Das Fundament der großen Volksparteien CDU/CSU, SPD und FDP ist der zivilisatorische Konsens der Bundesrepublik Deutschland. Dem sind sie vom Standpunkt der Christdemokratie, der Sozialdemokratie und der Freidemokratie aus verpflichtet, insofern sie ihre Politik von der Person (Christdemokratie), vom Menschen (Sozialdemokratie) und vom Bürger (Freidemokratie) her begreifen und aufziehen.
Der Konservatismus geht nicht von der Person aus, sondern entfaltet sein Programm vom Untertanen her - das ist das Problem, mit dem sich die Christdemokratie zuvorderst auseinandersetzen muss. Der Sozialismus entfaltet sich vom Arbeiter her - damit muss sich zuvorderst die Sozialdemokratie auseinandersetzen. Die Auseinandersetzung in der Freidemokratie verläuft zwischen dem citoyen (Staatsbürger) und dem bourgeois (Wirtschaftssubjekt) - aus letzterem entfaltet sich klassischerweise der Liberalismus.
Das ist es, was sowohl bei SPD als auch PDSEDLinke nicht verstanden wird: Seit Bad Godesberg verfolgt die SPD eben keinen Sozialdemokratismus mehr, d.h. einen reformerischen Marxismus als Klientelpolitik für die Arbeiterschaft, sondern eine Variante des zivilisatorischen Konsens. Das ist es, was auch bei Union (v.a. in der CSU) und AfD nicht recht verstanden wird. So wenig wie die SPD eine sozialistische Partei ist, so wenig sind CDU und CSU konservative Parteien. Die FDP hat blutiges Lehrgeld dafür bezahlt, dass sie die Freidemokratie auf einen schmalen Liberalismus beschränkt und den citoyen (Staatsbürger) durch den bourgeois (Wirtschaftsbürger) ersetzt hat. Das hat alternativen Liberalismen Aufwind verschafft (Piraten und Grüne: Linksliberalismus; AfD: Nationalliberalismus), die bei Landtagswahlen und v.a. bei der Bundestagswahl 2013 wichtige Stimmen gekostet haben.
Die Rede von den bürgerlichen Parteien verschleiert indes mehr als sie anzeigt: "Bürgerlich" war auch z.B. Lenins RSDAP, denn im Gegensatz zur Partei der Sozialrevolutionäre bestand diese auf der Revolution und Herrschaft der Bourgeoisie - sie wollte also zuerst den bürgerlichen Staat, ehe das sozialistische Paradies anbrechen durfte. "Bürgerlich" war auch die SED in ihrer Besatzungszone, da sie den Kampf gegen das agrarische Junkertum führte. Dagegen stand Mao Zedongs KPCh, die gerade im nicht-bürgerlichen Bauerntum das revolutionäre Subjekt erblickte. "Bürgerlich" ist zuletzt auch gerade die moderne PDSEDLinke rund um Klaus Ernst oder Sahra Wagenknecht.
Kleine Volksparteien, so würde ich argumentieren, drücken keinen zivilisatorischen, sondern einen kulturellen Konsens aus. Der ist zwar größer als die Interessen einer spezifischen Klientel. Aber er ist doch nicht so umfassend wie derjenige der großen Volksparteien. Ein Paradebeispiel für eine kleine Volkspartei wäre die alte Zentrumspartei, die ihre Wähler zwar in allen Bevölkerungsschichten hatte, folglich auch die Interessen nicht nur eines speziellen Milieus berücksichtigt hat, aber andererseits nur deren katholischen Teil vertrat. Die NSDAP fiele auch unter diese Kategorie: Hier kamen Milieu-Übergreifung mit der ideologischen Beschränkung auf einen großpreußischen Machtzentralismus zusammen. Im Vergleich mit der KPD wäre auch die Weimarer SPD eine kleine Volkspartei, da sie zumindest innerhalb des Arbeitermilieus die gesamte Bandbreite erfassen konnte.
Ein moderneres Beispiel für eine kleine Volkspartei könnten die Grünen in Baden-Württemberg werden: Hier liegt die Beschränkung eher territorial und kulturell (Schwaben) denn sozial oder programmatisch-ideologisch. Und ohne Verbindung zur CDU wäre auch die CSU nurmehr eine kleine Volkspartei, da ebenfalls territorial und kulturell (Bayern) beschränkt.
Große Volksparteien hingegen umfassen das gesamte sozio-ökonomische Milieu-Spektrum, sie sind überregional, und sie gehen über spezifische programmatisch-ideologische Kulturen hinaus.
Der zivilisatorische Konsens steht schließlich in der Rangordnung noch über irgendeiner "Leitkultur" - und diesen Begriff halte ich ehrlich gesagt auch für eher unglücklich. Im Falle der Bundesrepublik wurde der zivilisatorische Konsens unter dem Eindruck des Nationalsozialismus identifiziert, er wurde im Grundgesetz und den zugehörigen Landesverfassungen in Form gegossen, und er wurde z.B. außenpolitisch in den großen Projekten sowohl der Westintegration als auch der Neuen Ostpolitik umgesetzt. Grundlegendes Kennzeichen des zivilisatorischen Konsens ist die Anerkennung eines vor-staatlichen Raumes, der sich in der Unantastbarkeit der Menschenwürde äußert und daraus folgend einen essentiell beschränkten Staat konstituiert. Damit einher geht wiederum die Abkehr von Autarkiebestrebungen, Neutralismus und etatistischem Rechtspositivismus bzw. rechtspositivistischem Etatismus - drei dominanten Bestandteilen der (preußisch geprägten) politischen Kultur in der Weimarer Republik. Schließlich gehört auch die Formel vom vereinigten Deutschland in einem vereinten Europa zu diesem Konsens. Mit Bezug zur revolutionären Trias aus "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" lautet der zivilisatorische Konsens in seiner christdemokratischen Wiedergabe Personalität, Subsidiarität, Solidarität. In sozialdemokratischen Worten: "Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit". Die Freidemokratie hat es indes versäumt, eine eigene Formulierung zu prägen.
Die AfD will den zivilisatorischen Konsens durch eine großpreußische Leitkultur ersetzen, die in der Nähe der alten zaristischen Trias aus "Autokratie, Orthodoxie, Volkstum" steht.
Damit keine Missverständnisse entstehen:
- Der zivilisatorische Konsens ist nicht links und auch nicht grün, und er ist nur in einem bestimmten Rahmen christlich. Die PDSEDLinke teilt den Konsens nicht, sondern vertritt einen Widerspruch dazu - sie setzt mindestens auf Neutralismus, Stichwort: NATO-Austritt, und Etatismus -, und die Grünen operieren eher auf der Ebene einer "Leitkultur", sie entsprechen ihm also nicht ganz.
- Der zivilisatorische Konsens ist christdemokratisch, sozialdemokratisch, freidemokratisch, und zwar im genannten Sinn. Es ist damit gerade nicht "der große Allparteienkompromiss" gemeint.
- Und, ja, der zivilisatorische Konsens bröckelt zur Zeit: Die Godesberg-SPD hat sich selbst zerlegt, die FDP ebenfalls. Und an der Zerlegung der Union werkelt gerade die CSU - bzw. Herr Seehofer - ganz eifrig.
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