Die Naturwissenschaften sind seit geraumer Zeit nicht mehr nur in der Welt des Meters, des Kilogramms und der Sekunde unterwegs, sondern sie gehen über diesen menschlichen Mesokosmos (das zwischen dem ganz Großen und dem ganz Kleinen) hinaus, nämlich hinein in den Mikrokosmos (das ganz Kleine) sowie in den Makrokosmos (das ganz Große). Wo die menschlichen Sinnesorgane zu grob (Mikrokosmos) oder zu fein (Makrokosmos) für diese Maßstäbe sind, da entzieht sich der Gegenstand der unmittelbaren menschlichen Anschauung, und es werden handwerkliche Hilfsmittel eingesetzt, um diese Sachverhalte in den menschlichen Mesokosmos zu übersetzen: So wird gewissermaßen das Unsichtbare sichtbar gemacht.
Diese Übersetzungen geschehen vermittels formal geregelter Vorgehensweise, die auf eine saubere, nachvollziehbare und folgerichtige Darstellung zielt; so können es andere Leute zu anderer Zeit an anderem Ort auch verstehen. Als Bestandteil dieser sauberen, nachvollziehbaren und folgerichtigen Darstellung werden künstliche Sachverhalte unter formal geregelten Bedingungen erzeugt, die im Idealfall von anderen Leuten zu anderer Zeit an anderem Ort wiederholt werden können. Klappt so eine Wiederholung nicht oder zeigt sich die Darstellung anderweitig nicht als nachvollziehbar oder folgerichtig, so muss nachgebessert werden.
Dem gegenüber beschäftigen sich die Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften mit einer anderen Art von "Unsichtbarkeit". Sie beschäftigen sich nicht mit dem, was sich aufgrund seines Maßstabs der unmittelbaren Anschauung entzieht (ganz klein, ganz groß), sondern sie beschäftigen sich mit dem, was sich aufgrund seiner inneren Beschaffenheit der unmittelbaren Anschauung entzieht: z.B. Vergangenheit, Beziehungen, Ideen. Um diese Sachverhalte in den Bereich menschlicher Anschauung zu übersetzen, werden zwar andere Verfahren verwendet und andere handwerkliche Hilfsmittel als in den Naturwissenschaften. Diese Übersetzungen geschehen jedoch ebenfalls vermittels formal geregelter Vorgehensweise, die auf eine saubere, nachvollziehbare und folgerichtige Darstellung zielt, damit andere Leute zu anderer Zeit an anderem Ort es auch verstehen können. Als Bestandteil dieser sauberen, nachvollziehbaren und folgerichtigen Darstellung wird offen auf verwendete Quellen verwiesen oder die eigene(n) Vormeinung(en) und Voraussetzung(en) ausdrücklich benannt. Zeigt sich die Darstellung nicht als nachvollziehbar oder folgerichtig, so muss nachgebessert werden.
Die Theologie beschäftigt sich nun, als Geisteswissenschaft, mit etwas, das sich aufgrund seiner Beschaffenheit der unmittelbaren Anschauung entzieht: genannt wird dies "Gott". Um diesen Gegenstand in den Bereich menschlicher Anschauung zu übersetzen, wird eine formal geregelte Vorgehensweise angewendet, die auf eine saubere, nachvollziehbare und folgerichtige Darstellung zielt. Zu so einer Darstellung gehören z.B. der offene Verweis auf verwendete Quellen oder die ausdrückliche Benennung der eigenen Vormeinung(en) und Voraussetzung(en). Zeigt sich die Darstellung nicht als nachvollziehbar oder folgerichtig, so muss nachgebessert werden.
Damit sind drei wichtige Dinge gesagt:
- Wissenschaft beinhaltet sowohl die Naturwissenschaften als auch die Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften. Wissenschaft ist nicht nur Naturwissenschaft, sondern Wissenschaft ist auch Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaft.
- Die Rede ist von Theologie. Die Rede ist nicht von Religion. Die Rede ist nicht von Glaube. Die Rede ist von Theologie.
- Theologie ist eine Geisteswissenschaft, und als solche ist sie Teil der Geistes-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften. Theologie ist nicht Physik, Chemie, Biologie o.ä., und sie ist darum auch nicht Teil der Naturwissenschaften.
Die Frage steht nun im Raum, warum die Theologie keine Wissenschaft sei. Vielleicht besser gesagt: Im Raum steht die Behauptung, Theologie sei keine Wissenschaft.
Zur Begründung wird bisweilen genannt, die Theologie sei keine Wissenschaft, weil sie sich nicht mit Gott beschäftige, sondern lediglich mit dem Glauben an Gott, mit Interpretationen und mit Quellen.
Das heißt also: Die Theologie sei keine Wissenschaft, weil sie wie oben beschrieben etwas, das sich der unmittelbaren menschlichen Anschauung entzieht, in den Bereich menschlicher Anschauung übersetzt; und wegen dieser Übersetzungsleistung spreche Theologie nicht über das, was sich der unmittelbaren Anschauung entzieht, sondern sie spreche lediglich über die Hilfsmittel der geleisteten Übersetzung.
Zu dieser gegebenen Begründung lässt sich eine strukturgleiche Entsprechung bilden, und zwar mit Bezug zu den Naturwissenschaften: Demnach spricht beispielsweise die Physik, als Teil der Naturwissenschaften, eben auch nicht über das, was sich der unmittelbaren menschlichen Anschauung entzieht, sondern lediglich über die Hilfsmittel der ihr eigenen Übersetzung.
Ob diese Begründung nun aber ebenfalls akzeptiert würde?
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