Samstag, 30. Mai 2015

Der "ungläubige" Thomas: Johannes 20

Der Jünger Thomas hat nicht nach Beweisen per se gefragt, sondern er wollte mehr als nur das Zeugnis seiner Apostelkollegen; kurzum: die kirchliche Verkündigung war ihm zu wenig. Darum wollte er den Auferstandenen mit eigenen Händen berühren. Wenn das - den Auferstandenen eigenhändig berühren wollen - als rationales Denken gilt, okay. Man darf natürlich nicht unterschlagen, dass Thomas am Ende sagt "Mein Herr und mein Gott". Gilt dies noch immer als rationales Denken?

Das Entscheidende ist zunächst nicht der Zweifel, den Thomas äußert, sondern es geht in der gesamten Episode um seinen Glauben, und damit auch beispielhaft um den Glauben schlechthin. Das "mein Herr und mein Gott" ist nicht irgendwie "angeklebt", sondern es ist das, was Thomas von Anfang an sagen will (Joh 20,25), so wie es seine Apostelkollegen tun. Da er jedoch nicht bei ihnen war, als der Auferstandene sie besucht hat, glaubt er ihnen nicht - sie vermitteln ihm nämlich etwas (für ihn) Unsichtbares. Welche Antwort erhält er nun aber gemäß biblischer Überlieferung?

Zuerst: "Streck deinen Finger aus - hier sind meine Hände!" (Joh 20,27) Der Auferstandene anerkennt Thomas' Forderung, er lässt sich ein auf die Bedingungen, die dieser stellt, und liefert ihm Sichtbares.

Sodann: "Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben." (Joh 20,29) Der Unterschied zu einer Auslegung, die das Nachdenken verbieten möchte, könnte kaum größer sein: Es geht hier nicht um das Verhältnis von Glaube und Zweifel oder gar "Nachdenken". Es geht um die Frage, was authentischer (selig-machender) Glaube bedeutet, worauf er sich richtet und woraus er sich speist. Die Antwort: Selig macht der Glaube, der das Unsichtbare als solches anerkennt.

Da wären wir nun beim Gott der Philosophen, der negativen Theologie und der göttlichen Unwissenheit als höchster Weisheit: Selig macht der Glaube, der das Unbegreifliche als solches erkennt. Und es macht selig, weil damit der Prozess der Selbsterkenntnis, der sich innerhalb Gottes vollzieht, nach-vollzogen wird. Denn: Die Kenntnis der rein mechanischen Abläufe der Auferstehung führt nirgendwohin. Thomas hingegen will das Unbegreifliche eingrenzen, definieren, klein machen, damit es in seinen vorgefertigten Glauben passt. Er wäre damit wohl eher ein Beispiel für einen nicht-rationalen Anspruch.

Joh 20,29:
Jesus sagte zu ihm: weil du mich gesehen hast, glaubst du.
Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.

Eine Auslegung dieser Stelle im Sinne von "glauben sollst du und nicht nachdenken, zweifeln oder Beweise einfordern" ergibt nur dann Sinn, wenn man die Stelle aus ihrem Kontext reißt und sie entweder isoliert betrachtet oder aber die Passagen, die dieser Deutung widersprechen, aus dem Zusammenhang streicht. Beispielhaft dafür steht das Thomas-Bekenntnis (Joh 20,28), das entweder gänzlich ignoriert oder aber notwendigerweise als Fremdkörper behandelt und kleingeredet werden muss ("angeklebt", "verdirbt die Dramaturgie"). Tut man dies, so kann man den armen Thomas in der Tat als gedemütigten Agnostiker darstellen, der durch die moralinsaure Bloßstellung mundtot gemacht wird. Im Zusammenhang jedenfalls ist so eine Auslegung nicht stimmig.

