Freitag, 15. Januar 2016

Zu Putins Russland

Putin schafft es im Gegensatz zu anderen Oligarchen, die Loyalität seines Landes auf sich zu beziehen: So hat er sich mit Jelzin gegen Jelzin emanzipiert, und als erster Mann im Staat profitiert er natürlich vom Mythos des guten Zaren, der in der Mentalität nach wie vor implizit wie explizit eine große Rolle spielt. Dies nutzt er aus, um seine eigene Macht zu stabilisieren.

Man muss ihm natürlich zugestehen: Darstellen und repräsentieren - das kann er. Im Gegensatz zu den meisten westlichen Staats- und Regierungschefs weiß er sich zu inszenieren, und das kommt nicht nur in der eigenen Bevölkerung gut an. Dazu gehören auch die beliebten Grafiken, für die gerade Facebook einen beliebten Sammelplatz darstellt. Bemerkenswert finde ich, dass der zugehörige Kommentar fast immer folgende Form besitzt: "Wenn das stimmt, dann ... ist Putin doch gar nicht so schlecht ... ist das doch bemerkenswert ..." - wobei es fast schon nebensächlich wird, ob diese Dinge dann tatsächlich stimmen.

Natürlich kann man auch als Außenstehender bzw. "Westler" genügend Ahnung von der russischen Geschichte und der Mentalität der russischen Bevölkerung haben. Und natürlich kann man so auch zu anderen Einschätzungen Putins und seiner Politik gelangen als dessen Anhänger in Russland. Politische und politikwissenschaftliche Analysen setzen z.B. gerade auf Methoden, die dies erlauben. So lässt sich Putins politisches Handeln durchaus in gängige Modelle der vergleichenden Politikwissenschaft oder der internationalen Beziehungen einordnen, ebenso wie sich Rückschlüsse historischer Art ziehen lassen, die auf belastbaren Ergebnissen zur russischen Mentalität (histoire des mentalités als spezifischer Teilbereich der Kulturgeschichte) aufbauen:

  • Putin steht ganz deutlich in einer typisch russischen Tradition "starker Männer" an der Spitze des Staates, die in ihren Rechtfertigungsmechanismen bis zum abstrusen "der russische Bär braucht die Knute" reichen kann. 
  • Putin greift dabei in seinem politischen Handeln auch bewusst den genuin russischen Gegenentwurf zum französischen fraternité (Brüderlichkeit), egalité (Gleichheit), liberté (Freiheit) auf: samoderschawije (Autokratie bzw. Selbstherrschaft), prawoslawije (Orthodoxie bzw. Rechtgläubigkeit), narodnost ("Volkstümlichkeit" bzw. Volksnähe bzw. "National-Orientiertheit"). 
  • Putin zeigt gar Ambitionen, das "dreieinige russische Volk"  - "Großrussen", "Klein-" bzw. "Rotrussen" und "Weißrussen" - wieder unter einen staatlichen Hut zu bekommen.

Das sind am Ende wesentliche Gründe für seine Popularität nach innen.

Nach außen hingegen lässt sich seine Politik am besten unter dem sog. realistischen Paradigma begreifen, das internationalen oder supranationalen Organisationen keinen Eigenwert, sondern nur instrumentellen Charakter für eine je eigene Machtpolitik zubilligt; das Ruhen-lassen des NATO-Rates kann so auch durchaus als praktizierte Real-politik (und zwar von allen Seiten) gewertet werden. Multilateralität steht da eben nicht hoch im Kurs, und in der bilateralen Alternative hat er als russischer Staatschef meist das größere Gewicht: einmal hinsichtlich der politischen und (volks-)wirtschaftlichen Bedeutung des russischen Staates; zum anderen, weil er im Gegensatz zu den meisten westlichen Staatschefs innenpolitisch fester im Sattel sitzt und so freier in seinem Handeln nach außen sein kann.

  • Geo-politisch fügt sich Russland in das realistische Paradigma der IB und begreift die internationale Bühne als Nullsummenspiel. Das zeigt sich im Umgang mit dem Völkerrecht (bspw. Krim-Annexion), im Umgang mit internationalen Organisationen (bspw. UNO und GUS), sowie auch im Umgang mit den Nachbarstaaten (bspw. Kaukasuskrieg 2008). Für eine Großmacht ist das zunächst auch nicht ungewöhnlich, da ist es schließlich naheliegend, die Absicherung des eigenen Großmacht-Status mit hoher Priorität auf die Interessenliste zu setzen. Im Gegensatz zu Großbritannien oder den USA war Russland als Großmacht zudem auch nie ein Seereich (primär Kontrolle der Wirtschafts- und Finanzströme), wie es Herfried Münkler ausdrückt, sondern ein Kontinental- bzw. Territorial-Reich (primär Kontrolle der Gebiete und Herrschaftsräume). 
  • Geo-ökonomisch steht Russland jedoch in zunehmender Abhängigkeit zu mittel- und westeuropäischen Absatzmärkten. Das konterkariert auf gewisse Weise das geo-politische Verhalten und die geo-politischen Interessen, und infolge polit-ökonomischer Wechselwirkung wird so das Bild vom Nullsummenspiel verfestigt und bestärkt. 
  • Geo-psychologisch kommt noch eine gewisse "Herrenvolk"'-Mentalität hinzu. Die hat (erstmal) nichts mit der nationalsozialistischen Herrenvolk-Ideologie zu tun: auch in Ungarn lebt noch so eine "Herrenvolk"-Mentalität, die davon zehrt, dass die ungarische Krone im Habsburger-Reich über die anderen regionalen Völker geherrscht hat. Moskau hat seit der Begründung der Romanow-Dynastie sukzessive die Oberhoheit über seine Nachbarn errungen und die Nachbarvölker beherrscht. Dieses Selbstverständnis wurde mit dem Ende des Zarenreiches nicht abgeschafft, sondern durch die Gründung der Sowjetunion aufgegriffen und z.B. in Form der Russifizierungspolitik gepflegt und verstärkt. Auch hierbei wird und wurde der Eindruck eines Nullsummenspiels vermittelt.

