Karl Marx' Begriffswelt basiert weniger auf historischen und sozialwissenschaftlichen Analysen - viel mehr basieren bestimmte historische und sozialwissenschaftliche Analysen auf Marx' Begriffen; es verhält sich also eher umgekehrt. Auf der anderen Seite bedient sich Hitler in "Mein Kampf" munter aus dem Begriffsbaukasten der historischen und Naturwissenschaften seiner Zeit, freilich ohne deren analytische Dimension adäquat zu berücksichtigen.
Marx als "Basisdemokraten" zu begreifen, idealisiert zudem ein wenig zu sehr, denn diese Zuschreibung gehört dann doch eher zum per se staatsfeindlichen Kommunismus der Anarchisten um Bakunin. Marx steht - gerade insofern die Revolution nicht durch individuelles Streben einzelner (Sozial-)Revolutionäre erreicht werden soll, sondern sich aus den Notwendigkeiten der sozio-ökonomischen Entwicklung selbst ergeben muss - auf Seiten des Etatismus, denn aus den genannten Notwendigkeiten entspringt schließlich die Umformung, die Transformation des bürgerlichen Staates, die der marxschen Logik nach schließlich im Absterben der bourgeoisen Klassenherrschaft münde. Dem gegenüber setzt der Anarchismus auf die aprupte Abschaffung des Überkommenen, statt Umformung des Bestehenden auf Neugründung des Gemeinwesens.
Darüber hinaus ist der "politische Marx" insofern ein Phantom, als die Unterscheidung zwischen "Ökonomie" und "Politik", die heutzutage und in der "bürgerlichen" Wissenschaft vorausgesetzt wird, bei Marx so nicht gegeben ist. "Staat" und "Politik" als reine Epiphänomene sozio-ökonomischer Verhältnisse haben demnach kein Eigenleben, sondern modulieren bloß den immerwährenden Klassenkampf - das übersetzt sich in die Kategorien des modernen und "bürgerlichen" Denkens als Totalitarismus. Die Einparteienherrschaft ist insofern eine stringente Auslegung der marxschen Lehre, als sie die Diktatur des Proletariats mit ihrer Aufhebung der Trennung zwischen Regierenden und Regierten in den "bürgerlichen" Staat transferiert, der diese Aufhebung gerade nicht kennt.Der Punkt ist letztlich: Der Staats- und Politikbegriff, welcher uns bei Marx begegnet, deckt sich nicht unbedingt mit denjenigen Staats- und Politikbegriffen, die uns anderswo begegnen; allen voran natürlich, wenn es um die historisch beobachtbaren Phänomene "Staat" und "Politik" geht. In diesem Sinne ist immer eine Art von Übersetzungsleistung zu erbringen, um den Gehalt der marxschen Ideologie in andere Ideenwelten und vor allem auch in reale historische Umstände zu überführen. Insofern nun die Unterscheidung zwischen "Ökonomie" und "Politik" (oder zwischen "Regierenden" und "Regierten") kennzeichnend ist für die beobachtbaren historischen Phänomene, trifft die Bezeichnung "Totalitarismus" durchaus auf die marxsche Staatslehre zu - denn mit jenem Begriff wird ja gerade die fehlende Unterscheidung zwischen diesen Kategorien ausgedrückt: Staat und Politik sind diesem Anspruch nach ganz, d.h. total auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse reduzierbar, und die Geschichte der Klassenkämpfe beschreibt letztlich eine totale Ökonomie. Diese Einschätzung als "Vulgärmarxismus" zu bezeichnen, ist am Ende insofern irreführend, als Lenin diese Bezeichnung sehr gerne für die sog. "Ökonomisten" verwendet hat, die geradezu das Gegenteil des marxschen Programms vertraten: eben die Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik, sowie die damit zusammenhängende Beschränkung auf einen rein ökonomischen Reformismus, der keinerlei politische Ansprüche stellt.[1]
Wo die genannten Sphären "Politik" und "Ökonomie" ineinanderfallen, da wird das Prinzip der Gewaltenteilung hinfällig, denn dessen Zweck besteht nachgerade darin, die unterschiedlichen Sphären gegeneinander abzugrenzen. Die Gewaltenteilung ist ein typisches Merkmal des "bürgerlichen" Staates, das im proletarischen Gemeinwesen kein Gegenstück hat bzw. braucht. Wo die Gewaltenteilung wegfällt, da kann man von Diktatur sprechen. Vielleicht sollten wir jedoch an dieser Stelle aber hinzufügen: Der Begriff "Diktatur" ist für unser heutiges Verständnis einseitig negativ geprägt, doch das war nicht immer so. Der dictator war in der römischen Republik ein Verfassungsorgan, das im Ausnahmezustand für bestimmte Zeit die gesamte Macht in sich bündeln konnte, und in diesem Sinne wurde der Begriff bis ins 20. Jahrhundert hinein verwendet. Was wir heutzutage unter "Diktatur" verstehen, steht viel näher bei dem, was klassisch als "Tyrannei" oder "Despotie" bezeichnet wird, d.h. eine unrechtmäßige Konzentration von Macht.