Deutlicher wird es vielleicht, wenn wir den größeren Kontext betrachten: nämlich das ganze 20. Kapitel bei Johannes, denn das dreht sich insgesamt um Sehen und Glauben. Die Verse 1 bis 10 berichten von Petrus und dem "Jünger, den Jesus liebte" (traditionell mit Johannes identifiziert) am und im leeren Grab. Beide sehen, dass das Grab leer ist - und glauben. Die Verse 11 bis 18 berichten von Maria Magdalena, die vor dem Grab steht und weint. Sie sieht den Auferstandenen, verwechselt ihn mit einem Gärtner, identifiziert ihn dann jedoch als "Rabbuni - Meister" und berichtet den Jüngern, dass sie den Herrn gesehen habe (Joh 20,18). Die Verse 19 bis 23 berichten von der Gruppe der Jünger, die sich "aus Furcht vor den Juden" (Joh 20,19) eingeschlossen haben. In ihre Mitte tritt der Auferstandene, und er zeigt ihnen seine Wunden. Sie freuen sich, "daß sie den Herrn sahen" (Joh 20,20), und sie empfangen ihre Sendung im Heiligen Geist. Schließlich berichten die Verse 24 bis 29 von "Thomas, genannt Didymus (Zwilling)".

Auffallend ist, dass diese vier Episoden einer parallelen Struktur folgen, insofern es um die darin vorkommenden Personen geht: 

  • Joh 20,1-10 behandelt eine Gemeinschaft der Jünger (Petrus und Johannes). 
  • Joh 20,11-18 behandelt eine Einzelperson (Maria Magdalena). 
  • Joh 20,19-23 behandelt wieder eine Gemeinschaft der Jünger (nun ohne konkrete Namen zu nennen). 
  • Und Joh 20,24-29 wendet sich wieder einer Einzelperson zu (Thomas).

Eine zusätzliche Anmerkung: Die vorgestellten Einzelpersonen gehören nicht zu einem engeren Kreis der Apostel; Madgalena gehört ganz prinzipiell nicht zum Kreis der Zwölf, und Thomas - obwohl Teil der Zwölf - konkret hinsichtlich der Erscheinung des Auferstandenen in den Versen 19-23, wie Vers 24 verrät.

In allen vier Episoden geht es darum, zu sehen: In Joh 20,1-10 sehen die Jünger das leere Grab, und sie glauben. In Joh 20,11-18 sieht Madgalena den Auferstandenen, und sie glaubt zumindest insoweit sie ihn als "Rabbuni - Meister" erkennt und den Jüngern seine Botschaft ausrichtet. In Joh 20,19-23 sehen die versammelten Jünger seine Wunden; sie glauben zumindest insoweit, als sie sich freuen, den Herrn zu sehen, und empfangen den Geist. In Joh 20,24-29 schließlich sieht Thomas den Auferstandenen, darf die Wunden berühren - und bekennt seinen Glauben. Was daran auffällt: Thomas ist der einzige, der etwas einfordert, der etwas für sich haben will, das er als Bedingung für seinen Glauben formuliert. Doch damit nicht genug: Er will nicht nur das leere Grab (Joh 20,1-10) oder den Auferstandenen sehen (Joh 20,11-23), sondern er will mehr. Thomas will den Auferstandenen berühren, die Wunden anfassen - er fordert streng genommen für sich mehr als die anderen erhalten haben.

In diesem Zusammenhang erhält das Herrenwort "Selig sind, die nicht sehen und doch glauben" eine Vertiefung, denn sie lässt sich aus dieser konkreten Situation heraus sinnvoll auf die erste Episode beziehen. Was die beteiligten Personen angeht, haben wir eine Einzelperson aus der Gemeinschaft der Jünger, genauer: aus dem Kreis der Zwölf, dem auch Petrus und Johannes angehören. So lassen sich Thomas und die beiden Apostel am Grab vergleichend betrachten. Und da sieht Johannes das leere Grab, logischerweise sieht er also Jesus nicht - und dennoch glaubt er.

"Selig sind, die nicht sehen und doch glauben" kann in diesem Lichte also auch heißen: "Selig sind, die das leere Grab vorfinden und glauben". Diese Verständnisebene wird bei der Verengung auf "du sollst nicht nachdenken, zweifeln oder Beweise einfordern" gänzlich ausgeschlossen, ignoriert, abgehackt. Denn das leere Grab ist insofern der Beleg, den einerseits die Jünger gegenüber Thomas anführen können (und gewiss auch angeführt haben - spätestens Magdalena wird das ja berichtet haben), und den andererseits Thomas, sofern er tatsächlich Wert auf materielle Beweise legt, anerkennen muss.

Wie steht es um die ungläubigen Thomasse allerorten? Sehen diese das leere Grab?

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