Donnerstag, 20. April 2017

Utrum haeretici sint tolerandi (STh II-2 Q.11 a.3): Sollen Häretiker geduldet werden?

Die Frage Utrum haeretici sint tolerandi - Ob Häretiker geduldet werden sollen? - finden wir bei Thomas von Aquin in seiner Summe der Theologie Teil II-2 Quaestion 11 Artikel 3. Ein kurzer Abriss ohne den Anspruch einer Übersetzung, sondern mehr den einer Zusammenfassung:


Es scheint, dass Häretiker geduldet werden sollen, weil ...

  • Erstens sage Paulus in 2 Tim 2,24-25: Ein Christ müsse zu allen freundlich sein und darauf hoffen, dass Gott die Andersgläubigen bekehrt. Folglich müssten Häretiker geduldet werden.
  • Zweitens seien Häretiker notwendig für die Kirche. Paulus sage in 1 Kor 11,19: Ohne Abweichler sehe man die Linientreuen nicht. Folglich müssten Häretiker geduldet werden.
  • Drittens sage Jesus in Mt 13,30: Sammelt das Unkraut bis zur Ernte und verbrennt es dann. Diese Stelle sei allegorisch gemeint: Das Unkraut seien die Häretiker, die Ernte sei das jüngste Gericht. Folglich müssten Häretiker geduldet werden.

Thomas liefert also drei biblische Argumente, die sich auf der Grundlage von Referenzstellen in den Paulusbriefen sowie einem Herrenwort für die Duldung von Häretikern aussprechen: Zum ersten eine direkte Aufforderung aus dem Literalsinn; zum zweiten eine Nützlichkeitserwägung ebenfalls aus dem Literalsinn; zum dritten eine Anweisung auf Grundlage einer Allegorese.

Sed contra - andererseits - sage Paulus in Titus 3,10-11: Wenn du einen Abweichler zwei- oder dreimal ermahnt hast, meide ihn; denn du weißt, dass er falsch liegt.

Thomas antwortet, dass man mit Blick auf die Frage nach Häretikern zwei Aspekte betrachten müsse:

  • Einmal stehe der individuelle Aspekt des Häretikers als Person: Durch seine Abkehr von der Wahrheit habe er es nicht nur verdient, außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft zu stehen, sondern zugleich von der Welt durch den Tod ausgeschlossen zu werden (meruerunt [...] per mortem a mundo excludi). Es sei ein schlimmeres Verbrechen, den Glauben zu verdrehen, durch den die Seele ihr Leben besitzt, als Geld zu fälschen, durch das das zeitliche Leben unterstützt wird. Jetzt würden aber Geldfälscher und andere Verbrecher von den weltlichen Herrschern (per saeculares principes) zum Tode verurteilt. Konsequenterweise müsse diese Strafe dann auch auf Häretiker angewendet werden.
  • Zum anderen stehe der gemeinschaftliche Aspekt der Kirche, und damit Gnade und Barmherzigkeit (misericordia): Diese sei auf die Umkehr des Irrenden ausgerichtet. Darum dürfe die Kirche den Häretiker nicht sofort verdammen, sondern müsse ihn zuerst einmal (bzw. zweimal) ermahnen und korrigieren (non statim [...] sed post primam et secundam correctionem). Bleibe der Häretiker danach noch bei seiner Ansicht, dann wiege der Schutz der übrigen Gläubigen schwerer, und die Kirche müsse ihn aus der Gemeinschaft ausschließen; weiters dann der weltlichen Gerichtsbarkeit (iudicio saeculari) überstellen, wo ihn die Todesstrafe erwarte (siehe zuvor).

Antworten auf die anfänglichen Einwände schließen den Artikel:

