Dienstag, 8. Juli 2014

Zur Theorie der Evolution

Das grundlegende Problem in der Debatte um die Evolution besteht nicht so sehr im Gegenüber von Schöpfung und Evolution - geschweige denn im ständig beschworenen angeblichen Kampf zwischen "Glaube und Wissenschaft" -, sondern viel mehr in der Frage, wie und in welchem Licht die Welt betrachtet wird.

Wenn die Welt kontingent, oder mehr noch: ihrem Wesen nach Kontingenz ist, so ändert sie sich, weil es ihrem Wesen entspricht. Unter dieser Voraussetzung kann der Wandel, kann Veränderung in der Welt aus den Dingen der Welt, also aus dem, was zur Welt gehört, selbst erklärt und beschrieben werden; es bedarf hier keiner äußeren Ursache oder eines Ursprungs, der außerhalb der Welt läge. Wenn die Welt Kontingenz ist, dann stellt der Naturalismus eine, wenn nicht sogar die einzig adäquate Methode bereit, ihre inneren Abläufe zu beschreiben. Eine Weltanschauung, sei sie nun philosophischen, theologischen oder religiösen Ursprungs, die die Welt als Kontingenz betrachtet, kommt daher um den Naturalismus nicht umhin. Andererseits gilt auch: Insofern Wissenschaft den Naturalismus verficht, muss sie sich der Frage nach der Kontingenz der Welt stellen. Ist die Welt also Kontingenz?

Zumindest insofern die Welt als Raum-Zeit-Beziehung gedacht wird: ja. Jede Zukunft ist kontingent, insofern sie möglich, aber nicht notwendig ist. Sie kann sein, muss nicht sein, kann ganz anders sein und kann sogar überhaupt nicht sein. Ein vorhandener Zustand braucht keine Zukunft: Entweder der Zustand ist vorhanden oder er ist nicht vorhanden. Wohl aber braucht jede Zukunft nicht nur eine Vergangenheit, um Zukunft sein zu können, sondern auch eine Gegenwart. Und da jede Gegenwart insofern Zukunft ist, als sie sich auf eine vorherige Gegenwart bezieht, ist innerhalb der Zeit (i.e. die Beziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) jede Gegenwart und damit jeder Zeitpunkt kontingent. Die Welt ist also insofern kontingent (und damit weder notwendig noch unmöglich), als sie gebunden an die Zeit existiert.[1]

Das Paradigma der Evolution stellt nun ein bestimmtes Narrativ bereit, diese Kontingenz zu beschreiben: eben als Naturgeschichte, die vorhandene und gefundene Tatsachen in eine Beziehung zueinander stellt. Und nicht nur wissenschaftsgeschichtlich betrachtet steht dieser naturgeschichtliche Weg zwei naturphilosophischen Ansätzen gegenüber, die ihrem Wesen nach physiko-theologische Konzepte transportieren. Zum einen ist dies die Mechanistik; zum anderen die Kataklysmik.

Die mechanistische Herangehensweise knüpft an Isaac Newtons Physik an und postuliert eine Welt als Mechanik; ihr Kulminationspunkt liegt in William Paleys Argument vom Uhrmacher: So wie man bei einer Taschenuhr, die man auf einem Feld finde, automatisch an einen Hersteller denke, müsse man auch beim Blick auf die Welt automatisch auf einen Mechaniker schließen, der die Weltmaschine konstruiert habe. Newtons Position kommt hier deutlich zum Vorschein, derzufolge Raum und Zeit das "Sensorium Gottes"[2] darstellten, denn auch seine Mechanik kommt nicht ohnen einen Schöpfer aus, welcher der Welt zumindest Stabilität verleiht, so dass die entsprechenden mathematischen Gleichungen Sinn ergeben. Die Kataklysmentheorie setzt den biblischen Bericht der Sintflut (Gen 7,10 - 8,14) in Korrespondenz zum geologischen Befund verschiedener Sedimentschichten und deutet die unterschiedlichen Schichten jeweils als durch Katastrophen entstanden.[3] So sei die Vielfalt der vorhandenen Fossilien durch stetig neue Genese zu erklären. 

Beide Alternativen zum Paradigma der Evolution korrespondieren weiterhin mit entsprechenden Konzepten hinsichtlich der Problematik des Neuen. Die Mechanistik entspricht dabei dem Präformismus, der in Anschluss an Aristoteles das (vermeintlich) Neue sehr streng als im bereits Vorhandenen angelegt deutet und so eher auf Platon rekurriert, demnach Veränderung nichts Wesentliches bedeutet - und folglich auch nichts wesentlich Neues hervorbringen könne, da das, was als neu erscheine, in Wirklichkeit seit jeher vorhanden sei. Das Paradox des Parmenides, dass es Bewegung (Veränderung) recht eigentlich gar nicht gebe, tritt hier offen hervor. Auf der anderen Seite steht die vitalistische Epigenese, die mit der Kataklysmentheorie korrespondiert, indem sie eine eigene lebensgestaltende Kraft - die vis formativa - annimmt, die jenseits naturwissenschaftlicher, das heißt physikalischer oder chemischer Erklärungen vollkommen Neues hervorbringe.

