauben zu beziehen, dann müssten wir konsequenterweise annehmen, dass auch in unserer heutigen Folklore massenhaft fehlgeleitete Leute präsentiert werden:

  • Luke Skywalker feuert seine Torpedos in den Abluftstutzen des Todessterns, weil er seinen Gegner vollständig vernichten soll und will.
  • Jeff Goldblum und Will Smith löschen am Unabhängigkeitstag eine ganze Zivilisation denkender und fühlender Lebewesen aus, indem sie in deren Raumschiff eine Atombombe zünden.
  • Ähnliches macht Iron Man im ersten Avengers-Film.
  • In etwas kleinerem Maßstab töten sowohl Uma Thurman in "Kill Bill" als auch Django in seinem neuesten Film alle Gegner ratzeputz.
  • Frodo wirft den Ring ins Feuer, damit Sauron und sein Volk vernichtet werden.
  • Keanu Reeves zerstört am Ende der Matrix-Trilogie ein ganzes Universum, das sich der autonome Ex-Agent Smith aufgebaut hat.
  • Ellen Ripley löscht in vier Filmen eine ganze Alien-Spezies aus.

Alle diese Figuren sind - man mag es kaum glauben - die Helden ihrer jeweiligen Geschichten, sie tun innerhalb der Erzähl-Logik das Gute, ja, sie sind die Guten. Wie kommt das? Warum werden sie nicht als Völkermörder, Psychopathen und/oder gänzlich fehlgeleitete Bösewichte verachtet?

Um zur Stelle aus Numeri zurückzukehren: Die vorgeschlagene Lösung, den Bibeltext nicht (nur) mit Gott, sondern (auch) mit einem fehlgeleiteten Glauben in Beziehung zu setzen, rüttelt nun mitnichten "an der Heiligkeit der Schrift". Wohl aber rüttelt sie an einem naiven Schriftverständnis. Auf so eine "Heiligkeit" kann man letztlich nämlich gut und gerne verzichten.

Es kann andererseits aber natürlich auch dies eine Lesart des Bibeltextes sein, dass Gott derlei kriegerische und gewaltsame Dinge zulässt - selbst wenn sie von seinem auserwählten Volk getan werden -, und daraus dann eine moralische Lehrstunde macht. Das verweist nun nicht nur auf die Geschichte von Hiob, die sich gegen einen Tun- Ergehens-Zusammenhang wendet, sondern zeigt gleichsam auf, dass die bloße Zugehörigkeit zum Gottesvolk einen nicht von den Übeltaten dieser Welt enthebt. Letzten Endes führt dies folgerichtig ans Kreuz, wo das Gottesvolk Gott selbst umbringt. Aber das halte ich in der Diskussion um eine konkrete Stelle wie die aus Numeri 31 für eine eher schwache Lesart, da sie eher allgemein an der Oberfläche bleibt und die konkret genannte Stelle nicht wirklich durchdringt.

Lesen wir die Stelle also doch mal ad litteram - wörtlich: Was haben wir da?

Mose erhält von Gott den Auftrag "für die Israeliten Rache an den Midianitern" zu nehmen; danach werde er "mit (s)einen Vorfahren vereint werden". Es ist dies also die letzte große Aufgabe des größten Propheten im Volk Israel; das, was sein Lebenswerk vollendet. Und obwohl Mose der größte Prophet Israels und niemals wieder einer wie er aufgetreten ist (Dtn 34,10-12), befiehlt auch er (wie wir es später dann ebenfalls bei Saul sehen) nicht einfach aus eigenem Gutdünken einen Kriegszug, sondern er handelt auf göttliches Geheiß: auch seine Kompetenz ist beschränkt - der Prophet ist kein Kriegsherr aus eigener Macht.

Wer sind die Midianiter?-- Im biblischen Narrativ sind auch sie - wie die Israeliten - Nachfahren von Abraham (Gen 25,1-2), damit ein "Brudervolk" Israels: Josef, der Enkel Isaaks, wird von seinen Brüdern an Midianiter verkauft (Gen 37,28). Als Mose den Ägypter erschlägt, flieht er zu den Midianitern (Ex 2,15), und heiratet sogar die Tochter des midianitischen Priesters (Ex 2,21). Aus Midian kommt schließlich die Verführung Israels zum Götzendienst (Num 25).

Der Konflikt zwischen Israel und Midian ist also ein Konflikt zwischen dem folgsamen Gottesvolk und einem verwandten, aber nicht ganz folgsamen "Brudervolk", dessen Lösung das Lebenswerk des größten aller Propheten zur Vollendung führt. Besonderes Detail: In diesem Konflikt wird das ewige Priestertum Israels gestiftet (Num 25,13).

Das ist der Hintergrund, den wir beim wörtlichen Lesen der Stelle berücksichtigen müssen: Es handelt sich hier im Rahmen des Narrativs um den Konflikt zwischen richtigem und falschem Kult, zwischen der Gemeinschaft, die in Freiheit ihren Gott richtig verehren will (vgl. Ex 9,13) und einer Gemeinschaft, die das nicht tut. Und das liegt auf derselben Linie wie das gesamte Narrativ der Geschichte Israels. Eine weitere Beobachtung lässt sich machen: Das Volk Midian wird nicht ganz ausgerottet - es bleiben die Jungfrauen verschont. Jungfräulichkeit ist nun ein ganz besonderes Motiv im biblischen Narrativ: Das Volk Israel selbst wird gelegentlich mit Jungfräulichkeit in Verbindung gebracht, und letztlich greifen das auch die Christen auf, wenn sie behaupten, Gott selbst sei durch eine Jungfrau geboren. In diesem Konflikt zwischen dem richtigen und dem falschen Kult bleibt am Ende also das, was im falschen Kult richtig ist, am Leben. Und dieser Konflikt ist es, der hier literarisch verarbeitet wird.

Mehr noch: Es kommt hier bereits zu einer ersten Differenzierung zwischen ewigem Gesetz einerseits und konkreter Anwendung des Gesetzes andererseits, das die Unterscheidung zwischen Torah und Prophetenschriften im Schriftkanon insgesamt kennzeichnet. Dabei greift der Autor durchaus als Kind seiner Zeit auf gängige Erzählmuster zurück, eben auf das erzählerische Mittel von Krieg und Kampf, das ja (siehe oben) auch in unserer Zeit noch ein gängiges Erzählmuster darstellt, um das Richtige dem Falschen gegenüberzustellen.

Darüber hinaus lässt sich die Passage natürlich auch allegorisch (typologisch) lesen, indem z.B. das Volk Israel für die Kirche steht, die anderen "Brudervölkern" (Religionen, Konfessionen, Denominationen, ...) begegnet und von dort das behält, was gut und richtig ist (vgl. 1 Thess 5,21). Moralisch (tropologisch) lässt sich für den Einzelnen der Anspruch auslegen, im eigenen Leben den richtigen Kult zu praktizieren. Eschatologisch (anagogisch) schließlich lässt sich diese Stelle als Vorwegnahme des Gerichts am Ende der Zeiten begreifen, wenn die Werke des Einzelnen am Feuer geprüft werden (vgl. 1 Kor 3,13-15).

Das ist nun absolut keine erschöpfende Auslegung der gegebenen Bibelstelle, aber es zeigt sich doch, dass der Spielraum um einiges größer ist, als die Kritiker es mit ihrer naiven Lesart zulassen möchten.

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