Das Paradigma des Nullsummenspiels wird jedoch insofern herausgefordert, als sich an den osteuropäischen NATO-Mitgliedern zeigt, dass die IB eben kein Nullsummenspiel sind, sondern Staaten im Verband auch einen Machtzuwachs verzeichnen können.

"Wir im Westen" haben dennoch erstmal zu akzeptieren, dass "die Russen" sich offenbar gut aufgehoben fühlen bei Putin: Selbst wenn die Unterstellung, sie seien mit ihm zufrieden insofern problematisch ist, als sie westliche Maßstäbe der freien Meinungsbildung bzw. Meinungsfreiheit voraussetzt - aber lassen wir hier mal die Gunst des Zweifels obsiegen.

Es ist gerade dieser Punkt, an dem Putin begegnet werden muss: Ähnlich wie im Umgang mit den Herkunftsländern der Flüchtlinge muss auch mit Russland ein zivilisatorischer Konsens gesucht werden, der für dauerhaft stabile und freundschaftliche Beziehungen sorgt - und auch hier spielt die Kulturbedeutung der Religion eine Schlüsselrolle. Wo es in der islamischen Welt jedoch keine spezifische Soziallehre gibt, da hat das Moskauer Patriarchat der Russisch-Orthodoxen Kirche im Jahr 2008 ein Dokument über "Die Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte" vorgelegt. Wenn Putin wirklich in der Tradition russischer Herrscher steht - Autokratie, Orthodoxie, Volkstümlichkeit -, so kann, darf, soll und muss er auf die dort formulierten Grundsätze festgenagelt werden. Er gibt selbst freimütig zu, sich um die Menschen zu sorgen und nicht um Gebiete oder Ländereien - wunderbar, das soll er tun! Das Heilige Russland stattet ihn mit dem notwendigen Rüstzeug aus, ein guter Herrscher zu sein.

Dabei spielen die drei Stützpfeiler zur Entwicklung eines zivilisatorischen Konsens eine eminente Rolle:

  • Die Frage nach der Kultur muss ihren Absolutheitsanspruch verlieren.-- Historisch betrachtet ist das gerade in Russland sehr schwierig, da auch die Orthodoxie in ihrer Ausrichtung eher kulturell (slawisch-griechisch) gepolt und sehr nahe beim Staat angesiedelt ist. Hinzu kommt, dass sich das größte Schisma in Russland (Abspaltung der "Altgläubigen" bzw. raskolniki im 17. Jahrhundert) an einer kulturellen (bzw. kultischen) Frage entzündet hat, und das ist bis heute nicht ganz geheilt. Aber pan-slawisch gedacht, und mehr noch: pan-orthodox gedacht sind die kulturellen Traditionen so vielfältig, dass das auf jeden Fall möglich erscheint. 
  • Das Paradigma der Marktwirtschaft als Macht- und Klassenkampf muss seine Deutungshoheit verlieren.-- Auch hier ist es - bedingt durch die lange Herrschaft des Sozialismus in Russland - eher schwierig, diese Sichtweise zu überwinden. Andererseits steht gerade der Slogan von Autokratie, Orthodoxie, Volkstümlichkeit auch für ein Programm der Modernisierung ohne Klassenkampf. Diese Tradition gilt es zu nutzen. So lässt sich das Erbe des Sowjetstaates mit genuin russischer Mentalität überwinden. 
  • Der Säkularstaat darf keine Kampfansage an die Religion sein.-- Das könnte im Prinzip der unproblematischste Punkt sein: Die symphonia zwischen Staat und Kirche wird gerade im orthodoxen Osten groß geschrieben. Andererseits jedoch haben die Herrscher der Rus immer auch in die Kirche hineinregiert - hier könnte die russische Orthodoxie ihre Position stärken, wenn sie es schafft, Putin mit o.g. Dokument in die Pflicht zu nehmen. Haarig wird es allerdings u.U. bei den anderen Bekenntnissen und Gruppierungen, vor allem, wenn der Kreml und das Patriarchat mehr als nur Symphonie betreiben.

In den internationalen Beziehungen selbst kömmt es darauf an, Putin den Institutionalismus als realistische Option schmackhaft zu machen: Er will das "dreieinige russische Volk" zusammenhalten? Prima, genau dafür gibt es die GuS. Hier besitzt Russland die natürliche Führungsrolle und es läge nahe, die Organisation in einen Staatenverbund weiterzuentwickeln, der die eigene Identität und Integrität der Teilnehmerländer nicht untergräbt. Das wäre als eine Art osteuropäisches Pendant zum westlichen Modell eines "Kern-Europa" denkbar - das dann langfristig ggf. auch per privilegierter Partnerschaft zur EU stoßen könnte. Das eröffnet Moskau Perspektiven, auf dem internationalen Parkett einbezogen zu werden, ohne als Bedrohung zu gelten - und es kann gleichzeitig helfen, durch eine so vollzogene ökonomische Einbindung in den Kontinent den Wohlstand in Russland dauerhaft und stabil zu steigern, indem sich zeigt, dass internationale Beziehungen eben kein Nullsummenspiel sind bzw. sein müssen.

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