Freitag, 16. November 2018

Nachtgedanken: Jens Spahn und der Konservatismus

Ja, ich erlebe Szenefunktionäre, die nun ihrerseits die eigene Realität für die einzig wahre halten. Aber da gibt es ein weiteres Paradox: Wir haben als CDU eigentlich den Kulturkampf gewonnen und merken es nicht. Heute kämpft eine eher linke Szene für die gute alte bürgerliche Ehe - und mancher bei uns sieht das als Bedrohung, anstatt sich darüber zu freuen. Wenn Schwule und Lesben sich rechtlich verbindlich dauerhaft binden wollen, leben sie genau die Werte, die uns wichtig sind. Das ist modern gedachtes Bürgertum.

Von einem rein wertgebundenen Konservatismus aus gedacht - in der Hierarchie aus: (a) Prinzipien [d.h. Gründe], (b) Grundwerte [d.h. Ziele], (c) Werte [d.h. Zwecke], sowie (d) Normen [d.h. Mittel] -, ergibt Spahns Position durchaus Sinn. Demnach ist die Ehe nämlich bloße Güter- und Rechtsgemeinschaft - oder in den Worten Martin Luthers: "Die Ehe ist ein äußerlich, weltlich Ding." Wenn nun nicht nur Heterosexuelle danach leben wollen, sondern auch Homosexuelle diese Werte teilen und praktizieren möchten, dann ist das - unter diesem Paradigma - durchaus stimmig; die Vertreter dieser Werte haben sich damit durchgesetzt.[*]

"Modern gedachtes Bürgertum" stimmt insofern auch, als gerade das Bürgertum der Träger solch einer Einstellung ist. Natürlich ist "modern gedacht" und "Bürgertum" zunächst einmal ein Pleonasmus, denn das Bürgertum ist geradezu die Verkörperung des modernen Denkens wie auch das moderne Denken Äußerung des Bürgertums ist, aber doch: Das Bürgertum ist diejenige Gesellschaftsschicht, die zu allererst wertgebunden ist. Sei es nun im Sinne des bourgeois mit seinen Sach-, Geld- und Mehrwerten. Sei es nun im Sinne des citoyen mit seinen ideellen, idealistischen und ideologischen Werten.
Adel und Klerus sind in dieser Hinsicht zu allererst normiert, also an Normen (Mittel) geknüpft, eben an bestimmte Rechtstitel bzw. an die Ordination.

Typisch bürgerlich ist zudem die moderne Kernfamilie, und dies auch und gerade auf Grundlage der rein individuellen emotionalen, empfindsamen, gefühlsmäßigen Romanze jenseits aller ständischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beschränkungen, Überlegungen und Verantwortlichkeiten.
Das steht freilich der Vernunft- und Pflichtehe von Adel und Bauernschaft gegenüber, die abseits der Empfindsamkeit eine große Sippschaft anhand ständischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verschränkungen etabliert.

Und hier fallen letztlich Wertkonservatismus und Strukturkonservatismus in eins bzw. offenbaren sich als eins und dasselbe: Denn in der Bewahrung der Werte wird die zugehörige Struktur bewahrt, ebenso wie die Bewahrung der Struktur die zugehörigen Werte bewahrt.

Das ist ein (das) zentrale(s) Problem des (eines) rein wertgebundenen Konservatismus, der sich insofern auch auf eine bloß bewahrende Funktion zurückzieht, oder: zurechtstutzt. Und das würde ich auch als den Markenkern gerade des deutschen Konservatismus benennen.

 

[*] Da wären wir dann auch bei Erik von  Kuehnelt-Leddihns These von der Reformation als konservativer Bewegung und dem, seinerseits natürlich ebenso problematischen, Anspruch, stattdessen "reaktionär" zu sein.

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