  • Ad 1: Die Freundlichkeit, von der Paulus in 2 Tim 2,24-25 spreche, führt Thomas als genau jenes mehrmalige Ermahnen an. Bleibe das fruchtlos, dann käme man zum Sed contra mit Tit 3,10-11.
  • Ad 2: Der Profit, den die Kirche aus den Häretikern schlagen könnte, sei nicht das, was die Häretiker selbst beabsichtigten. Die Kirche könne Häretiker zwar als einen Test der Gläubigkeit ihrer Schäfchen begreifen. Die Häretiker aber hätten die Absicht, den Glauben zu (ver-)ändern. Diese direkte Absicht sei ernster zu nehmen als das, was man sonst (bzw. von außen) hineininterpretieren kann.
  • Ad 3: Mt 13,30 beziehe sich auf eine spezielle Situation, nämlich die, in der der Weizen nicht getrennt vom Unkraut geerntet werden kann.
Thomas löst hier geradezu beispielhaft das Dilemma sich widersprechender Passagen aus der Schrift: Um bei Unklarheiten eine Lösung herbeizuführen, wendet er Vernunftargumente an, in deren Lichte dann wiederum alle genannten Bibelstellen in einen gemeinsamen Sinnzusammenhang gestellt werden können. So erteilt er auch dem sog. proof texting eine klare Absage, also einem Zitieren der Schrift aus Gründen der bloßen Autoritätsgläubigkeit.
Hinzu kommt, dass Thomas in seiner Argumentation die Häretiker als solche sowie ihre Position in sich und an sich ernst nimmt: Ihre eigenen Ziele, Motive und Absichten stehen für ihn höher als das, was die Kirche daraus für sich machen könnte. 

Ein heißes Eisen scheint allerdings auch und gerade Thomas' Argument, aus dem sich die Todesstrafe für Häretiker ableitet:
  • Es sei ein schlimmeres Verbrechen, den Glauben zu (ver-)fälschen als Geld zu fälschen.
    • Begründung: Geld betreffe das weltliche, diesseitige Leben; der Glaube betreffe das ewige, jenseitige Leben; damit sei der Glaube qua Bezugsobjekt erhabener als das Geld
  • Geldfälscher würden von der weltlichen Justiz mit dem Tode bestraft.
  • Das schlimmere Verbrechen dürfe konsequenterweise keine mildere Strafe nach sich ziehen. Ergo: (Ver-)Fälschung des Glaubens müsse ebenfalls mit der Höchststrafe belegt sein.
Ja, das heißt, dass am Ende des Argumentationsgangs tatsächlich die Todesstrafe für Häretiker steht. Um diesen Argumentationsgang jedoch adäquat zu verstehen, müssen mindestens drei Dinge berücksichtigt werden:

Zum einen betrifft dies die Frage, was in diesem Zusammenhang der Begriff "Häresie" überhaupt bedeutet: Es ist damit im Unterschied zu einem heutigen Alltagsverständnis des Wortes gerade nicht jedwedes Abweichen von (in diesem Falle) Thomas' eigener Meinung gemeint, im Gegenteil. Thomas begreift Häresie konkret als eine spezielle Form des Unglaubens von Christen (STh II-2 Q.11 a.1), die eine direkte oder indirekte Verfälschung dogmatischer Glaubensinhalte betrifft (STh II-2 Q.11 a.2). Das heißt: Wo es nicht um ein Dogma geht, da kann auch keine Häresie sein.

Zweitens betrifft dies die darunter liegende Theorie von Recht, Gesetz und Gerechtigkeit: Grundlegende Annahme hierbei ist die Korrespondenz zwischen Schuld und Strafe, d.h. die Proportionalität der jeweiligen Schwere. Wo also die Todesstrafe bereits für relativ kleine Vergehen angewandt wird, da kann sie nicht bei relativ schweren Vergehen ausgesetzt werden. Ob die Todesstrafe an sich zulässig ist, wird hier übrigens nicht geklärt: Thomas gibt eher eine zeitgebundene Beobachtung wieder, wenn er schreibt, dass Geldfälscher zum Tode verurteilt würden. Folglich gilt: Wo auf Geldfälschung keine Todesstrafe steht, da kann diese auch nicht (bzw. nicht zwingend) für Häresie gefordert werden.

Schließlich betrifft dies auch die Diskussion um das Verhältnis von Staat und Kirche, oder allgemeiner von Politik und Religion: Auch hier beschreibt Thomas eher aus (s)einer spezifischen historischen Situation heraus ein Verhältnis von weltlicher und geistlicher Sphäre, bei der die weltlichen Herrscher - im Idealfall - den Schutz der geistlichen Sphäre zur Aufgabe haben. Das ist nicht notwendig so, es war vor allem kirchengeschichtlich bereits vor Thomas nicht immer so, und im Falle des säkularen Staates ist es eben auch heute nicht so. Wo die säkulare Staatsmacht darum keine religiösen Vergehen verfolgt, da kann auch keine Überstellung von Häretikern an die weltliche Gerichtsbarkeit greifen. 

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