Die Rede von der "Diktatur des Proletariats" greift nun dieses klassische Verständnis der Diktatur auf, und zwar geradezu als Gegenentwurf zu einer Tyrannei der Minderheit: Die Gewaltenteilung des "bürgerlichen" Staates fördere die Entfremdung des Staates von der Gesellschaft, womit eine (bourgeoise) Minderheit über die stetig wachsende (proletarische) Mehrheit herrsche; in der Diktatur des Proletariats herrsche die Mehrheit (endlich) über die Minderheit. In diesem Sinne steht der Marxismus näher beim (auch heute um sich greifenden) Populismus denn bei Liberalismus bzw. Republikanismus.
Die Gewaltenteilung in der Form, wie wir sie heute praktizieren - namentlich als Differenzierung von drei Teilbereichen der Staatsregierung im Sinne Jellineks - ist nun recht jung. Als grundlegende Teilung der Macht in einem Gemeinwesen ist die Gewaltenteilung jedoch schon uralt: Die griechischen Stadtstaaten kannten beispielsweise ein Doppelkönigtum oder ein Gegenüber von Volksversammlung und König; die römische Republik kannte die Prinzipien der Annuität und Kollegialität - das sind Einrichtungen der Gewaltenteilung, und sie hatten den Zweck, Macht zu beschränken. Die (klassisch verstandene) Diktatur steht vor diesem Hintergrund als Aufhebung der Gewaltenteilung, und zwar als gewissermaßen rechtmäßige Form einer solchen Aufhebung. Fehlende Gewaltenteilung bedeutet insofern nicht automatisch Diktatur: Es kann sich dabei freilich genau so gut um Tyrannei handeln.
Die Grenze zwischen "Politik" und "Ökonomie" müsste letztlich auch nur dann respektiert werden, wenn sie denn gleichwohl theoretisch existent, d.h. im wahrsten Sinne des Wortes denk-bar wäre. Das ist sie im marxschen Denken jedoch nicht. Und so ist der Staat, der nicht von der Gesellschaft getrennt ist, in den Kategorien des Liberalismus bzw. Republikanismus total bzw. totalitär.
Ja, im "bürgerlichen" Staat sind das Private und das Öffentliche voneinander getrennt; Ökonomie und Politik sind nicht konvertibel bzw. aufeinander reduzierbar. Das ist eine andere Trennung als die Differenzierung der Teilbereiche einer Staatsregierung gemäß Jellinek. Diese Trennung ist allerdings insofern grundlegend für die genannte Differenzierung, als sie die prinzipielle Beschränktheit des Politischen aufzeigt. Unser heutiger Begriff von Gewaltenteilung ist damit Folge einer Unterscheidung von Ökonomie und Politik, nicht Grund. Wo diese Unterscheidung hinfällig wird, wie im Marxismus, da fällt nun auch das weg, was aus dieser Unterscheidung folgt.