Beiden Alternativen gemein ist die Verneinung einer kontingenten Welt. Das mechanistische Weltbild greift notwendigerweise auf einen absoluten Raum als Schuhkarton zurück, durch den - und von diesem abgekoppelt - die absolute Zeit wie ein Rinnsal fließe. Was an Phänomenen beobachtet werden könne, sei schon seit jeher dagewesen und damit - durch mathematische Naturgesetze geformt - notwendig vorhanden. Zufall erscheine lediglich als solcher, sei jedoch in seiner Deutung schlichtweg auf unzureichende Kenntnis der entsprechenden mathematischen Naturgesetze oder ihrer letzten Endes geistigen Grundlagen zurückzuführen. Die Kataklysmik hingegen kennt Wandel (Bewegung) nur als Zerstörung und Neuschöpfung des Ganzen, sie greift insofern den Atomismus der epikureischen Denktradition in radikaler Weise auf. Auch hier werden ein absoluter Raum und eine absolute Zeit als notwendig vorausgesetzt, wenngleich in anderer Nuancierung: Während in der Mechanistik die Zeit durch den Raum und dessen Gesetze geprägt und gestaltet wird, erfährt in der Kataklysmik der Raum seine Prägung und Gestaltung durch die Zeit vermittels der in ihr wirkenden Bildungskraft.

Zwischen diesen beiden Alternativen bewegt sich nun auch der Kreationismus in seiner ganzen Bandbreite vom Glauben an die junge Erde bis hin zum Postulat des intelligenten Designers. Es ist die Verneinung der Kontingenz, die zur kreationistischen Absage an den Naturalismus führt und folglich schwerwiegende wissenschaftliche Kategorienfehler nach sich zieht.

Dem gegenüber steht nicht nur eine Physik, welche die Welt als Raumzeit begreift, in der Zeit und Raum wechselseitig aufeinander bezogen sind, sondern auch eine Biologie, welche die jeweiligen Phänomene des Lebendigen als aufeinander bezogen versteht. Der größte Einwand gegen eine solche Biologie besteht in einer falschen Dichotomie, die zwischen "planendem Schöpfer" und "blindem Zufall" aufgerissen wird: Inwieweit verläuft die Evolution zufällig?

Wenn die Welt Kontingenz ist, dann ist nichts, was zur Welt gehört, aus eigener, innerer Wesensnotwendigkeit vorhanden. Nichts, was zur Welt gehört, trägt insofern den Grund für sein eigenes Vorhandensein in sich. Das Vorhandensein dieser Dinge ist somit zu-fällig im eigentlichen Sinne, nicht wesentlich, d.h. substanziell, sondern akzidenziell - ihr Vorhandensein ist etwas, das diesen Dingen von außen zu-fällt, weil es nicht in ihrem Wesen selbst steckt. Insofern die Evolution als Narrativ die Kontingenz beschreibt, operiert sie deshalb mit echtem Zufall. Es wäre nun allerdings verfehlt, "Zufall" mit "Chaos" oder "Irrationalität" zu verwechseln - denn auch wenn sich der Zufall bisweilen den rationalen Hilfsmitteln des menschlichen Intellekts entzieht, bleibt es doch stets eine äußere Ursache, auf die das Vorhandensein eines Phänomens angewiesen ist. Wäre dies nicht so, müsste das entsprechende Phänomen aus sich selbst heraus, d.h. aus eigener Wesensnotwendigkeit begründet werden.[4]

 

[1] Wenn die Welt Kontingenz ist, dann folgt jedoch auch, dass sie für ihr Vorhandensein einen Grund braucht, der außerhalb ihrer selbst liegt. Das behandelt das Argument aus der Kontingenz, einer der fünf Wege des Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae, Teil I Quaestion 2 Artikel 3. 

[2] So Newton in seiner Abhandlung über die Optik.

[3] Griech. kataklysmos - Überschwemmung.

[4] Der Redlichkeit wegen muss jedoch hier der Skeptiker zu Wort kommen, der darauf hinweist, dass das Phänomen doch eigentlich keine äußere Ursache brauche, sondern lediglich unsere Konstruktion einer entsprechenden Ursache bedürfe. Dem ist zuzustimmen, insoweit es um die Frage geht, ob überhaupt etwas begründet werden soll. Die wissenschaftliche Methodik verlangt jedoch nach Begründung. Eine Biologie, die Wissenschaft sein möchte, muss also Entsprechendes voraussetzen.

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