Die Frage Utrum haeretici sint tolerandi - Ob Häretiker geduldet werden sollen? - finden wir bei Thomas von Aquin in seiner Summe der Theologie Teil II-2 Quaestion 11 Artikel 3. Ein kurzer Abriss ohne den Anspruch einer Übersetzung, sondern mehr den einer Zusammenfassung:
- Erstens sage Paulus in 2 Tim 2,24-25: Ein Christ müsse zu allen freundlich sein und darauf hoffen, dass Gott die Andersgläubigen bekehrt. Folglich müssten Häretiker geduldet werden.
- Zweitens seien Häretiker notwendig für die Kirche. Paulus sage in 1 Kor 11,19: Ohne Abweichler sehe man die Linientreuen nicht. Folglich müssten Häretiker geduldet werden.
- Drittens sage Jesus in Mt 13,30: Sammelt das Unkraut bis zur Ernte und verbrennt es dann. Diese Stelle sei allegorisch gemeint: Das Unkraut seien die Häretiker, die Ernte sei das jüngste Gericht. Folglich müssten Häretiker geduldet werden.
Thomas liefert also drei biblische Argumente, die sich auf der Grundlage von Referenzstellen in den Paulusbriefen sowie einem Herrenwort für die Duldung von Häretikern aussprechen: Zum ersten eine direkte Aufforderung aus dem Literalsinn; zum zweiten eine Nützlichkeitserwägung ebenfalls aus dem Literalsinn; zum dritten eine Anweisung auf Grundlage einer Allegorese.
Sed contra - andererseits - sage Paulus in Titus 3,10-11: Wenn du einen Abweichler zwei- oder dreimal ermahnt hast, meide ihn; denn du weißt, dass er falsch liegt.
Thomas antwortet, dass man mit Blick auf die Frage nach Häretikern zwei Aspekte betrachten müsse:
- Einmal stehe der individuelle Aspekt des Häretikers als Person: Durch seine Abkehr von der Wahrheit habe er es nicht nur verdient, außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft zu stehen, sondern zugleich von der Welt durch den Tod ausgeschlossen zu werden (meruerunt [...] per mortem a mundo excludi). Es sei ein schlimmeres Verbrechen, den Glauben zu verdrehen, durch den die Seele ihr Leben besitzt, als Geld zu fälschen, durch das das zeitliche Leben unterstützt wird. Jetzt würden aber Geldfälscher und andere Verbrecher von den weltlichen Herrschern (per saeculares principes) zum Tode verurteilt. Konsequenterweise müsse diese Strafe dann auch auf Häretiker angewendet werden.
- Zum anderen stehe der gemeinschaftliche Aspekt der Kirche, und damit Gnade und Barmherzigkeit (misericordia): Diese sei auf die Umkehr des Irrenden ausgerichtet. Darum dürfe die Kirche den Häretiker nicht sofort verdammen, sondern müsse ihn zuerst einmal (bzw. zweimal) ermahnen und korrigieren (non statim [...] sed post primam et secundam correctionem). Bleibe der Häretiker danach noch bei seiner Ansicht, dann wiege der Schutz der übrigen Gläubigen schwerer, und die Kirche müsse ihn aus der Gemeinschaft ausschließen; weiters dann der weltlichen Gerichtsbarkeit (iudicio saeculari) überstellen, wo ihn die Todesstrafe erwarte (siehe zuvor).
Antworten auf die anfänglichen Einwände schließen den Artikel:
- Ad 1: Die Freundlichkeit, von der Paulus in 2 Tim 2,24-25 spreche, führt Thomas als genau jenes mehrmalige Ermahnen an. Bleibe das fruchtlos, dann käme man zum Sed contra mit Tit 3,10-11.
- Ad 2: Der Profit, den die Kirche aus den Häretikern schlagen könnte, sei nicht das, was die Häretiker selbst beabsichtigten. Die Kirche könne Häretiker zwar als einen Test der Gläubigkeit ihrer Schäfchen begreifen. Die Häretiker aber hätten die Absicht, den Glauben zu (ver-)ändern. Diese direkte Absicht sei ernster zu nehmen als das, was man sonst (bzw. von außen) hineininterpretieren kann.
- Ad 3: Mt 13,30 beziehe sich auf eine spezielle Situation, nämlich die, in der der Weizen nicht getrennt vom Unkraut geerntet werden kann.
- Es sei ein schlimmeres Verbrechen, den Glauben zu (ver-)fälschen als Geld zu fälschen.
- Begründung: Geld betreffe das weltliche, diesseitige Leben; der Glaube betreffe das ewige, jenseitige Leben; damit sei der Glaube qua Bezugsobjekt erhabener als das Geld
- Geldfälscher würden von der weltlichen Justiz mit dem Tode bestraft.
- Das schlimmere Verbrechen dürfe konsequenterweise keine mildere Strafe nach sich ziehen. Ergo: (Ver-)Fälschung des Glaubens müsse ebenfalls mit der Höchststrafe belegt sein.
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