Eine weitere Unterscheidung, namentlich diejenige zwischen normativer und deskriptiver Rede, gehört ebenso eher zur "bürgerlichen" Wissenschaft bzw. Erkenntnistheorie denn zur marx(isti)schen, da diese Unterscheidung am Ende auf idealistischen Grundlagen steht. Sein und Sollen fallen bei Marx insofern zusammen, als
"unser subjektives Denken und die objektive Welt denselben Gesetzen unterworfen sind und daher auch beide in ihren Resultaten sich schließlich nicht widersprechen können, sondern übereinstimmen müssen".[2]Passend dazu auch die pointierte Aussage aus dem Manifest der Kommunistischen Partei:
"Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfs, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung."[3]
Kurzum: Marx hantiert - zumindest dem eignenen Anspruch nach - nicht mit (subjektiver) Meinung, sondern mit (objektiver) Wahrheit. Insofern steht er - zumindest dem eigenen Anspruch nach - jenseits der Differenzierung von normativer und deskriptiver Rede: Seine Beschreibungen sind normativ, und seine Normsetzungen sind beschreibend. Das trifft ja letztlich den Kern des dialektischen Materialismus. Und darin liegt auch ein Punkt: Die Gegenüberstellung von deskriptiver und normativer Rede gehört in den Bereich der Erkenntnistheorie, und nicht in die politische Theorie ("im engeren Sinne", sollte man sagen, da im marxistischen Objektivismus diese Übergänge ja gewissermaßen fließend sind). Insofern steht das gesamte Programm von Marx/Engels sozusagen jenseits der Frage nach politischen Intentionen. Mit einem Wort ließe es sich als "Isso" zusammenfassen. Innerhalb der marxistischen Doktrin mag das problemlos funktionieren, der Blick von außen hat damit u.U. halt ein Problem, gerade was die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung rund um Struktur und Agenda betrifft.
Marx/Engels geht es am Ende deshalb auch nicht um eine Partei in dem Sinne wie wir den Begriff heute und außerhalb der marxistischen Doktrin verstehen; der Marxismus als Lehre vertritt dem Selbstverständnis nach keine Partikularinteressen wie andere politische Strömungen. Im Gegenteil: Programmatisch geht es um etwas, das sich (mit viel Bauchweh außerhalb der marxistischen Doktrin) unter dem Schlagwort "Sozialwissenschaft" subsumieren lässt (cf. die Betonung des Unterschieds zwischen "wissenschaftlichem" und "utopischem" Sozialismus). "Marxismus" möchte insofern keine politische Theorie darstellen, sondern bloße Einsicht in die Notwendigkeit. Darum vertritt das marx(isti)sche Programm dem Selbstverständnis nach auch keine politischen Intentionen in dem Sinne wie ein Liberaler oder Republikaner politische Intentionen hätte - nämlich als persönliches Partikularinteresse in Übereinstimmung mit oder in Abweichung zu den persönlichen Partikularinteressen anderer -, sondern es beschreibt die Notwendigkeit als Zusammenfallen von factum (was passiert) und faciendum (was passieren soll). Der Kern hierfür liegt im dialektischen Materialismus bzw. in dessen erkenntnistheoretischem Teilbereich.
Die Schwierigkeit liegt dabei wieder in der Übersetzung der spezifisch marx(isti)schen Selbstdeutung hinein in die allgemeine Sprache des heutigen Republikanismus. Denn demnach steht natürlich auch der Marxismus als politisches Programm für lediglich ein einziges unter vielen Partikularinteressen.
[1] Dass als "Vulgärmarxismus" auch ganz gerne jegliche "bürgerliche" Marx-Rezeption - d.h. diejenige Marx-Rezeption, die sich nicht a priori der marxistischen Doktrin unterwirft - bezeichnet wird, lasse ich mal außen vor, das ist ja mehr so ein politisches Kampfwort und keine tragfähige Analyse.
[2] Fetscher, Iring (Hg.), Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten. Philosophie - Ideologie - Ökonomie - Soziologie - Politik, 2. Auflage, München 1973, S. 200; Hervorhebungen im Original.
[3] Marx, Karl - Engels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei. Grundsätze des Kommunismus, Stuttgart 1999, S. 34.
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